- „Die Tyrannei der Majorität war nie derart krass wie heute“
Im Alter von 81 Jahren ist gestern die Modedesignerin und Punk-Ikone Vivienne Westwood gestorben. Im „Cicero“-Archiv haben wir ein Interview aus dem Jahr 2005 gefunden. Es klingt noch immer erstaunlich frisch und politisch hoch aktuell.
Sie wurde berühmt mit dem aggressiven Punk-Look der Sicherheitsnadeln und Latexanzüge. Seit ihrem frühen Erfolg als Designerin der Sex Pistols war Vivienne Westwood eine rebellische Lady, die das Modebusiness zwar elegant und virtuos beherrschte, doch gleichzeitig Mode als Politikum begriff. Gestern ist die britische Stilikone im Alter von 81 Jahren gestorben. In Erinnerung an Westwood publizieren wir an dieser Stelle noch einmal ein Interview, das „Cicero“-Autorin Nicole Alexander für die August-Ausgabe des Jahres 2005 geführt hat. Vieles liest sich, als wäre es aus der unmittelbaren Gegenwart.
Mrs. Westwood, welcher Politiker findet in modischer Hinsicht Ihre Anerkennung?
Margaret Thatcher, ganz klar. Ich bin wahrlich kein Fan von ihr, aber ihr Geschmack ist ausgezeichnet. Tony Blair hingegen kleidet sich wirklich abscheulich, er hat überhaupt keinen Geschmack. Das teilt er übrigens mit der Mehrzahl der Menschen.
Ihnen gefällt es nicht, wie sich die meisten Leute kleiden?
Überhaupt nicht. Die Welt ist so amerikanisiert, dass die Menschen hässlicher aussehen als je zuvor. Ich unterscheide zwischen wirklicher Mode und dieser grauenvollen Massenproduktion. Die Leute kaufen sich schreckliche Klamotten, die nichts mit ihrer Persönlichkeit zu tun haben. Letztlich sehen neunzig Prozent der Menschen heute wie uniformiert aus.
Bietet die demokratische Gesellschaft mit ihrem Hang zum Individualismus nicht beste Voraussetzungen für individuelle und kreative Mode?
Das Gegenteil ist der Fall. Die Tyrannei der Majorität war nie derart krass wie heute. Zudem ist es fraglich, ob unser heutiges politisches System die Bezeichnung „Demokratie“ wirklich verdient. Vielleicht gab es sie nicht einmal bei den Griechen oder wenn, dann nur für sehr kurze Zeit. Sehen Sie, in Großbritannien gibt es ein uraltes Gesetz, die Habeas-Corpus-Akte.
Danach darf ein Bürger ohne gerichtliche Untersuchung nicht in Haft gehalten werden.
Dieses Grundrecht aus dem 17. Jahrhundert wollte die britische Regierung im Rahmen ihrer Antiterrorgesetze nach dem 11. September partiell außer Kraft setzen. Doch wenn in einer Gesellschaft keine Gleichheit vor dem Gesetz garantiert wird, dann kann sie sich nicht als eine demokratische bezeichnen. Kurz vor der Wahl in Großbritannien am 5. Mai rief mich die BBC an. Sie wollten meine Meinung zur politischen Situation hören, zum Gesundheitssystem und zur wirtschaftlichen Entwicklung. Doch ich wollte vor allem über die Aufhebung der Habeas-Corpus-Akte reden. Da hatten sie auf einmal kein Interesse mehr an einem Gespräch – erschütternd.
Sie tragen ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Liberty“. Kehren Sie im Alter von 64 Jahren zu Ihren modischen Ursprüngen zurück?
Wie kommen Sie denn darauf?
Weil Sie Anfang der siebziger Jahre, als Sie mit Ihrem damaligen Lebensgefährten Malcolm McLaren die Punk-Rock-Mode kreierten, ebenfalls T-Shirts mit politischen Slogans entworfen haben.
Stimmt. Aber früher war auf unseren T-Shirts meistens das Wort „destroy“ zu lesen. Meine politischen Ansichten haben sich grundlegend gewandelt.
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Worum geht es Ihnen heute?
Ich habe ein Projekt ins Leben gerufen, das sich „Active Resistance Against Propaganda“ nennt. Mein Lieblingsautor Aldous Huxley hat bereits in den zwanziger Jahren von den drei Grundübeln unserer Zeit gesprochen: Nationalismus, organisierte Lüge und ununterbrochene Ablenkung. Weil die Leute unentwegt konsumieren, haben sie keine Zeit mehr, sich mit sich selbst zu beschäftigen und nachzudenken. Ich bin überzeugt, dass die Menschen immer weniger denken, je mehr sie konsumieren. Und wenn die Leute nicht bald anfangen zu denken, sehe ich schwarz für unsere Zukunft.
Wie sieht das konkret aus?
Ich setze mich zum Beispiel für die Freilassung von Leonard Peltier ein, einem nordamerikanischen Indianer, der seit 30 Jahren unschuldig im Gefängnis sitzt. Um darauf aufmerksam zu machen, habe ich Zettel auf Modeschauen verteilt und Unterschriften von Prominenten für eine Petition gesammelt.
Kommen Sie neben diesen ganzen Aktivitäten überhaupt noch dazu, sich um Ihr eigentliches Modelabel zu kümmern?
Das Modegeschäft ist leider sehr zeitraubend. Auch deshalb habe ich mich schweren Herzens entschlossen, meine Tätigkeit als Professorin an der Universität der Künste Berlin nach zwölf Jahren aufzugeben.
Beim Défilé Ihrer letzten Modeklasse Anfang Juli in Berlin führten die Studenten Kreationen vor, die durch Shakespeare, Proust und Balzac inspiriert waren. Wie war es denn vor Ihrem Unterricht um die Literaturkenntnisse Ihrer Schützlinge bestellt?
Ach, gar nicht so schlecht. Der Bildungsstandard in Deutschland ist jedenfalls höher als in England. Ich habe den Eindruck, dass der Respekt vor der Bildung hier größer ist als bei uns. Die Briten lehnen die Vorstellung ab, sie könnten intelligent sein. Sie glauben, dass es nicht gut ist, wenn man zu viel lernt. Meine deutschen Studenten hatten immerhin bereits das eine oder andere Buch gelesen, und sie alle sprechen mindestens eine Fremdsprache.
Findet Ihr politisches Engagement auch Eingang in Ihre Mode?
Für die Menschenrechtsorganisation „Liberty“ habe ich das T-Shirt entworfen, das ich trage. Gestern kam mir die Idee, Strampelanzüge mit dem Aufdruck „I’m not a terrorist, please don’t arrest me“ zu kreieren. Das sähe bestimmt niedlich aus. Bestimmt wären viele Eltern von der Idee begeistert. Immerhin könnte irgendwann einmal auch ihr Kind in den Verdacht geraten, ein Terrorist zu sein.
Das Gespräch führte Nicole Alexander.
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Sehr aktuell-in der Tat. 2022 kleiden sich die Leute unverändert einheitlich, nur in Luxusausführung. So wurde Bernard Arnault zum reichsten Mann der Welt. Wahrscheinlich hat er sich seinerzeit vom Interview inspirieren lassen.