- „Freundschaft verdrängt die Familie“
Die Zahl der Familien geht zurück, die Bedeutung von Freundschaft steigt. Wieso Freunde zum Familienersatz werden können, wie wir sie auswählen und was wir inzwischen von ihnen erwarten. Im Gespräch mit dem Soziologen Janosch Schobin
Herr Schobin, wie steht es heute um die
Freundschaft?
Sie steht derzeit hoch im Kurs: Es wird viel, sehr viel darüber
geredet, wie sie sein soll und was eine „gute Freundschaft“
ausmacht. Ausgehend von der medialen Darstellung nimmt die
Bedeutung und Tiefe von Freundschaft zu. Zudem lässt sich mithilfe
von Umfragen feststellen, dass die Verbreitung enger Freundschaften
zunimmt. Die Sozialform der Freundschaft wird fürsorglicher, aber
es gibt eine Diskrepanz zwischen den gestiegenen Erwartungen und
der Lebenspraxis, die nur langsam nachzieht.
Der
einzelne Freund wird in Zeiten von Facebook, wenn man ja Hunderte
hat, bedeutungsloser?
Das glaube ich nicht. Ich verstehe diese beliebte Diagnose eher so:
Vor dem Hintergrund einer Verfürsorglichung des Freundschaftsideals
und einer Bedeutungszunahme der Freunde werden neue Bedrohungen der
Freundschaft ausgemacht.
Was bedeutet das?
Lange sind die Hilfserwartungen an Freunde gesunken. In
Gesellschaften mit niedrigerem Bildungsniveau und geringerem
Wohlstand hat die Freundschaft einen höheren praktischen
Stellenwert. Die Leute geben dort eher an, dass ein Freund einem
nützlich zu sein hat. Im Zuge der Wohlstandsentwicklung in der
Nachkriegsgesellschaft ist diese praktische Komponente der
Freundschaft bei uns sehr schwach geworden. Wir kommen jetzt aber
langsam wieder an den Punkt, an dem wir die Freunde brauchen.
Woher kommt diese Aufwertung?
Seit dem Pillenknick sind die Geburtenraten sehr niedrig. Wir
stecken seit 45 Jahren in einem historischen Experiment. Das
Einzelkind zweier Einzelkinder hat keine Geschwister, keine Tanten,
Onkel oder Cousins. Das bedeutet, das soziale Netz aus
Verwandtschaft und Familie bricht für viele weg. Was macht man in
einer solchen Lage? Es ist auch die drängende Frage, was man im
Alter macht, wenn man weder Familie hat, noch das Geld für ein
tolles Altenheim. Bremens ehemaliger Bürgermeister Henning Scherf
hat sich beispielsweise für das Modell der Alten-WG eingesetzt.
Können Freunde so zum Familienersatz
werden?
Wenn tatsächlich jemand keine oder nur eine sehr spärliche Familie
hat - und die Zahl derer steigt kontinuierlich, dann wird ein Leben
im Kreis der Freunde immer mehr zur Option. Hinzu kommt, dass
Familien heute meist sehr klein sind – bestimmte Funktionen, die
vorher die Familie übernommen hat, übernehmen jetzt immer häufiger
Freunde.
[gallery:Was bedeutet heute Freundschaft?]
Funktioniert Freundschaft auch, wenn es um Themen wie
Pflege geht?
Genau das haben wir untersucht: In der Regel würden die Befragten
einen Freund pflegen. Sich von Freunden pflegen zu lassen, war
dagegen keine beliebte Vorstellung.
Woran liegt das?
Die Leute fühlen sich in ihren Autonomievorstellungen peinlich
berührt. Man will gegenüber den Freunden jemand sein, auf den man
bauen kann, jemand der auch etwas zurückgeben kann. Das setzt
voraus, dass man für sich selbst sorgen kann. Deshalb möchten sie
sich selbst nicht in einer Pflegesituation sehen, in der sie von
ihren Freunden abhängig sind. Die Menschen machen sich dann eher
Gedanken, ob man nicht jemanden engagieren könnte, der das macht.
Wenn man Hilfe bezahlt, hat man zumindest immer noch das Gefühl,
die Kontrolle und die Leitung zu haben.
Ist das Modell der Alten WG möglich?
Ich glaube schon. Aber es wird professionelles Pflegepersonal
brauchen, das die Alten-WGs unterstützt. Die Alten von heute - das
ist die Flakhelfer-Generation und die 68er-Generation – werden sich
nicht von ihren Freunden pflegen lassen. Interessant wird sein, ob
die darauf folgende Generation ein entkrampfteres Verhältnis haben
wird. Wir vermuten, dass Freundschaft gerade einen grundlegenden
Wandel durchmacht, der sich in den Medien schon zeigt, sich aber
noch nicht lebensweltlich widerspiegelt.
Seite 2: Auch Liebesbeziehungen vollziehen „Verfreundschaftlichung“
Das heißt, wir verlangen ganz schön viel von Freunden.
Wählen wir sie auch bewusst aus?
Das kann man so nicht sagen. Wenn man Dinge gemeinsam durchmacht,
steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Freundschaften entstehen. Es
gibt psychologische Studien, wo Erstsemester zufällig Sitzplätzen
zugeordnet werden. Später stellt man fest, dass diese zufällige
Sitzordnung auch Einfluss darauf hat, wer sich anfreundet. Das
wurde teilweise so interpretiert, als ob Freundschaften einfach nur
auf der Nähe oder der Gelegenheit beruhen. Ich glaube dagegen, dass
es eher darauf ankommt, ob man gemeinsam eine biografische
Umbruchsituation erlebt.
Ein Beispiel wäre der Studienbeginn…
… oder wenn das erste Kind kommt oder man den Wohnort wechselt,
genau. Das sind Phasen, die neue Freundschaften ermöglichen und oft
auch zu neuen Freundschaften führen. Das erste Kind zerstört in der
Regel übrigens alte Freundschaften. In fast allen westlichen
Industrienationen kann man die „Babyrutsche“ feststellen.
Bitte?
Um das dreißigste Lebensjahr herum verlieren die Leute extrem viele
Freunde. Das sieht in den Grafiken aus wie eine Rutsche. Der Grund
für die Abnahme ist einfach, dass junge Eltern sehr wenig Zeit
haben und sich nicht um Freundschaften kümmern können. Nach zehn
Jahren, wenn sich der Kinderstress etwas entspannt hat, verbessert
sich die Lage dann wieder. Insgesamt bleibt die Zahl der Freunde
aber auch einem niedrigeren Niveau.
Was ist überhaupt die Definition von Freundschaft, die
in all den Studien zugrunde gelegt wurde?
Definitionen funktionieren ja meistens nicht. Üblich ist, dass man
voraussetzt, dass Freunde nicht verwandt sind oder ein sexuelles
Verhältnis haben. Heute versteht man Freundschaften weniger über
Einordnungen, sondern über sogenannte Bindungsmechanismen. Es gibt
das Bild der doppelten Geiselgabe.
Geiselgabe?
Blutsbruderschaft wäre ein Beispiel. Das Blut steht symbolisch für
das eigene Leben, das man dem anderen übergibt und der übergibt
einem dafür sein eigenes. In der bürgerlichen Mittelschicht
bedeutet das heute, dass man dem anderen Vertraulichkeiten über das
persönliche Innenleben preisgibt oder seine Vorstellungen vom Leben
offenbart. Dieser Bindemechanismus hält Freundschaften zusammen:
Man tauscht Sachen aus, die einen angreifbar machen, die aber
gleichzeitig dazu führen, dass man besser verstehen kann, was der
andere im Leben eigentlich will und wann man ihm vielleicht unter
die Arme greifen kann.
In einem Ihrer Projekte haben Sie sich auch mit der
„Verfreundschaftlichung“ von Beziehungen
auseinandergesetzt.
In den Interviews, die wir geführt haben, gab es sehr oft
Beziehungen, die wie Freundschaften beschrieben wurden und gar
nicht den üblichen romantischen oder familiären Begriffen
entsprachen. Beziehungen wurden zur Freundschaft. Eine ganz
grundsätzliche Frage für Paare ist: Wieso ist man nach einer
gewissen Zeit noch zusammen? Es wird weniger angeführt, dass man
sich durch das Ehegelübde, Kinder oder unendlich tiefe Gefühle
verbunden fühlt – man hat einfach eine Freundschaft geschlossen.
Dieser Trend zeichnet sich bei 68ern ab, aber auch bei der jüngeren
Generation.
Verdrängt das Modell der Freundschaft die
Beziehung?
Eher durchdringt es die Beziehung.
Dann verdrängt die Freundschaft zumindest die
Familie?
Es gibt Studien die zeigen, dass sich die Entscheidung ein Kind zu
bekommen epidemisch begreifen lässt. Man steckt sich sozusagen mit
Kindern im Freundeskreis an. Wenn dieser nun aus Personen besteht,
die ein freundschaftszentriertes Leben führen und deshalb die
Familiengründung aufschieben, dann könnte man sagen, dass die
Freundschaft die Familie verhindert und so verdrängt. Aber ob und
wie oft das der Fall ist, das müsste erst mal ordentlich untersucht
werden.
Janosch Schobin ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung. Kleines Foto: HIS/Bodo Dretzke
Das Gespräch führte Timo
Steppat.
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