- "Ich bin ein Teil der deutschen Literatur, so deutsch wie Kafka"
Ist Fremd-Sein ein Problem, ein Thema oder ein Markt-Vorteil? Vier nicht ganz deutsche Autoren – Terézia Mora, Imran Ayata, Wladimir Kaminer und Navid Kermani – im „Literaturen”-Gespräch
Literaturen Als wir Sie zu diesem Gespräch über «Fremde» – die
Fremde, das Fremde, die Fremden – einluden, reagierten Sie alle
spontan abwehrend. Was für Befürchtungen oder Verdachtsmomente
waren da im Spiel? Warum sind Sie zurückgezuckt?
Terézia Mora Die Gegenfrage
wäre: Fremd – verglichen womit? Wer oder was ist da der Maßstab?
Ich habe nichts dagegen, Ungarin zu sein – zur Hälfte –, aber ich
habe etwas dagegen, in Deutschland bis ans Ende meines Lebens die
Berufs-Fremde geben zu müssen. Weil das nicht mich als Person, aber
schon gar nicht das beschreibt, was ich mache – meine Arbeit.
Literaturen Sie wollen nicht als Fachfrau fürs Fremde
angesprochen werden.
Mora Ich bin unendlich
genervt von dieser Fragestellung. Ich nehme an diesem Gespräch nur
teil, um mich ein allerletztes Mal zu diesem Thema zu äußern.
Literaturen Geht das den anderen auch so?
Wladimir Kaminer Die Angst
vor der Fremde hat doch etwas Provinzielles. Klar, dass Autoren als
weltgewandte Menschen mit diesem Thema nichts zu tun haben wollen.
Ich komme aus Moskau, einer Millionenstadt. In meiner Schule waren
Georgier, Koreaner, Usbeken, sogar Kambodschaner, ich habe deswegen
die Welt nie in Eigene und Fremde aufgeteilt. Andererseits sehe
ich, dass Leute, die in einer sehr abgeschotteten Kulturtradition
aufgewachsen sind, Probleme damit haben, wenn sie in einer anderen
Welt ankommen. Wenn beispielsweise ein Spätaussiedler aus dem
ländlichsten Kasachstan zu uns in die «Russendisko» kommt, dann
kann ich sehen, dass er richtig große Angst hat. Eine Angst, die
ein Russe oder Ukrainer, die zum Studieren nach Deutschland kommen,
gar nicht nachvollziehen könnten, weil alle Großstädte dieser Welt
einander ähneln.
Navid Kermani Ich bin
zurückgezuckt, weil man ständig von ethnisch-deutscher Seite in die
Fremden-Ecke geschoben wird. Es ist mir egal, ob die Deutschen mich
für einen Iraner, einen Muslim oder sonst was halten. Sollen sie
mich halten, wofür sie wollen. Aber in einem Punkt muss ich darauf
beharren dazuzugehören: bei der Literatur. Ich bin ein Teil der
deutschen Literatur.
Kaminer Das Russland, das ich
beschreibe, ist auch ein Teil der deutschen Literatur. Auf jeden
Fall. So deutsch wie Günter Grass mit seinem Danzigdanzig.
Kermani Wenn ich in einer
Buchhandlung meine Bücher bei der persischen Literatur sehe, dann
gehe ich zum Buchhändler und sage ihm: Entschuldigung, das ist ein
Irrtum. Die deutsche Literaturtradition ist doch voll von Leuten
mit anderen Herkünften, gemischten Kulturen, nicht eindeutigen
Identitäten, deren Heimat nicht Deutschland als Nation, sondern
Deutschland als Sprache ist. Und aus der deutschen Sprache lasse
ich mich absolut nicht rausdrängen. Aus Deutschland vielleicht,
aber nicht aus der deutschen Literatur, die ich verehre; die
persische habe ich erst viel später kennen gelernt.
Imran Ayata Mein erster
Reflex war genauso. Für solche Fragen hatte ich mal ein ganzes
Repertoire unterschiedlicher Antworten, mal zynisch, mal witzig.
Woher kommen Sie? Aus dem Bauch meiner Mutter, aus Ulm, aus der
Türkei. Man wird hier ja immer biografisiert.
Kermani Das Problem mit dem
Fremdsein habt ihr, nicht wir.
Ayata Doch, ich hab’s aber
auch.
Kermani Ich fühle mich nicht
fremd, jedenfalls nicht in einem nationalstaatlichen Sinne. Einfach
weil mir solche nationalen Zuschreibungen nicht besonders wichtig
sind.
Literaturen Nicht? Sie haben doch gerade geschildert, dass Sie
ständig mit solchen Zuschreibungen zu tun haben.
Kermani Aber die
Zuschreibungen kommen doch von außen; ich selbst fühle mich wohl,
wo ich lebe, also in Köln. Ich muss mich nicht als Deutscher
fühlen, um nicht fremd zu sein.
Mora Seit ich fünf war,
wollte ich aus meinem ungarischen Dorf weggehen. Ich wollte den Ort
und die Lebensweise finden, in denen ich nicht fremd bin – nämlich
hier in Berlin und als Schriftstellerin. Ich habe hier keine
Fremdheitsgefühle. Fremd war ich in dem ungarischen Dorf. Ich habe
die Sprache nicht gewechselt. Ungarisch und Deutsch sind beides
meine Muttersprachen. Ich konnte mich für eine der beiden
entscheiden, und das habe ich auch getan.
Kaminer In Moskau habe ich
mich auch fremd gefühlt. In meiner Clique waren wir alle große
Dissidenten und wollten nichts als weg. Mit vierzehn, fünfzehn
trugen wir englische Fahnen, denn wir sahen uns als Kinder der
britischen Kultur. Wir hatten ja keine Ahnung.
Literaturen Ist es dann ein Zufall, dass Sie nach Deutschland
gingen und Deutsch schreiben? Hätten Sie ebensogut nach England
gehen können und Englisch schreiben?
Kaminer Die Gleise führten
eben nach Deutschland, es gab keine Zugverbindung nach England.
Ayata Meine Erfahrung mit dem
so genannten Fremdsein ist anders. In Ulm, wo ich aufs Gymnasium
ging, war das nicht lustig. Ich war in der Schule schon «der Ali»,
an der Universität in Frankfurt war ich manchmal «der Ali», und ich
werde in der Wahrnehmung der Leute immer wieder «der Ali» sein.
Literaturen So unterschiedlich Ihre Herkünfte, Ihre Biografien
und Ihre Brotberufe sind – als Übersetzerin, Werbeagent,
Betreiber einer Disco, politischer Journalist –, so haben Sie in
Ihrem zweiten Beruf als Autoren doch eines gemeinsam: dass Sie eben
nicht deutsche Autoren sind im Sinne von Goethe oder Thomas
Mann.
Kermani Aber vielleicht
deutsch eher im Sinne von Kafka.
Mora Ja, eben. Ich bin
genauso deutsch wie Kafka. Ich komme ungefähr aus derselben
Gegend.
Kermani Das finden Sie bei
vielen großen Autoren genauso – dass sie nicht im Klischee-Sinne
deutsch sind. Aber das ist auch gar nicht der Punkt. Natürlich
schreibe ich über meine Welt, die anders ist als Ihre Welt. Aber
ist das so sehr anders, als wenn ein Arnold Stadler über die Welt
schreibt, aus der er stammt, aus Meßkirch, und nicht über
Norddeutschland?
Literaturen Liegt der Unterschied nicht vielleicht darin, dass
Sie eben nicht nur Meßkirch, sondern Russland, Ungarn und den
Balkan, Ihre türkischen oder iranischen Wurzeln in die deutsche
Literatur einbringen? Das kann man doch als eine große Durchlüftung
der deutschen Literatur sehen, als eine Anreicherung mit anderen
Welterfahrungen?
Kaminer In meinem Leben
gehört das biografisch zusammen: der Fall des Sozialismus, das
Ende der Sowjetunion, der große Umzug nach Deutschland, und alles
Neue, das daraus entstanden ist. Aber auch Deutschland hat sich in
den letzten fünfzehn Jahren sehr stark verändert – beinahe stärker
als meine Heimat. Ich bin viel auf Lesereise in den so genannten
neuen Bundesländern. Die Menschen dort sind mit einer Gegenwart
konfrontiert, die ihnen ziemlich fremd ist und auch Angst macht.
Weil sie selber fremdeln in der Welt, haben sie Angst vor
Fremden.
Literaturen Das haben Sie, Herr Kaminer, mit Terézia Mora
biografisch gemeinsam: dass bei Ihnen das Erwachsenwerden und
Von-Zuhause-Fortgehen zeitlich zusammenfällt mit dem Ende des
Eisernen Vorhangs und der Öffnung der europäischen Grenzen. Sie
hatten plötzlich die Freiheit, wegzugehen und sich überall
umzusehen, wo Sie wollten.
Mora Wir alle sind um 1970
herum geboren. Für uns war der Mauerfall tatsächlich auch
biografisch die historische Zäsur. Seither leben wir alle
in einer anderen Welt. Als ich diese These neulich an einem Tisch
mit einem West-Autor von mir gab, da schnippte der die Asche von
seiner Zigarette und sagte: Ich nicht. Demzufolge wäre westdeutsch
der Normalzustand: Nur der Kern-Wessi muss sich nicht
rechtfertigen. Was der Kern-Wessi schreibt, ist demnach die Norm,
alles andere kommt halt so dazu. Das regt mich auf.
Kermani Es stimmt natürlich,
dass Leute, die biografisch aus nahöstlichen, osteuropäischen, eben
anderen kulturellen Kontexten kommen, auch andere kulturelle
Erfahrungen mitbringen, die ein rein westdeutsches
Mittelstandsleben nicht bieten kann.
Mora Entschuldigung, wir
reden von Literatur, wir reden nicht von Lieschen Müller.
Kermani Aber die Welt muss es
schon sein. Das mag jetzt abfällig klingen, aber es gibt in
Deutschland eine Menge für mich völlig irrelevante Literatur, die
von Lieschen Müller geschrieben ist.
Kaminer Von wem?
Mora Von Lieschen Müller.
Eine Typologie.
Kaminer Ich kenne aber
heutige deutsche Autoren mit reiner West-Problematik, die trotzdem
sehr spannende Bücher schreiben. Sven Regener zum Beispiel.
Kermani Der Punkt ist nicht
die Herkunft, oder wo man wohnt. Es ist der Blick. Man findet die
ganze Welt in Meßkirch. Aber es darf eben auch nicht weniger sein
als die Welt. Ein Arnold Stadler ist für mich in diesem Sinne
weltläufiger als das meiste, was unter dem Label «Multikulti»
firmiert. Andererseits kann es schon sein: Die Welt, die in den
Büchern der hier versammelten Autoren auftaucht, die politischen
Erfahrungen dahinter – Revolutionen, Kriegsgefangene,
Kriegsgefallene in der eigenen Familie – all dies macht aber unsere
politischen oder literarischen Biografien vielleicht reicher.
Zumindest könnten wir aus einem größeren Archiv schöpfen als andere
deutsche Autoren unserer Generation. Und diese Literatur mit einem
anderen kulturellen Blick, geschrieben von Autoren, die keine rein
deutschen Biografien haben, interessiert mich auch als Leser mehr
als vieles, was an jüngerer Literatur aus rein westdeutscher Sicht
geschrieben wird.
Literaturen Dann wäre die Unterscheidung zwischen Ihrer
Literatur und der sozusagen kern-westdeutschen
Lieschen-Müller-Literatur keine Ausgrenzung mit negativen
Vorzeichen, sondern vielmehr eine positive Abgrenzung, ein
literarischer Bonus. Das war vor zwanzig Jahren noch nicht so. Dass
die Literatur von den Rändern heute eine richtige Konjunktur erlebt
– hat das mit einem veränderten Europa zu tun? Einem migrantischen
Europa des Unterwegs-Seins und der Veränderungen, wo frühere
Determinierungen keine Gültigkeit mehr haben und feste Verortungen
überholt sind?
Ayata Wenn man ehrlich ist,
dann gibt es tatsächlich hin und wieder so etwas wie den
Kanaken-Bonus. Im Mainstream gibt es manchmal eine Sehnsucht nach
migrantischer Bereicherung. So kann es schon sein, dass man
eigentlich keine spannenden Sachen macht, aber eine Rolle bedient.
Und
so kann man dann durchaus eine gute Zeit haben.
Kaminer Es gibt viele Russen,
die schreiben und keinen Erfolg haben. Die haben keinen Bonus.
Ayata Logo. Ich will es nicht
schönreden. Im Gegenteil. Aber ich habe mich jahrelang mit HipHop
beschäftigt und auch darüber geschrieben. Da gab es
grottenschlechte Kanak-Rapper, die der deutsche Mainstream aber
plötzlich spannend fand, nach dem Motto: Toll, diese Wut aus den
sozialen Brennpunkten und dieses real-existierende Multikulti! Die
Jungs waren klug genug, diese Mode auszunutzen. So kamen sie an
Plattenverträge, die sie sonst nie bekommen hätten. Ich nenne das
Differenz-Boutique: Es gibt im kulturellen Bereich eine
unbeschreibliche Gier des deutschen Mainstream nach Differenz –
wie in einem Laden, wo man sich die schönen Teile raussucht, die
schönen Teile der Differenz.
Literaturen Es muss aber schon die richtige Differenz
sein.
Ayata Sie darf den Konsens
nicht substanziell in Frage stellen, sie muss immer ein bisschen
bereichernd sein – exotisch, eben anders, aber auch irgendwie klug.
Ich finde das nicht falsch, damit zu spielen. Ich habe das schon
knallhart getan. Ob meine Figuren aus meinem Erzählungsband
«Hürriyet Love Express» solche Typen sind, da habe ich Zweifel. Es
tauchen viele mit türkischen Namen auf. Aber sie sind anders als
die Türken, die die meisten Deutschen so im Kopf haben. Ich habe
sozusagen Polaroids vom Leben im Hier und Jetzt junger Kanakster
geschossen.
Kaminer Auf einen
Ausländer-Boom, eine Multikulti-Welle zu bauen, halte ich für
gefährlichen Selbstbetrug. Wenn du nichts Solides anzubieten hast,
wird kein Mensch deine Bücher kaufen, allen cleveren PR-Strategien
zum Trotz. Kein Mensch geht zu einer Lesung, nur weil der Autor
eben aus irgendeinem Zoo gekommen ist.
Ayata Aber das sage ich doch!
Multikulti ist kein Freischein für andauernden Erfolg. Die
Differenz-Boutique funktioniert nur für den Moment. Wenn deine
Bücher langweilig sind, dann hilft auf Dauer die
Multikulti-Werbesendung auch nicht.
Kermani Es gibt diesen Bonus.
Aber nicht auf der Ebene der ernsthaften Literatur.
Ayata Was ist denn das –
ernsthafte Literatur?
Kermani Das, was Bestand hat,
was man auch in zehn, zwanzig Jahren noch lesen wird. Das läuft
jenseits der Mode-Mechanismen. Zur Differenz-Boutique hingegen
gehört, wenn die ZDF-«Aspekte» einen Beitrag groß aufmachen: «Der
erste Porno-Roman einer Muslimin».
Mora Die schreibt über
Tausendundeine Nacht?
Kermani Wer jetzt einen
Schleiereulen-Roman schreibt – «Wie ich mich aus der
Muslimsklaverei befreite» oder so ähnlich –, der wird heute schnell
einen Verlag finden, vielleicht auch hohe Auflagen erreichen und im
Fernsehen gehyped werden. Das hat aber keinen Bestand. Die
ernsthafte Literaturkritik befasst sich damit kaum. Mein eigenes
neues Buch ist sexuell sehr explizit; trotzdem wäre weder mein
Verlag noch sonst wer auf die Idee gekommen, ihn mit dem Slogan
«Muslim schreibt Sex-Roman» zu vermarkten. Das wäre absurd
gewesen.
Literaturen Wenn wir Imran Ayata richtig verstanden haben,
unterscheidet er zwischen literarischer Qualität einerseits und
Modekonjunktur andererseits. Schlechte Qualität wird die Mode nicht
überleben, aber gute Qualität kann sich die Konjunktur zunutze
machen, ohne Schaden zu nehmen.
Mora Ich hatte vor solcher
Etikettierung von Anfang an Angst. Ich kam unter meinem Ehe-Namen,
einem kerndeutschen Namen, zum Verlag, aber ich wollte nicht unter
dem Namen meiner Schwiegermutter veröffentlichen. Dann hat der
Verlag herausgefunden: Oh Gott, Sie sind ja Ungarin!
Mora ist übrigens auch nicht mein richtiger Name. Ich wollte einen
Namen wählen, dem man nicht sofort anhört, wo er herkommt. Ich
wollte mich maskieren. Ich bin zu hochnäsig, um einen Trend
auszunutzen. Ich wollte die Wahrheit erfahren: Man sollte nicht
wissen, wer diesen Text geschrieben hat, aber diesen Text dennoch
als gültig erkennen. Ich sagte mir: Das zweite Buch muss so sein,
dass danach praktisch nicht mehr wichtig ist, wer es geschrieben
hat.
Literaturen In Ihrem Erzählungsband «Seltsame Materie» und
Ihrem Roman «Alle Tage» ist das Thema Fremdheit aber ganz
zentral.
Mora Ja, natürlich. Mein Held
Abel Nema ist sozusagen von Anfang an und grundsätzlich fremd. Er
hat das Büchner-Problem – «jeder Mensch ist ein Abgrund, es
schwindelt einem, wenn man hinabsieht». Der Mensch als Fremder an
sich.
Kermani Für mich ist
Fremdheit erst mal ein hoch positiver Begriff, ohne den könnte ich
gar nicht arbeiten. Fremdsein ist eines der Grundmotive meines
Lebens und Schreibens, aber eben nicht auf der Ebene einer Moschee
in Kreuzberg. Fremd ist für mich zunächst einmal ein weiblicher
Körper.
Mora Für mich auch!
Kermani Mich interessiert
nicht, ob meine Themen multikulturell sind. Es ist einfach nur so,
dass in der Welt, in der ich lebe, viele Kulturen sind,
nebeneinander oder ineinander verwoben. Damit meine ich auch,
aber nicht primär, mein unmittelbares privates Umfeld. Das gilt für
meine Reisen, aber
vor allem für die Literatur, die ich lese. Im Wort Weltliteratur
steckt ja immerhin das Wort Welt.
Ayata Mag sein. Fakt ist,
dieses Land verändert sich. In der Generation meiner Eltern haben
sich nur wenige mit dem befasst, was viele in meiner Generation
beschäftigt. Und diese Menschen sind auch potenzielle Käufer,
Musikhörer und Club-Besucher. Das beeinflusst dieses Land und weckt
Begehrlichkeiten seitens der Kulturindustrie. Und langsam erkämpfen
sich Leute mit migrantischem Hintergrund Zugang zu
gesellschaftlichen Ressourcen und kultureller Repräsentation. Sie
sind aber noch lange nicht ausreichend sichtbar. Verglichen mit
England oder Frankreich ist das Oberliga.
Kaminer Weil Deutschland
keine koloniale Vergangenheit hat. In Frankreich oder England hat
man sich eine dermaßen bunte Gesellschaft ins Land geholt, dass
dort all diese Fremden-Diskussionen total überholt wirken. Dass
eine Buchhandlung Salman Rushdie auf das Regal mit orientalischer
Literatur stellt, wäre in England unvorstellbar.
Literaturen Meinen Sie denn, ein Gespräch wie dieses könnte
nur in Deutschland geführt werden, mit seiner mangelnden kolonialen
Geschichte und seiner daraus resultierenden mangelnden
Weltläufigkeit?
Ayata In Österreich könnte
man ein solches Gespräch schon auch führen.
Kaminer In Sankt Pölten gibt
es große Angst vor Fremden! Da kommen die Fremden immer mit ihrer
Ski-Ausrüstung!
Literaturen Werden nicht umgekehrt gerade in postkolonialen
Gesellschaften wie Großbritannien, Frankreich oder Holland diese
Fragen ständig diskutiert? Geht es dort nicht in Institutionen, die
«Postcolonial Studies» betreiben, unentwegt um das Thema Differenz,
unter Stichworten wie Hybridität, Kreolisierung der Sprache,
«White, but not quite»?
Ayata Hybridität ist hier nur
Abfallprodukt einer Debatte, die originär anderswo geführt wird.
Der postkoloniale Diskurs ist in Deutschland ein belächeltes
universitäres Nebenfach, wo eifrig nachgelesen wird, was Homi
Bhabha und andere postkoloniale Denker entwickeln. Natürlich merkt
man dem, was wir schreiben und wie wir schreiben, an, dass etwa die
Eltern aus der Türkei oder dem Iran kommen, oder dass Kaminer in
Moskau in den Zug gestiegen und in Berlin ausgestiegen ist. Hätte
es ihn nach Schwäbisch Gmünd verschlagen, würde er anders
schreiben. Man kann das Anderssein nicht allein auf Ethnizität
reduzieren.
Kermani Diese Erfahrungen
gehören doch eigentlich zum selbstverständlichen Archiv eines
Autors, egal, ob er in München groß geworden ist oder anderswo.
Alle großen Autoren, die ich kenne, waren vor allem lesebesessen,
haben sich also ganze Welten erlesen, und viele waren Reisende. Wer
als
Autor das eigene Blickfeld nicht ständig erweitert, erschöpft sich
sehr schnell. Was mir am Großteil der deutschen Gegenwartsliteratur
missfällt, ist, dass sich die Welterfahrung auf
Literatur-Stipendien und Einladungen an Goethe-Institute
beschränkt. Das merkt man ihr an, zu ihrem Schaden.
Literaturen In ganz Europa gibt es doch eine ähnliche
Migranten-Thematik. Bietet die Fremdheit als literarisches Thema
auch politische Anknüpfungspunkte? Können Sie mit dem, was Sie
schreiben, an die Politik anschließen?
Kaminer Mich hat Deutschland
politisiert. Man kann hier der Politik gar nicht entkommen, denn
Deutschland ist wie eine Kolchose aufgebaut: Jeder geht jeden an.
Jeder Penner fühlt sich als Teil des Systems und für alles
verantwortlich. Ich schreibe aber nicht journalistisch über
politische Tagesfragen, ich versuche das in meine literarische
Arbeit einzubauen.
Mora Die Literatur, die ich
schreibe, kann mit der Tagespolitik nicht Schritt halten und sollte
das auch überhaupt nicht versuchen. Ich bin froh, nicht in Ungarn
zu leben, wo die Schriftsteller gleichzeitig auch die
Journalistenrolle spielen. Dort wird von ihnen erwartet, dass sie
sich unentwegt tagespolitisch äußern. Ich bin sehr froh, daran hier
nicht teilhaben zu müssen.
Literaturen Ihre Erzählungen, Herr Ayata, handeln alle von
deutsch-türkischen kulturellen Grenzgängern, von halb-integrierten
jüngeren Leuten der zweiten Migranten-Generation. Jedenfalls sind
Ihre Helden offen für Integration, sprechen längst besser Deutsch
als Türkisch und bewegen sich locker und selbstverständlich
innerhalb der deutschen Gesellschaft. Im Gegensatz dazu wird der
türkischen Minderheit in Deutschland neuerdings sogar von
türkischer Seite der Vorwurf gemacht, sie verweigere die
Integration und grenze sich bewusst ab, Stichwort:
Parallelgesellschaft.
Ayata Es gibt bekloppte
Muslime, die organisieren auch Politik über ihre Beklopptheit. Ich
habe nichts für sie übrig und könnte so nicht leben, wie viele
Muslime hier leben. Warum manche sich nicht integrieren und nicht
teilhaben wollen, hat natürlich auch mit deren Ideologie zu tun,
die nicht die meine ist.
Kermani Klar gibt es in der
dritten Generation gefährliche Entwicklungen, da gibt es Leute, die
in den Radikalismus abdriften. Aber solche politischen Phänomene
diskreditieren für mich nicht das Fremde als solches.
Literaturen Nimmt die Neigung zur Abschottung in der
muslimischen Minderheit zu, wie neuerdings oft behauptet
wird?
Ayata Ich weiß es nicht, ich
bin nicht der Türkenminister. «Parallelgesellschaft» ist auf jeden
Fall nicht eine Erfindung dieser Minderheit.
Literaturen Eine Abschlussfrage. Seit zwanzig Jahren wird von
der Robert-Bosch-Stiftung der Chamisso-Preis zur Förderung der so
genannten Migrationsliteratur verliehen. Ausgezeichnet werden
Autoren nicht-deutscher Herkunft und Muttersprache für wichtige
Beiträge zur deutschen Literatur. Würden Sie den Chamisso-Preis
annehmen oder ablehnen?
Kermani 15.000 Euro!
Mora Das ist auch mein
Kommentar. Als ich den Förderpreis zum Chamisso-Preis bekam, bin
ich zuerst erschrocken, aber dann habe ich ihn angenommen. Es ist
ja keine Schande, diesen Preis zu bekommen.
Imran Ayata, 1969 in Ulm geboren, lebt in Berlin, ist Geschäftsführer einer Kommunikationsagentur, Autor und DJ. Er studierte Politologie in Frankfurt a. M., war Redakteur der Zeitschrift «Die Beute. Politik und Verbrechen» und Mitbegründer der Initiative «Kanak Attak». Soeben veröffentlichte er seinen ersten Erzählungsband «Hürriyet Love Express».
Terézia Mora, 1971 im ungarischen Sopron
geboren, übersiedelte 1989 nach Berlin. Sie arbeitet als
Übersetzerin aus dem Ungarischen, vor allem der Romane Péter
Esterházys, und als Autorin. Für ihren ersten Erzählungsband
«Seltsame Materie» erhielt sie 1999 den Bachmann-Preis. 2004
erschien ihr
erster Roman «Alle Tage».
Wladimir Kaminer, 1967 in Moskau geboren, studierte Theaterwissenschaften, bevor er 1990 nach Berlin übersiedelte. Er arbeitet als Kolumnist für Tageszeitungen, hat eine Radiosendung, organisiert die «Russendisko» und veröffentlichte Erzählungsbände wie «Russendisko» und «Mein deutsches Dschungelbuch» sowie den Roman «Militärmusik».
Navid Kermani, 1967 in Siegen geboren, ist
deutscher und iranischer Staatsbürger, promovierter Orientalist,
politischer Publizist und Schriftsteller und lebt in Köln. Er
veröffentlichte «Gott ist schön»,
«Das Buch der von Neil Young Getöteten» und «Vierzig Leben». Soeben
erschien sein Erzählungsband «Du sollst».
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