Weiße Elefanten - Vor langer Zeit, in den Tagen der Armut

Astrid Lindgren revisited: Eine Biografie und jüngst ausgegrabene Geschichten

Wer ist toller: Pippi Langstrumpf oder Karlsson vom Dach? Kalle Blomquist oder die Kinder von Bullerbü? Schwer zu entscheiden. Wer das Glück hatte, als Kind etwas vorgelesen zu bekommen und dann als Erwachsener selbst zum Vorleser wird, hat die Qual der Wahl: «Die Brüder Löwenherz», «Ronja Räubertochter», «Mio, mein Mio», «Die Kinder aus der Krachma­cherstraße», «Rasmus und der Landstrei­cher» – Astrid Lindgren hat dafür gesorgt, dass die Lieblingsbücher so bald nicht ausgehen. Lange vor Joanne K. Rowling war sie ein Weltstar der Kinderliteratur, übersetzt in 85 Sprachen. Von den 130 Millionen verkauften Exemplaren ihrer Bücher gingen allein in Deutschland 25 Millionen über den Ladentisch. Überhaupt ist Astrid Lindgren hierzulande so populär wie sonst nur in ihrer Heimat; dort wählte man sie 1999 zur beliebtesten Schwedin des Jahrhunderts.

Kein Wunder also, dass die neue «Kinder-Edition» der «Zeit» mit einem Geschichtenband der Erfolgsautorin startete. «Die Puppe Mirabell und andere Geschichten» versammelt Märchen und Erzählungen aus den Jahren 1949 bis 1986, und die Verkaufszahlen scheinen der Herausgeberin Recht zu geben: Bereits die ers­ten sieben Bände der wöchentlich erschei­nenden Reihe verkauften sich 300.000 Mal. Der Astrid-Lindgren-Eröffnungsband allerdings hinterlässt einen zwiespältigen, auch sonderbar staubigen Eindruck.

Verstaubt wirkt vor allem die Sprache mancher Geschichten: «Alle Lieblichkeit des Frühlings überfiel sie im klingenden Hui, tausend kleine Vögel sangen und jubilierten in den Bäumen, es plätscherte in allen Bächen, alle Frühlingsblumen leuch­teten und auf einer Wiese, so grün wie die des Paradieses, spielten Kinder.» Mag man so was wirklich noch lesen? Oder dies: «Oh, sie hatte noch nie ein so wunderbares, ein so wonniges kleines Kind mit so träumerisch blauen Augen unter einem so himmlischen Kirschbaum gesehen!»

Allzu goldig kommen einem solche Beschreibungen heute vor. Wo aber auf das Süßliche verzichtet wird, stellt sich gleich ein radikal anderer Eindruck ein. Inhaltlich verstören nämlich viele dieser Erzählungen durch die Grausamkeit und Aussichtslosigkeit der Kinderschicksale, von denen hier die Rede ist. Besonders krass geht es in «Sonnenau» und «Klingt meine Linde, singt meine Nachtigall?» zu, vor denen Susanne Gaschke im Nachwort warnt: Sie seien «wegen ihres traurigen Stoffes» erst für
ältere Grundschulkinder geeignet. Das sollten Eltern und Erzieher allerdings wissen, bevor sie sich für dies Buch entscheiden – immerhin wird es für Kinder ab fünf Jahren empfohlen.


Einsamkeit, Tod – und kein Trost

«Vor langer Zeit, in den Tagen der Armut», so beginnen beide Geschichten. Sie greifen Stoffe aus der Kindheit der Autorin auf, in der sie selbst zwar ein glückliches «Bullerbü»-Leben führte, die schwedische Gesellschaft aber für verwaiste oder verlassene Kinder nur das Los bettelnder Armenhäus­ler oder schwerstarbeitender Knechte und Mägde bereithielt. Vom elenden Leben solcher Kindersklaven erzählt Lindgren ohne Trost: Sie sterben, eine Rettung gibt es nur durch die magische Kraft der Phantasie; die  aber ist hier nur um den Preis des Todes zu haben.

Vor diesen Texten also wird, was kleine Zuhörer angeht, zu Recht gewarnt. Aber was ist mit «Märit» und «Gute Nacht, Herr Landstreicher»? Auch Märit stirbt, nicht aus sozialer Not, sondern weil sie einem Jungen aus ihrer Klasse das Leben retten will. Das freilich wird von niemandem bemerkt, und zu Hause vermisst sie auch keiner. Schließlich singen die Kinder ihrer Schulklasse feierlich an ihrem Grab; gleich darauf aber finden sie ein Vogelnest – «und dann dachten sie nicht mehr viel an Märit». Ende der Geschichte.

Nun verkraften Fünfjährige zwar die Schilderung von Not und Gefahr ohne weiteres, ein glückliches Ende aber muss auf jeden Fall sein. Das fehlt jedoch leider auch in der Erzählung vom Landstreicher, der eines Abends bei drei Kindern zu Hause auftaucht. Der Mann unterhält sie mit Kunst­stücken, isst mit ihnen und verschwin­det dann still und bedrückt in der eisigen Winterlandschaft. Am Weih­nachtsabend – draußen tobt ein Schneesturm – fällt dem Mädchen inmitten seiner prächtigen Geschenke der Landstreicher wieder ein; sie fragt ihren Bruder, wo der Mann wohl sein könnte. «Sven dachte einen Augenblick nach, während er an seinem Marzipanschwein lutschte. ‹Vielleicht ist er unterwegs im Kirchspiel Locknevi›», antwortet er dann ungerührt. Und aus ist der Text. Vorleser soll­ten sich da besser ein zweites Ende ausdenken, damit die Kinder nicht im Schwarzen hocken bleiben.

Gibt es hier also gar nichts Empfehlenswertes? Doch: In «Nils-Karlsson-Däum­ling» zieht ein Kleinstmensch namens Nisse während des Winters in ein unmöbliertes Mauseloch unter Bertils Zimmer. Dessen Eltern sind den ganzen Tag in der Fabrik, aber Traurigkeit und Einsamkeit haben ein Ende, als Bertil und Nisse sich anfreunden und das kalte Loch nach und nach in ein gemütliches Zimmer verwandeln: Streichhölzer fungieren als Holzscheite, eine abgebrochene Zahnbürste dient als Schrubber, und armselige kleine Essensreste werden zum Festmahl – wunderbar! Vielleicht gefällt dem einen oder anderen ja auch die märchenhaft aus der Erde wachsende Puppe Mirabell oder die Erzählung von den eislaufenden Zwergengeschwistern, die eines Tages in einer Schulklasse auftauchen. Insgesamt aber dürften diese literarischen Ausgrabungen kaum neue Astrid-Lindgren-Fans hervorbringen. Und das ist eigentlich schade.


Ledige Mutter mit Schuldgefühlen

Wer mehr über Leben und Werk dieser erstaunlichen Autorin erfahren möchte, für den hat jetzt Maren Gottschalk eine kleine, erhellende Biografie vorgelegt. «Jenseits von Bullerbü» will auch jene Seiten in diesem langen Leben beleuchten, die Astrid Lindgren selbst stets so freundlich wie entschie­den abschirmte. Im Zentrum steht zunächst die frühe Schwangerschaft der erst 18-jährigen Bauerntochter, die als Volontärin beim Tageblatt in der Kreisstadt arbeitet; Vater des Kindes ist ihr Chef, verheiratet und Familienvater. Wir schreiben das Jahr 1926 und befinden uns in der tiefsten Provinz, da gibt es für die ledige Mutter nur die Flucht nach Stockholm.

Ihr Leben lang, so legt die Biografin nahe, hatte Astrid Lindgren Schuldgefühle, weil sie ihren Sohn Lars drei Jahre lang in einer dänischen Pflegefamilie ließ. Tatsächlich aber hatte sie offenbar keine Wahl, dort war er jedenfalls besser versorgt als andere uneheliche Kinder, die in Waisenheimen vegetierten. Lindgren machte eine Ausbildung zur Sekretärin und sparte ihr kärgliches Einkommen für ihre Besuche in Dänemark: «Tage der Armut» vor der Entstehung des schwedischen Sozialstaates.

Aus dieser Zeit stammt auch Astrid Lindgrens Engagement in sozialen Fragen. Als sie dann Sture Lindgren heiratet, kann sie endlich auch mit ihrem Sohn zusam­men­leben. Für ihre kleine Tochter Karin erfindet sie Pippi Langstrumpf und wird mit 37 Jahren schließlich zur Schriftstellerin – die außerdem als Lektorin mit großem Erfolg die Kinderbuch-Abteilung ihres Verlages aufbaute.

Maren Gottschalk gelingt es, diese umwegige Lebensgeschichte immer wieder auf die sehr unterschiedlichen Themen der Romane Astrid Lindgrens zu beziehen. Und sie zeigt Astrid Lindgren als politische Aktivistin mit großem Einfluss: Vom Eintreten gegen den Vietnamkrieg bis zur Ablehnung der Atomenergie spannt sich der Bogen ihrer Interventionen. Das schwedische Tierschutzgesetz wird im Volksmund «Lex Lindgren» genannt, das 1979 in Schwe­den erlassene Verbot der Prügelstrafe und anderer Formen elterlicher Gewalt gegen Kinder wird auf Astrid Lindgrens Einsatz für Kinderrechte zurückgeführt. Da wäre im internationalen Maßstab doch auch für Frau Funke oder Frau Rowling noch dies und das zu tun.

 

Astrid Lindgren
Die Puppe Mirabell und andere Geschichten
Hg. von Susanne Gaschke. Aus dem Schwedischen von Anna-Liese Kornitzky und Karl Kurt Peters. Zeitverlag, Hamburg 2006. 192 S., 8,50 €

Maren Gottschalk
Jenseits von Bullerbü. Die Lebens­geschichte der Astrid Lindgren
Beltz & Gelberg, Weinheim 2006. 198 S., 16,90 €

 

Wenn die Katzen älter werden, haben sie nicht nur Sehbeschwerden: Das Gehen fällt nicht mehr so leicht, das Aufstehen wird zum Problem, sogar das Kochen. Und natürlich tanzen die Mäuse derweil auf dem Tisch oder machen es sich vor dem Fern­seher ge­mütlich. Über die seltsamen Allianzen zwischen alter Katz und jugendlicher Maus erfährt man in Martin Karaus und Isabel Pins «Wenn die Katzen älter werden» so einiges, woran man zuvor noch nie gedacht hat: Mäusemädel bekocht Katzen-Methusalem! Das lässt doch hoffen (Aufbau, Berlin 2006. 24 S., 12,50 €).

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