- Was liest...
Die Frage, was ich lese, ist für mich durchaus ambivalent. Denn seit ich vor einigen Jahren für einen absagenden Schauspieler urplötzlich mit einer Thomas-Bernhard-Lesung einzuspringen hatte, lese ich nicht nur Bücher im stillen Kämmerlein, ich lese häufig Bücher, hinter einem Notenpult stehend, öffentlich vor; einige Bücher meines Lese-Repertoires bereits zigmal.
Die Frage, was ich lese, ist für mich durchaus ambivalent. Denn seit ich vor einigen Jahren für einen absagenden Schauspieler urplötzlich mit einer Thomas-Bernhard-Lesung einzuspringen hatte, lese ich nicht nur Bücher im stillen Kämmerlein, ich lese häufig Bücher, hinter einem Notenpult stehend, öffentlich vor; einige Bücher meines Lese-Repertoires bereits zigmal. Auch wenn es arg eitel klingen mag, ich kann dieses Faktum nicht unerwähnt lassen, weil diese permanente Vorlese-Situation, ob ich will oder nicht, die Perspektive meiner täglichen Lektüre seltsam verändert hat.
Ich ertappe mich dabei, Bücher insgeheim unter dem Blickwinkel zu studieren, ob es mich reizen würde, dieses oder jenes Buch nicht auch noch vorzulesen. Mir und der Welt. Mein Interesse an Büchern entwickelt also einen sehr subjektiven, höchst kuriosen Numerus clausus. Natürlich werde ich jetzt gelegentlich spöttisch gefragt, ob mir das nicht unendlich langweilig sei. Eine Frage übrigens, die keinem Musiker gestellt würde. Die Intensität einer Lesung, der doch etliche Proben vorausgehen, die dem Begriff eines Textes nachspüren, vermittelt vielmehr auf besondere Weise Erlebnisse und Erfahrungen mit den Worten der Dichter, durch die Dimension und Eigentümlichkeit eines Werkes noch deutlicher offenbar werden.
Sei es immer wieder
Thomas Bernhard, sei es Imre Kertész, seien es Ulla Berkéwicz,
Dieter Forte, Christoph Ransmayr, Friedrich Achleitner, Max Frisch
oder Hermann Burger, seien es Igor Strawinsky und Arnold Schönberg,
Tolstoj oder Tabori, demnächst vielleicht Stifter und Schnitzler –
die vorlesende Erforschung von Literatur ist für mich tatsächlich
zu einer Art Geistessport geworden (man kann es auch Sucht nennen),
zu einer gedanklichen Atemübung, zu einem qualvoll-lustvollen
Genauigkeits-Training. Es ist wie ein Prüfstand, auf dem sich der
Leser, also der Vorleser, vor der Wahrhaftigkeit der Dichtung
bewähren muss. Sonst schlägt der Text zurück.
Zum Glück gibt es Bücher, die sich jeder Büchersucht entziehen, ja,
sich geradezu verweigern. Bücher, die keinen ungenierten Zugriff
erlauben, nur Staunen: tatsächlich demütiges Staunen. Ein solches
Buch ist «Die verlorene Bibliothek» von Walter Mehring, 1951 in New
York unter dem Titel «The Lost Library» erschienen, 1952 mit dem
Untertitel «Autobibliographie einer Kultur» bei Rowohlt:
Kulturgeschichte, Gesellschaftsdiagnose und sehr persönliche
Erinnerung zugleich. Der Berliner Walter Mehring (1896–1981),
früher und hellsichtiger Warner vor den Nationalsozialisten, dessen
freche Gedichte sogleich auf den Scheiterhaufen der
Bücherverbrennungen geworfen wurden, seit Hitlers Machtergreifung
immer auf der Flucht, konnte die kostbare Bibliothek seines Vaters
gerade noch nach Wien retten. 1938 entkam Walter Mehring nochmals
mit knapper Not den Häschern, verlor aber endgültig jene wundersame
Bibliothek, die all das versammelte, was der in jeder Hinsicht
tödliche Nationalsozialismus zerstören sollte.
Der gebürtige Wiener war Dramaturg in Frankfurt am Main und Basel, danach – immer unter Claus Peymanns Intendanz – in Stuttgart, Bochum und am Wiener Burgtheater. Zur Zeit ist er Künstlerischer Mitarbeiter Peymanns am Berliner Ensemble und auch als glänzender Rezitator – vor allem von Thomas-Bernhard-Texten – viel beschäftigt.
In der Emigration beschwört Mehring Jahre später aus der Erinnerung an seine Leseerlebnisse diese verlorene Bibliothek herauf. Er beschreibt seine Mensch-Werdung durch Bücher. Walter Mehring ersinnt ein sehr persönliches Buch der Bücher, ein Buch aus und in den Büchern. Ein Buch aus allen Büchern aller Bücher. Ein Universalarchiv der Gefühle und des Verstandes. Die Präsenz der Dichtungen, Philosophien, Weltentwürfe ist schier überwältigend. Mehrings Vater erscheint uns durch die Schilderungen seiner Bibliothek wie ein Gerechter vor dem Antlitz aller Bücher. Diesem Vater setzt der Sohn ein Denkmal, indem er dessen Bibliothek, nein, nicht bloß rekonstruiert, sondern vielmehr in ihrer bleibenden Wirkung vergegenwärtigt. Walter Mehring lebt in und aus diesen Büchern heraus.
Sie enthalten die Geschichte Europas und all das, was schon einmal geträumt worden ist. In ihnen sind alle Infamien und Schrecken, die nun brutalste Wirklichkeit werden und ihre Leser zu verschlingen drohen, schon seit Urzeiten aufgeschrieben. Aber auch die humanen Gegenkräfte leuchten aus diesen Büchern und weisen einen Weg. Jedenfalls dem, der lesen will. Walter Mehring hat seine Bücher gelesen und buchstäblich erlebt. Er weckt unweigerlich die große Sehnsucht, diese verlorene Traumbibliothek doch noch einmal zu finden, zu lesen und selbst zu erleben. Das ist das Wunder eines kleinen Buches, das seinesgleichen nicht hat.
Walter Mehring
Die verlorene Bibliothek. Autobibliographie einer
Kultur
Rowohlt, Reinbek 1952. 243 S. (antiquarisch erhältlich)
Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.