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(picture alliance) Sängerin Vicky Leandros in Berlin: Wo übt sie, ohne gleich Nachbarn zu belästigen?

Orchester in Jetlautstärke - Kann Musik Lärm sein?

Die größten Geheimnisse der Musik findet man oft im Pianissimo. Trotzdem: Selbst eine zarte Flöte hat eine Lautstärke von bis zu 118 Dezibel. Werden deswegen alle Orchestermusiker im Alter an Hörschäden leiden? Und was ist mit ihren Nachbarn?
 

Es war zehn Tage vor Weihnachten in London, und ich hatte mir damals vorgenommen, meine neuen Hausbewohner ganz sanft an meine Übungsphasen zu gewöhnen. Ich fing deshalb mit einem Stück von Johann Sebastian Bach an, das ich vorsichtig und leise anstrich. Es dauerte nur wenige Minuten, da klingelte es Sturm an der Tür. Draußen stand ein Mann im Unterhemd und brüllte mich an: „Mensch, mach mal leiser! Leiser!!“ Offensichtlich glaubte er, es mit einer Stereoanlage zu tun zu haben. Von Geige oder Bach wollte er nichts wissen. Nicht gerade die feine englische Art oder eine herzerwärmende Adventsbegrüßung. Beim nächsten Mal hat er dann gleich die Polizei gerufen, der die Sache allerdings, wie ich schnell merkte, ziemlich unangenehm war. „Tut uns leid, Sir“, sagten die Beamten, „aber wir müssen nun mal jeder Beschwerde nachgehen, so absurd sie auch sein mag.“ Die Polizisten wurden zu regelmäßigen „Besuchern“ bei mir, und zum Entsetzen des Nachbarn unterhielten wir uns gerne lässig bei einer Tasse Tee über Musik und Kunst.

In Amsterdam, wo ich später wohnte, erlebte ich das genaue Gegenteil: Da fragten mich die Nachbarn, ob ich sie im Voraus informieren würde, wenn ich übe, sie hörten es so gern. Aber das war ein seltener Glücksfall.

Viele Kollegen kennen das Problem, speziell die Sängerinnen und Sänger mit ihren Stimmübungen, die ja auch nicht immer ein Hörgenuss sind. Es wird wütend gegen die Wände geklopft oder von vorneherein die Polizei gerufen. Besonders schwer haben es die Pianisten, weil sie obendrein viel Platz für ihr Instrument benötigen. Manche lassen sich um ihren Flügel herum eine schalldichte Kabine bauen, die zwar kaum Töne nach außen dringen lässt, aber alles andere als ein gemütlicher oder gar inspirierender Aufenthaltsort zum Musizieren ist.

Und in der Tat, Musikinstrumente können laut sein, selbst jene, denen man das zunächst gar nicht zutraut. Ein Flötist, zum Beispiel, muss bis zu 118 Dezibel an seinem rechten Ohr verkraften. Eine Geige ist kaum leiser, und wenn die vereinten Blechbläser im Orchester losdonnern, können sie es, was die Lautstärke angeht, leicht mit einem startenden Jet aufnehmen. Aber kann Musik wirklich Lärm sein? Laut einer Untersuchung des Umweltbundesamts in Berlin aus dem Jahr 2009 haben 11 Prozent der Kinder den Lautstärkepegel ihres mp3-Players immer am oberen Anschlag. Wohl sagen die Experten, dies sei nicht weiter problematisch – doch die meisten Geräte schaffen es weit über die Lärmgrenze von 85 Dezibel, was die Chancen auf Hörschäden im Alter drastisch erhöht.

Es leuchtet mir ein, dass man sich auch um die Musikerohren sorgt, für Arbeitnehmer in lärmbelasteten Industriebetrieben werden ja auch Schutzvorkehrungen getroffen. Deshalb gelten seit 2008 die Richtlinien der Europäischen Union für den Arbeitsschutz in der Musikindustrie. Sie besagen, dass insbesondere das Gehör einem großen Risiko ausgesetzt ist. Weniger das des Publikums, sondern das der Musiker im Orchester, deren Ohren zeitweise mit Lautstärken beschallt werden, wie sie im sonstigen Leben von Presslufthämmern erzeugt werden. Und wenn ich an viele Musikerkollegen aus der Popbranche denke, die im Lauf ihrer Karriere erhebliche Gehörschäden davongetragen haben, muss man zugeben, dass es Musik gibt, die auch schädigend wirken kann.

Andere Wissenschaftler allerdings bezweifeln diese Theorie und behaupten, das menschliche Ohr reagiere auf Musik ganz anders als auf störende Geräusche, und erst recht auf Lärm in Fabrikhallen oder auf Baustellen. Ein tropfender Wasserhahn treibt manchen schon zur Raserei, der bei dezibelstarker Musik von Wagner oder Richard Strauss ins Schwärmen gerät.

Die Komponisten der Gegenwart werden darauf in Zukunft womöglich zu achten haben, dass ihre Werke nicht die höchstzulässigen Dezibelwerte überschreiten, weil Uraufführungen – wie bereits in einem Fall geschehen – sonst von Orchestern verweigert werden. Davon ganz abgesehen findet man oft gerade die größten und schönsten Geheimnisse der Musik im Pianissimo… In diesem Sinne, Ihnen allen einen sanften und ruhigen Start ins neue Jahr!

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