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(picture alliance) Berlin inspirierte DBC Pierre zu seinem neuen Roman „Das Buch Gabriel“

DBC Pierre - „Wir haben die Theorien an die Wand gefahren“

Alle politischen Ideologien sind gescheitert, die Menschheit befindet sich in einem Schwebezustand, sagt Buchautor DBC Pierre. Über seinen neuen Roman und einen Besuch im Gefängnis.

Unter dem Pseudonym DBC Pierre veröffentlichte der gebürtige Australier Peter Finlay 2003 seinen Debütroman „Jesus von Texas“, für den er den Booker Prize erhielt. Er wuchs in Mexiko City auf, lebte in Spanien, England, der Karibik und zuletzt in Irland. DBC steht für „Dirty but Clean“ –  dreckig, aber sauber. Der Name ist Programm: Seine jungen Jahre nach dem Tod des Vaters zeichnen eine Achterbahnfahrt aus Drogen, Spielschulden und Gesetzesbrüchen.

Herr Finlay, Ihr neues Buch trägt den Titel „Das Buch Gabriel“. Das weckt biblische Assoziationen.  Nun ist Ihr Protagonist, Gabriel, aber alles andere als ein Engel. Er ist ein Drogensüchtiger, der gleich auf der ersten Seite beschließt, sich umzubringen und seinem Leben mit einem bombastischen Bacchanal ein Ende zu setzen. Was hat das zu bedeuten?

Gabriel versinnbildlicht den Zustand unserer Gesellschaft. Er ist in einem Schwebezustand vor dem totalen Kollaps, bewegt sich in einer Art Limbus, der christlichen Vorhölle. Er weiß, es ist hoffnungslos und beschließt all dem ein Ende setzen, sagt sich aber: „Es muss ja nicht sofort sein.“

In der Bibel ist der Erzengel Gabriel der Bote Gottes. Verkündet in Ihrem Buch ein Junkie den Untergang unserer Zivilisation?

Sehen Sie, irgendwann war für mich klar: Wir befinden uns in einer Moderne zwischen den Ideologien. Erst haben wir den Faschismus hinter uns gelassen, dann den Kommunismus und wie es aussieht, verlieren wir jetzt auch den modernen Kapitalismus. Wir stehen vor einem großen Nichts, die nächste Ideologie steht noch aus.
All diese Theorien sind ausgestorben – der Mensch ist es in den vielen Tausend Jahren nicht. Wir haben die Theorien an die Wand gefahren (wörtlich: „We fucked them up“),  weil wir zu undiszipliniert sind und uns gegenseitig nicht trauen können. Wir schaffen es nicht, unser System zu beherrschen.

Aber was kommt nach dem Kapitalismus?

Das Problem ist, eine Wirtschaft brauchen wir definitiv. Die Frage ist nur: Dient sie der Gesellschaft und ernährt sie sie, oder geht es weiter wie bisher und die Märkte spalten die Menschen in extrem Arm und extrem Reich?

Ein Großteil Ihres neuen Buches spielt in Berlin. Wie sind Sie auf Berlin gekommen?

Ursprünglich sollte Berlin in dem Buch gar nicht vorkommen. Als ich anfing zu schreiben, befand sich die Wirtschaft in ihren Boomjahren. Aber ich habe irgendwie gespürt, dass das nicht so weitergeht. 

Erwuchs daraus ein Konzept?

Ich habe das Buch nicht geplant. Vielmehr habe ich gelernt, wie mein Protagonist gelernt hat. Als ich mit dem Buch über Gabriel anfing, war zum zweiten oder dritten Mal in Berlin. Etwas an diesem Ort hat Aspekte in meiner Weltanschauung verschoben, die bis dahin mein ganzes Leben lang gültig waren – in vielen unterschiedlichen Bereichen. Ich traf sehr interessante Leute, zum Beispiel  einige Jungs von der Band Rammstein oder etwa einen verrückten Fotografen.  Jeder Mensch, den ich kennengelernt habe, brachte mich auf die nächste Ebene, die Dinge zu begreifen. So kristallisierte sich für mich auch heraus, dass unser Zustand dem Warten im Limbus gleicht.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, was DBC Pierre an Berlin reizt.

Wie sind Sie beim Schreiben vorgegangen?

Ich konnte die Geschichte nicht aus der Perspektive eines Deutschen schreiben, also hab ich es wie meine Figur Gabriel gemacht, habe Berlin besucht und mich ins Abenteuer gestürzt. In der Entstehungszeit von 2006 bis 2010 war ich bestimmt 80 Mal hier, manchmal jede Woche. Die meisten Dialoge in dem Buch paraphrasieren Gespräche mit Menschen, die ich auch tatsächlich in Berlin getroffen habe. Darunter waren Berliner, die die DDR gut fanden – und andere, die sie scheiße fanden. Wie Gabriel habe ich auch sehr reiche Leute kennengelernt. Viele der Abenteuer, die er in dem Buch hat, waren meine. Das hat ihnen ein wenig Leben eingehaucht.  Der Ort hat mich einfach eingesogen. Es war wie eine Odyssee, Gabriels Odyssee.

Und was reizt Sie am meisten an der Stadt?

Die historische Dichte auf einem Fleck. Wir haben, wie gesagt, alle großen Ideen verloren – aber sie sind nach Berlin gekommen. Das hat mich fasziniert. Diese Stadt ist ein Labor für Ideologien, wenn man es genau betrachtet: Eine herrliche Zeit der Dekadenz in den 20er Jahren schlug ins exakte Gegenteil um, in einen knallharten Totalitarismus. Als das Naziregime zusammenbrach, zerfiel die Stadt in ihrer Mitte in einen kapitalistischen und in einen kommunistischen Teil. Jetzt wachsen beide Teile allmählich wieder zu einer Art neuen Garten zusammen. Berlin ist wie ein Testfeld für den Rest der Welt. Das hätte ich sicher in einem Buch finden können. Aber als ich hier war, bin ich von selbst darauf gekommen. Es hat es mich von den Straßen, den Höfen und allen Winkel der Stadt angestrahlt.

Wie könnte man die deutsche Wiedervereinigung aus britischer Sicht schildern?

Es war ein überwältigendes Gefühl, die Fernsehbilder zu sehen, als die Mauer fiel. Aber aus der arroganten Sicht im Westen bedeute der Mauerfall für viele: „Der Kapitalismus hat gesiegt“. Sie glaubten, da sei ein Land voller Gefangener und sie hätten es in gewisser Weise befreit. Doch dieses Bild war und ist falsch. Es war von den ideologischen Kämpfen des Kalten Krieges verzerrt. Das wird besonders deutlich, wenn man sieht, wie viele Leute mit der Wiedervereinigung im Nachhinein unglücklich waren und in ihre Häuser im Osten zurückgezogen sind.
Ein letztes Stück unserer Selbstachtung stützt sich auch auf dem Blick, den viele Briten auf die deutsche Geschichte haben. Dieser Blick ist noch frisch, aber wie gesagt nicht korrekt. Das zu zeigen, ist ein Ziel meines Buches.  Die Mauer ist seit über 20 Jahren weg – und die Dinge stehen ganz anders. Jetzt ist Großbritannien der Kriegshetzer. Großbritannien lebt jetzt in seiner Zeit der Dekadenz – und es wird auch das nächste autoritäre System haben, das dauert natürlich noch…

Verkündet das der Erzengel Gabriel?

Exakt. Der Prozess ist in vollem Gange. Die britische Dekadenz ist unwirklich. Die eigentliche Produktion ist weggebrochen, die reale Wirtschaftskraft ist verloren – und mit ihr die sozialen Werte. In naher Zukunft wird es verdammt eng werden. Es ist vorbei, aber wir sind nicht bereit dafür. 

Ist das aus Ihrer Sicht ein Grund für Unruhen wie die in London?

Die Lage in Großbritannien ist noch schlimmer als in den USA, dort hat man noch weniger Möglichkeiten. Die Regierung hat die Menschen an die Wand genagelt, so dass die Unternehmen uns aussaugen können. Jede Statistik zeigt das. Aber auch in den Staaten passiert etwas Interessantes: Der Immobilienmarkt ist eingebrochen. Doch die Nachfrage nach Immobilien und Grundstücken im Wert von über 75 Millionen Dollar ist größer denn je. Und genau dazwischen ist die Trennline. Selbst reiche Menschen aus der Geschäftswelt und auf Regierungsebene drohen abzustürzen. Natürlich werden sie das nicht hinnehmen. Demgegenüber stehen Menschen aus Familien,  die seit Jahrhunderten Reichtum anhäufen. Einen solchen Charakter verkörpert die Figur Didier in dem Buch. Leute aus solchen Verhältnissen können gar nicht abstürzen. Das ist unmöglich.

Lesen auf der nächsten Seite, wie der Autor deutschen Häftlingen aus seinem Buch vorlas.

Sie haben auch Gefängnisinsassen in Tegel besucht und aus Ihrem neuen Buch vorgelesen. Wie war das Publikum?

Beindruckend. Es waren etwa 15 bis 20 charmante, ältere Herren. Das sind sehr vernünftige und intelligente Menschen. In gewisser Weise  sind auch sie selbst Opfer. Es war seltsam bewegend. Nach der Lesung hatten wir kurz Zeit, im Flur ungestört miteinander zu reden. Sie wussten es zu schätzen, jemanden Neues kennenzulernen, mit dem sie ehrlich sprechen können, ohne dass sie jemand belauscht. Nach fünf bis zehn Minuten kamen aber die Wachen und rissen uns auseinander. Wir konnten uns noch nicht einmal verabschieden. Da reingehen, denen etwas erzählen und dann wieder raus – für mich war das von einem auf den nächsten Moment möglich. Ich konnte ein Taxi nehmen, in einem Restaurant essen und an der Bar das Glas heben. Die können das nicht. Das hat mich die ganze Nacht beschäftigt. Sie werden noch morgen da sein – und auch übermorgen, die nächste Woche, den nächsten Monat und das nächste Jahr. Vielleicht mehrere Jahrzehnte.

Was haben die Insassen Sie gefragt?

Sie hatten die mit Abstand besten Fragen, vor allem pragmatische zum Handwerk des Schreibens: Zum Beispiel, wie ich meinen Roman beginne, mit den Charakteren oder der Geschichte selbst. Manche von den Häftlingen schreiben. Und einige haben wirklich viel geschrieben, möglicherweise viel mehr als ich. Wir haben über den Geist des Schreibens gesprochen, darüber, dass Schreiben eine Erlösung ist, wie ein Fenster, das man öffnen kann. Das Buch kann für sie sprechen und nach außen berichten. Es ist wie ein Fallschirm. Es gibt einem viel Energie, dieses machtvolle Gefühl, nichts zu verlieren zu haben, ernsthaft. In so solchen Momenten merkt man: Das menschliche Leben basiert nicht auf Gut und Böse, Rasse, Reichtum oder Religion, sondern ganz einfach auf Energie. Dieselbe Energie, die uns verrückt macht, nutzen wir beim Schreiben. Ebenso wie sie zerstören kann, bringt sie Geniales hervor.

Und wie ist es für die Insassen, in ihren Zellen über die Welt draußen zu schreiben?

Einer, der für zehn Jahre sitzt, hat mir erzählt, dass er das Internet nicht benutzen darf. Er hat also keinerlei Möglichkeiten, die Geschichte in der realen Außenwelt zu verorten. Er kann nicht einmal die Namen von Straßen oder Plätzen recherchieren. Da er so keine reale Einschätzung von draußen abgeben kann, schreibt er eine Phantasiegeschichte. Er findet, alles andere wäre unehrlich.

Befinden sich diese Männer auch in einer Art Limbus?

Ich denke schon. Viele schienen sich damit abgefunden zu haben, für immer dort zu bleiben. Sie haben alle Ambitionen und Träume aufgegeben, die uns im Alltag umtreiben. 

Ihrem Protagonisten Gabriel geht das ähnlich. Nach seinem Entschluss sich umzubringen, nimmt er die kleinen Probleme des Alltags gelassener. Ist das ein psychologischer Kniff, der Ihnen selbst manchmal hilft?

Ich persönlich lebe nicht so sehr in einem Limbus. Aber ich bin an einem sehr unsicheren Ort aufgewachsen, in Mexico City, wo das Leben unvorhersehbar, merkwürdig und impulsiv ist. Das hat mich gelehrt, die Dinge, aber auch mich selbst nicht zu ernst zu nehmen.
Wir Menschen sollten uns als Spezies nicht so wichtig nehmen und uns selbst objektiver betrachten.  „Wir haben die Theorien an die Wand gefahren“Zweifel ist die bessere Ausgangsposition. Dazu gehört auch sich einzugestehen: Es ist nicht garantiert, dass es ein Morgen gibt. Damit meine ich nicht, dass man sich das Leben nehmen sollte. Aber man sollte sich der Unvorhersehbarkeit des Lebens bewusst sein.

Ist das Leben Suizid, weil man am Ende daran stirbt?

So in etwa. Es ist eine sexuelle übertragbare, tödliche Krankheit. (lacht)

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Finlay. 

Das Interview führte Peter Knobloch. Foto: picture alliance

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