- Die Kunst der Kapitulation
Der Historiker Holger Afflerbach fragt sich in seinem Buch, ob es im Krieg eine unsichtbare, mäßigende Kraft gibt, die die Kriegsparteien vor der gegenseitigen Ausrottung bewahrt
Im Juni 1916 schrieb ein britischer Soldat in sein Tagebuch: «Da sah ich einen Hunnen, einen ziemlich jungen Mann. Er rannte den Schützengraben hinunter, hatte die Hände in der Luft; er sah verängstigt aus und winselte um Gnade. Ich erschoss ihn sofort. Es war himmlisch, ihn vorwärts fallen zu sehen.» Im Dezember 1917 musste Ernst Jüngers Kompanie einen Graben stürmen. Nach dem Kampf notierte Jünger: «Die Engländer ergaben sich durch Zurufe. Mit hocherhobenen Händen kamen sie einer nach dem anderen durch den Graben. Es waren stramme Kerle in guten Uniformen. Der Zug wollte gar kein Ende nehmen. Merkwürdig war der Umschwung der Stimmung. Eben noch waren vernichtende Wurfgeschosse gewechselt, jetzt lachte und scherzte Alles friedlich miteinander. Unsere Leute gingen sehr rücksichtsvoll mit den Gefangenen um.»
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Wir können aus diesen beiden Berichten über das Kampfgeschehen des Ersten Weltkrieges eines nicht schließen: dass die Deutschen ritterlich, die Engländer dagegen mordlustig gewesen seien. Denn es gibt ebenso viele Berichte, in denen die Rollen umgekehrt verteilt sind. Wir lernen aus ihnen allerdings anschaulich, dass das Aufhören im Krieg für den Kämpfer eine schwierige Sache ist. Es ist riskant, es kann den Tod bringen oder das Leben retten. Es ist womöglich so, dass sich in modernen Kriegen die Kombattanten an die Regeln des Kriegsvölkerrechts halten, das sich im 19. Jahrhundert herausbildete. Sicher ist das im Gefecht nicht. Was veranlasst einen Soldaten, einen Kriegsgefangenen zu schonen, der ja, wie Winston Churchill einmal schrieb, nichts anderes ist als ein «Mann, der versucht, Dich zu töten, es nicht schafft und dann bittet, dass Du ihn nicht tötest»?
Auch Soldaten, die in aussichtsloser Lage den Tod vor Augen haben, fällt es meist schwer, sich zu ergeben. Schließlich der letzte Schritt, das nackte Leben zu retten, lebensgefährlich. Aus friedlich-ziviler Perspektive ist nicht ohne Weiteres zu verstehen, warum ein Soldat unter Einsatz seines Lebens kämpft. Über Tapferkeit, Soldatenehre, militärische Disziplin und das Handwerk des Krieges ist viel geschrieben worden. Ebenso erstaunlich und erklärungsbedürftig ist aber auch das Aufhören, die Kapitulation, das Eingestehen der Niederlage.
Mit diesem «archimedischen Punkt» des Krieges beschäftigt sich der Historiker Holger Afflerbach. Er schlägt einen Bogen von der Steinzeit bis zur Gegenwart und fragt sich, ob im Krieg, ähnlich wie es der Nationalökonom Adam Smith für die Marktökonomie konstatierte, eine «unsichtbare Hand» wirke, also eine Macht, welche die auf gegenseitige Vernichtung programmierten Akteure zur Mäßigung bringt, eine Macht, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.
Um es vorweg zu nehmen: Die Analogie ist ziemlich schief, weil im Krieg nicht wie auf dem Markt eigennützige Individuen, sondern bewaffnete Kollektive interagieren, die machtpolitische und/oder ideologische Ziele verfolgen. Das liberale Credo lautet hingegen, dass der ungebremste Eigennutz des Einzelnen das Gemeinwohl hervorbringe. Es lehnt deshalb eine Einhegung dieses Eigennutzes ab. Im Krieg liegt es zwar oft im wohl verstandenen Interesse des Siegers, Milde gegenüber den Besiegten walten zu lassen. Doch so etwas wie eine immanente Humanisierung der Kriegführung lässt sich daraus nicht ableiten. Sie könnte überhaupt nur daher rühren, dass Gesellschaften, also die Öffentlichkeiten Krieg führender Parteien den militärischen Akteuren Schranken setzen. Oder eben auch nicht. Eine «unsichtbare Hand» ist nicht dafür verantwortlich, dass heute zum Beispiel keine Demokratie mehr Guerilla-Kämpfer und die sie tragende Bevölkerung mit Napalm bekämpfen kann, wie einst die USA in Vietnam. Und was den Markt angeht, so wäre hier dann doch vielleicht anzumerken, dass wir Kündigungsschutz und Mitbestimmung ebenso wenig einer unsichtbaren Hand zu verdanken haben.
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Es schmälert den Wert der Studie Afflerbachs aber nicht im Geringsten, dass ihr theoretischer Ansatz etwas schief geraten ist. Man verliert ihn nach der Einleitung auch schnell aus dem Sinn, weil die Fülle des ausgebreiteten Materials sich ohnehin dagegen sträubt, in ein simples Paradigma eingepfercht zu werden. Im Krieg ist die Ausnahme die Regel. Jede generalisierende Aussage lässt sich durch Gegenbeispiele konterkarieren. Archäologie und Frühgeschichte geben beredtes Zeugnis davon, dass der Krieg zwischen den vorstaatlichen Gemeinschaften der Steinzeit ein ungezügeltes Rauben und Morden war. Die besiegten Männer wurden erschlagen, Frauen und Kinder geraubt. Aber die Ethnologie weiß auch von hoch ritualisierten Kämpfen zwischen «primitiven» Stämmen, bei denen kein oder nur wenig Blut vergossen wird. Sicher scheint nur zu sein, dass die Menschheit den Krieg nicht loswird, aber nur deshalb noch existiert, weil sie gelernt hat, ihn immer wieder zu beenden.
Holger Afflerbach: Die Kunst der Niederlage. Eine Geschichte der Kapitulation. C. H. Beck, München 2013. 320 S., 14,95 €
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