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(picture alliance) Kennt sie den Weg aus der Krise?

Gauck, Merkel und der Euro - Kreml-Astrologie in Berlin

Mehr Erklärungen hat Joachim Gauck der Kanzlerin empfohlen. Prompt erscheint ein Text von Ulrich Wilhelm, Merkels ehemaligem Regierungssprecher, in der FAZ und skizziert Europa am Scheideweg. Wie es früher beim Moskauer Kreml üblich war, betreibt Ulrich Wilhelm heute Kanzleramtsastrologie

Natürlich fehlt es in der Europa-Debatte an triftigen „Erklärungen“ von Seiten der Kanzlerin. Bundespräsident Joachim Gauck hat es wahrlich nicht verdient, dass ihm aus einer solchen Bemerkung ein Strick gedreht und unterstellt wird, er habe die Kanzlerin kritisiert. Er hat es hilfreich gemeint, dass sie und er unterschiedliche Rollen haben, die Kanzlerin die ungleich schwierigere, und er sein Amt so verstehe, wo er könne zur „Erklärung“ mit beizutragen. Wer Gauck nicht vollends mundtot oder zu einem Heinrich-Lübke-ähnlichen Präsidenten degradieren will, sollte ihn eher ermutigen, sich weiter klug dosiert einzumischen.

Aber hier geht es mir in erster Linie gar nicht um Gauck, sondern um die Kanzlerin und die Frage, was es mit den mangelnden „Erklärungen“ auf sich hat. Natürlich erläutert sie unermüdlich, was sie macht. Und trotzdem wird nicht klar, wohin die Reise gehen soll in Europa – und es soll auch nicht klar werden. Mal deutet sie kurz an, dass sie nicht einmal ein solches Instrument wie Eurobonds ausschließt, dann verkündet sie wieder, zu ihren Lebzeiten werde es die nicht geben. So geht das permanent. Uns Journalisten und die interessierte Öffentlichkeit zwingt das zu einer Art Kanzleramtsastrologie, so wie man früher Kremlastrologe sein musste, um zu erforschen, was hinter den hohen Mauern der sowjetischen Machtzentrale gedacht und geplant werde. Heute könnte man in Berlin getrost ähnlich von Kanzleramtsastrologie sprechen.

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Da man nicht annähernd offen und ehrlich Auskunft über den Kurs in Sachen Europa erhält, ja sogar mit der Formel von der „Politik der kleinen Schritte“ suggeriert wird, es gebe nicht einmal eine eindeutige und kontinuierlich verfolgte Richtung, bleibt man auf das Deuten der Sternzeichen am Firmament angewiesen. In der alten, schönen, langweiligen Demokratie war das irgendwie besser: Da wusste man in der Regel, dass einer A meint, wenn er A sagt, Helmut Schmidt beispielsweise, auch Helmut Kohl, oder es war „basta!“ gemeint, wenn einer „basta!“ donnerte wie Gerhard Schröder. Selbst wenn der Kölner Kanzlerpatriarch Konrad Adenauer als guter Katholik wissen ließ, als Politiker müsse man mit der Wahrheit „net pingelig“ sein, konnte man sich irgendwie zuverlässig auf das Unwahrhaftige einstellen.

Vergangene Zeiten! Gäbe es dieses Rätselraten über Berlin und Angela Merkel nicht, wäre auch der Aufsatz nicht nötig gewesen, den Ulrich Wilhelm für das Feuilleton der FAZ geschrieben hat. Ein fulminanter Text, der mit der Losung betitelt war: „Gebt Souveränität ab!“ Erschienen ist er gerade noch vor der heutigen öffentlichen Verhandlung des Verfassungsgerichts über die Eilverfahren, die gegen den Fiskalpakt und den dauerhaften Rettungsmechanismus unter dem Kürzel ESM angestrengt worden sind. Man muss dazu wissen, dass Ulrich Wilhelm – inzwischen Intendant des Bayrischen Rundfunks - von 2005 bis 2010 Sprecher der Bundesregierung und als einer der wenigen, sehr engen Vertrauten von Bundeskanzlerin Angela Merkel galt. In Berlin ist es ein offenes Geheimnis, dass die beiden weiter miteinander in Kontakt stehen – obwohl Wilhelm viel zu klug ist, um sich je damit zu illuminieren. Das Frankfurter Blatt hat den Text zudem mit einem symbolkräftigen Foto versehen, auf dem die beiden, Merkel und Wilhelm, dem Betrachter den Rücken zukehren und Kopf an Kopf alleine sinnierend durch das Kanzleramt schlendern. Durch den Berliner Kreml, sagen wir mal.

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Was Gauck nicht moniert hat, muss man an dieser Stelle sagen: Der Kanzlerin mit Vorliebe für das SMS-Format wird mit Recht vorgehalten, sie spreche in Brüssel anders als vor heimischem Publikum, wo sie die unnachgiebige Maggie Thatcher abgibt, die all den südeuropäischen Schulden-Sündern strengste Vorgaben macht und ganz Europa unter deutsche Haushaltskontrolle stellt. Mit diesem Doppel-Sprech ist sie aber spätestens an eine Grenze gestoßen, seit der Italiener Mario Monti, ein ausgebuffter Politikprofi mit Brüssel-Erfahrung im eleganten „Technokraten“-Anzug, nach dem jüngsten Euro-Gipfel resümierte, der verehrten deutschen Kollegin große Kompromisse abgerungen zu haben auf dem Weg zu einer Haftungsgemeinschaft, von der sie nichts wissen will. Er sah sich als „Sieger“ – und das war ja nicht falsch.

In diese Phase platzt nun der Text von Ulrich Wilhelm, mit dem offenkundig schon einmal deponiert werden soll, was die Kanzlerin selber nicht – oder noch nicht – aussprechen möchte. Europa als Integrationsmodell stehe am Scheideweg, urteilt Wilhelm. In Regierungen und Unternehmen auf allen Erdteilen werde das offen ausgesprochen, schreibt er (ohne hinzuzufügen: nur bei uns nicht). Drei Handlungsoptionen blieben: „Schwerer Missbrauch der Europäischen Zentralbank (EZB), Scheitern der Währungsunion in ihrer heutigen Konstellation oder der Weg in die Politische Union.“

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Seine Präferenz gehört Nummer drei. Europa, fährt er daher fort, müsse eine „klare Antwort“ finden auf die Frage, die hinter den Zweifeln an der Überlebensfähigkeit des Euro steht – „ist Europa eine wirkliche Gemeinschaft?“ „Erst wenn diese Frage beantwortet ist, werden die Wetten auf den Zerfall der Währungsunion scheitern.“ Und natürlich plädiert er exakt für diese positive Antwort. „Viele Regierungen“ wollten das aber nicht einmal diskutieren, da sie eine solche „wirkliche Gemeinschaft“ bei ihren Bürgern für nicht durchsetzbar halten. Sie führten nicht einmal die Diskussion darüber. Dagegen befürwortet er explizit eine politische Union, die Souveränität auf ein gemeinsames Europa überträgt und nur so die notwendige gewaltige Solidaritätsleistung stemmen kann. „Der Versuch, sich durchzulavieren mit punktuellen Rettungsmaßnahmen“, heißt es dann sogar noch zugespitzt, „ist keine befriedigende Antwort“. Das meint Merkel, ohne sie beim Namen zu nennen.

In eine ähnliche Richtung hatte jüngst bereits Wolfgang Schäuble gedacht und davon gesprochen, möglicherweise müsse bald schon in einem Plebiszit entschieden werden, ob wir bereit seien, bislang nationale Kernbereiche der Politik an die EU zu übertragen. Im Sinne des Finanzministers argumentierte zudem auch die Arbeitsministerin und stellvertretende CDU-Vorsitzende Ursula von der Leyen im Spiegel: Die Krise lege den Finger in die Wunde, so ihre etwas schräge Metapher, und diese Wunde sage „bewegt euch!“. Konkret wird sie dann allerdings nur mit dem Vorschlag, man müsse zugunsten einer gemeinsamen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik Kompetenzen an die Brüsseler Kommission abgeben; das Budget hingegen bleibe eine nationale Aufgabe, und ein gemeinsamer Finanzminister habe vor allem darauf zu achten, dass kein Land über seine Verhältnisse Schulden macht.

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Das geht über die Kanzlerin zwar andeutend hinaus, aber orientiert sich an der Grundmelodie, die man auch von Angela Merkel so oft zu hören bekommt. Man spürt: Viele innerhalb der Regierung drängen auf eine Art Neustart. Weiter, unmissverständlicher, konsequenter als Frau von der Leyen und Wolfgang Schäuble hingegen treibt Ulrich Wilhelm seine Analyse der Gründe, weshalb die Politik – von Berlin dominiert, was er nicht sagt, aber weiß – letztlich stecken geblieben ist und die kleinen Schritte nicht reichen. Als Intendant und Ex-Sprecher ist er natürlich auch freier. Aber selbst er hütet sich, mit Siebenmeilenstiefeln davonzueilen, er will ja politisch helfen. Mir scheint sogar, er spielt über Bande: Der Autor möchte – vermutlich mit Wissen der Zarin (Merkel) hinter den hohen Mauern – das Unaussprechliche stellvertretend für sie aussprechen, auch wenn er es noch mit vielen Versatzstücken garniert, die zur bisherigen Berliner Rhetorik gehörten. Die Einführung einer Schuldenunion ohne Politische Union dürfe es nicht geben, eine Gemeinschaftshaftung ohne Kontrolle sei kein tragfähiges Modell, darauf besteht auch er. Oder er schreibt, man müsse in „Geber“- und „Nehmerländer“ unterteilen, was den üblichen Eindruck erweckt, als seien die Deutschen ewig nur Zahlmeister und nicht in Wahrheit die großen Europa-, Euro- und schließlich sogar Krisen-Profiteure gewesen.

Und dennoch: Mit diesem Plädoyer wird eindeutig eine andere Europäische Union vorbereitet. Unmissverständlich spricht er aus, dass die „Idee der Integration“ verteidigenswert sei, auch wenn die Lasten für einige „Geberländer“ exorbitante Höhen erreichen und die „Nehmerländer“ schwer durchsetzbare Einsparungen erbringen müssen. Ein Europa also wird da skizziert, in dem es eine klare Solidaritätsverpflichtung gibt - in unserem wohlverstandenen Interesse. Ja, unwidersprochen bleibt nicht einmal die schlichte, allzu schlichte These aus dem Kanzleramt, die sich kartoffelkäferartig durch das gesamte öffentliche Meinungsfeld gefressen hat, allein die mutwillige mediterrane Verschuldungsmentalität habe in die Krise geführt. Ulrich Wilhelm dazu lakonisch: „In der Folge der Lehman-Krise Ende 2008 veränderten die Finanzmärkte die bisherige Bewertung der Eurozone und stellten in ihren Analysen die Ungleichgewichte und die auseinanderklaffende Wettbewerbsfähigkeit immer mehr in den Vordergrund.“ Stimmt! Und bis dahin war ihnen die Höhe der Verschuldung egal, kann man nur hinzufügen. Nur hat es die vormalige Chefin Wilhelms, die Kanzlerin, nie so artikuliert.

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Schon wahr, eine Schwalbe macht noch keinen Sommer: Ein Ulrich Wilhelm wird nicht erreichen, dass die Kanzlerin – von der deutschen Mehrheit wegen ihrer Führungsstrenge geschätzt, sogar von US-Kandidat Mitt Romney bewundert, denn „Solidarität“ schreibt sie klein und „hilf dir selbst, dann hilft dir Gott!“ groß – sich zu einer drastischen Kurskorrektur bekennt oder auch nur Ziele und Wege eindeutig definiert. Sie wird auch nicht einräumen, mit ihrer Politik in einer Sackgasse gestrandet zu sein.

Tatsächlich hat der Autor ihr in der FAZ auf intelligente Weise zumindest ein Hintertürchen geöffnet und klar gemacht, worum es hinter den Kanzleramtsmauern auch in der „Sommerpause“ geht, auch wenn das öffentlich beschwiegen wird. Er kann leichter eingestehen als sie, dass das Durchlavieren nicht weiterhilft. Mehr noch: Ganz nebenbei, hat er – auch das über Bande – Horst Seehofer und seine eigene Partei, die CSU, vor der Versuchung gewarnt, mit Ressentiments gegen das Fass-ohne-Boden-Europa oder die laxen Südeuropäer einen populistischen Sarrazin-Wahlkampf zu führen. Ob mit Erfolg, wird man sehen. Einen Beitrag zur Klärung also hat er allemal geliefert. Ob hinter den Kremlmauern an der Willy-Brandt-Straße Nr. 1 in Wilhelms Richtung gedacht wird? Wer weiß das schon. Noch bleiben wir angewiesen auf Astrologie.

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