- „Koch und Kellner? Das war mal!“
Gipfeltreffen: Der SPD-Chef und der Fraktionsvorsitzende der Grünen setzen ein gutes Jahr vor der Bundestagswahl den Grundstein für eine Neuauflage von Rot-Grün im Bund. Sigmar Gabriel und Jürgen Trittin über die Ursachen der Krise, den marktradikalen Neoliberalismus und zu sparsame Friseurbesuche
Herr Gabriel, was schätzen Sie an Ihrem Kollegen Jürgen
Trittin?
Sigmar Gabriel: Seinen Humor, auch wenn er sich gegen mich
richtet. Und seine absolute Verlässlichkeit.
Und umgekehrt, Herr Trittin?
Jürgen Trittin: Sigmar Gabriel ist ein Homo politicus, wie
er im Buche steht. Und ich kann mich, was seine Verlässlichkeit
angeht, nicht beklagen.
Warum haben Sie sich dann in der Vergangenheit so böse
Sätze um die Ohren gehauen? Herr Gabriel, Sie haben Trittins Grüne
als Bionade- oder Latte-macchiato-Partei verspottet. Und Sie, Herr
Trittin, haben sich Belehrungen durch Sigmar Gabriel
verbeten.
Trittin: Wahr ist, wenn Sigmar Gabriel öfter bei
McDonald’s wäre, wüsste er, dass es dort mittlerweile Bionade wie
Latte Macchiato gibt.
Gabriel: Dann hätte ich das natürlich nicht zu sagen
gewagt.
Sie wollen gemeinsam im nächsten Jahr die schwarz-gelbe
Regierung unter Angela Merkel ablösen. Können Sie, Herr Trittin,
sich vorstellen, Vizekanzler unter Sigmar Gabriel zu
sein?
Trittin: Ich habe mir schon 1998, bevor wir die
schwarz-gelbe Regierung von Helmut Kohl abgelöst haben, keine
Gedanken darüber gemacht, was ich selbst werden könnte. Es war
damals klar, dass schwierige Aufgaben vor uns liegen – und heute
haben wir eine ähnliche Situation. Derzeit erleben wir ja eine
allmähliche Abwahl von Schwarz-Gelb im Bund über die
Länderparlamente, und jetzt müssen wir uns auf das konzentrieren,
was ansteht. Dass der Parteivorsitzende der SPD genauso wie der
Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen eine Rolle spielt,
ist doch klar.
[gallery:Die SPD sucht einen Kanzlerkandidaten – das Casting in Bildern]
Die Frage war aber, ob Sie beide auch menschlich
miteinander klarkämen – als Koch und Kellner nämlich, wie Gerhard
Schröder seinerzeit die Rollenteilung von Rot-Grün
festlegte.
Trittin: Im Wortsinn – also in der Küche – bin ich wohl
der bessere Koch als Sigmar Gabriel.
Gabriel: Und ich der bessere Esser, wie man leider sieht.
Aber im Ernst: Koalitionen werden geschlossen auf Augenhöhe, da
helfen Koch-Kellner-Vergleiche nicht weiter. Und zwar unabhängig
davon, wie die Größenunterschiede der koalierenden Parteien sind.
Weil nämlich keiner ohne den anderen kann. Im Übrigen funktionieren
Koalitionen auch besser, wenn man sich Metaphern von wegen Koch und
Kellner erspart. Was zählt, sind die politischen Gemeinsamkeiten,
und da ist die Schnittmenge zwischen SPD und den Grünen sehr
groß.
Aber gerade in der SPD halten viele Genossen die Grünen
doch für klassische Juniorpartner.
Gabriel: Die SPD ist für eine Mehrheit jenseits der Union
das strategische Zentrum. Das ändert aber nichts daran, dass die
Grünen keine Teilmenge der SPD sind. Es stimmt: Einige wenige bei
uns halten die Grünen für so etwas wie die Kinder der
Sozialdemokratie. Das ist natürlich falsch, denn die Grünen haben
eine völlig andere Entstehungsgeschichte als wir. Es gibt nicht
wenige, die aus der SPD zu den Grünen gewechselt sind; trotzdem
sind die Grünen weit mehr als eine Abspaltung der SPD, die man
einfach nur mal wieder auf den richtigen Weg bringen müsse.
Trittin: Dass die SPD das inzwischen begriffen hat, macht
es übrigens leichter. Schauen Sie doch einfach nur mal auf die
vielen rot-grünen Landesregierungen, in denen – ungeachtet von
Konflikten – kollegial und vertrauensvoll zusammengearbeitet wird.
Das war nicht immer so.
Haben Sie eigentlich eine Präferenz in Sachen
Kanzlerkandidat der SPD, Herr Trittin?
Trittin: Nein, das muss die SPD für sich entscheiden. Wir
als Grüne würden uns umgekehrt auch verbitten, dass sich
Sozialdemokraten in unsere Personalentscheidungen einmischen.
Seite 2: Was Rot-Grün zur Bewältigung der Eurokrise vorschlägt…
Und Sie, Herr Gabriel, akzeptieren das Spitzenpersonal
der Grünen auch so, wie es eben kommt?
Gabriel: Das ist doch völlig klar. Was zählt, sind die
politischen Gemeinsamkeiten. Über personelle Konstellationen
entscheidet jede Partei allein.
Dann reden wir doch jetzt über Inhalte. Was würde
Rot-Grün zum Beispiel zur Bewältigung der Eurokrise anders machen
als Schwarz-Gelb? Sie haben doch bisher immer brav
mitgestimmt.
Trittin: Da habe ich aber eine andere Erinnerung. Ich habe
schon 2010 im Landtagswahlkampf in Nordrhein-Westfalen auf
Marktplätzen dazu aufgerufen, Griechenland in einer schwierigen
Situation zu helfen – während die schwarz-gelbe Koalition die
Parole „Keinen Cent für Griechenland“ ausgab. Am Tag nach der Wahl
ist die Kanzlerin eingeschwenkt. Wir haben uns frühzeitig für einen
dauerhaften europäischen Stabilisierungsmechanismus starkgemacht –
für den Angela Merkel übrigens bis heute keine eigene Mehrheit
aufbringt. Am Ende ist es doch so, dass sie sich unsere Positionen
zu eigen gemacht hat. Und dann sollen wir gegen unsere eigenen
Überzeugungen kämpfen?
Gabriel: SPD und Grüne sind sich darin einig, dass die
Ursache der Krise nicht darin besteht, dass die Menschen in Europa
alle über ihre Verhältnisse gelebt haben. Deshalb lehnen beide
Parteien die klassisch marktradikalen Lösungsversuche von Union und
FDP auch ab. Und mit jedem Tag zeigt sich deutlicher, wie
verheerend Merkels Spardiktat ist. Die Krise wird dadurch nur noch
schlimmer. Man kann die Menschen in den von der Krise besonders
betroffenen Ländern nicht einfach sich selbst überlassen. Natürlich
müssen dort teilweise staatliche Strukturen neu aufgebaut und
Arbeitsmärkte verändert werden; aber man darf die Bevölkerung
darüber nicht in absolute Unsicherheit stürzen. Am Ende des Tages
sind SPD und Grüne die beiden Parteien, die einerseits wissen, dass
das Zeitalter des marktradikalen Neoliberalismus vorbei ist – und
die andererseits nicht staatsgläubig sind.
Worin sehen Sie denn die eigentliche Ursache der
Krise?
Trittin: Ich glaube, wir erleben derzeit einen
systemischen Konflikt zwischen dem Anspruch auf demokratische
Teilhabe einerseits und dem kapitalistischen Grundprinzip der
maximalen privaten Aneignung andererseits. Der Widerspruch zwischen
diesen beiden Polen konnte lange Zeit durch sehr hohe
Wachstumsraten überdeckt werden. Aber seit 20 oder 30 Jahren werden
diese Wachstumsraten in keiner kapitalistischen Gesellschaft mehr
erreicht. Deshalb wurde nach Auswegen gesucht, von Inflation bis
Staatsverschuldung. Oder wie etwa in den Vereinigten Staaten durch
die Verschuldung der privaten Haushalte. Alle diese Modelle sind in
der Finanzkrise 2008 zusammengebrochen.
[video:Schlacht gewonnen, Thema verloren - Die Grünen ohne Atomenergie]
Sie stellen die Systemfrage.
Trittin: Ja, es ist eine Systemfrage. Wir werden diese
Entwicklung weder ausschließlich durch Wachstum noch durch Schulden
in den Griff bekommen. Sondern durch Nachhaltigkeit, durch
nachhaltige Finanzierung – auch durch höhere Staatseinnahmen. Das
wird nicht ohne eine höhere Staatsquote funktionieren. Wir brauchen
einen Staat, der schlank ist, aber leistungsfähig.
Höhere Staatsquote, ist das auch Ihr Ziel, Herr
Gabriel?
Gabriel: Zunächst einmal halte ich es für unausweichlich,
dass Deutschland künftig stärker in die Währungsunion investiert.
Und zwar einen Teil dessen, was wir aus der europäischen
Währungsunion gewinnen – seit es sie gibt, sind es eine Billion
Euro, die wir mehr eingenommen als ausgegeben haben. Eine der
Ursachen ist das große wirtschaftliche Ungleichgewicht in Europa.
Wir haben ja durchaus auch eine „Transferunion“ aus Europa nach
Deutschland, denn die Europäer kaufen unsere Produkte. Wir wollen
im Export so gut bleiben, wie wir sind, aber wir müssen auch bereit
sein, einen Teil dieser Überschüsse wieder in Europa zu
investieren. Zweitens müssen auch hierzulande die sozialen
Ungleichgewichte wieder verringert werden, damit bei uns die
Kaufkraft gestärkt wird. Es geht heute aber vor allem um die Frage:
Was soll wachsen, und was soll schrumpfen? Schrumpfen muss der
Ressourcenverbrauch. Was muss wachsen? Investitionen in Bildung!
Sie haben vorher gefragt: Wo hat Rot-Grün Gemeinsamkeiten?
Nirgendwo sind die Gemeinsamkeiten so groß wie im Zusammenhang mit
Bildung und Investitionen in Bildung. Wir sind beide der
Überzeugung, dass das Kooperationsverbot in der Verfassung, also
ein Verbot der gemeinsamen Finanzierung von Bildungseinrichtungen
durch Bund und Länder, falsch ist. Und dass wir wesentlich mehr
Geld investieren müssen, 20 Milliarden mehr etwa.
Trittin: Beim Kooperationsverbot mussten wir euch erst zur
Vernunft bringen!
Gabriel: Stimmt leider. Aber die Verfassung ändern reicht
nicht. Wir werden mindestens 20 Milliarden Euro mehr für Bildung in
die Hand nehmen müssen.
Seite 3: Rot-Grün will Steuern anheben und die Staatsquote ausweiten…
Ist das schon das erste Projekt für eine etwaige
rot-grüne Regierung 2013?
Gabriel: Ich würde jedenfalls damit in die
Koalitionsverhandlungen gehen. Und wir gehen noch weiter: Die SPD
sagt: Jawohl, wir müssen Steuern erhöhen, um die Investitionen in
Bildung bezahlen zu können. Und wir werden das so tun, dass das
diejenigen machen, denen es besonders gut geht.
Also die Vermögensteuer wieder einführen?
Gabriel: Eine Möglichkeit. Eine weitere ist der
Spitzensteuersatz. Jedenfalls wollen wir normale Arbeitseinkommen
nicht höher besteuern.
Trittin: Die Leute wissen ganz genau, dass das so nicht
weitergeht. Sie erleben es doch. In Nordrhein-Westfalen zum
Beispiel gibt es noch acht Kommunen, die Überschuss erwirtschaften.
Dort haben die Kommunen Kassenkredite aufgenommen, die sich im Jahr
auf 22 Milliarden Euro belaufen. Das heißt, die Kommunen können
ihren gesetzlich zugewiesenen Aufgaben nicht mehr nachkommen. Es
geht nicht um Luxusbäder oder pompöse Stadthallen, sondern um die
Grundversorgung. Das ist die Lage! Und da rede ich noch gar nicht
von dem Investitionsstau, den jeder am Zustand der Schulen und
Straßen ablesen kann.
Gabriel: Die Städte verkommen, an manchen Stellen bilden
sich Ghettos.
Trittin: Wir sind in einer Lebenslüge gefangen, die
behauptet, man könnte das, was wir alle wollen, nämlich ordentliche
Straßen, gute Schulen und Kitas, ausreichend Polizei, sauberes
Wasser, Müllabfuhr, noch gewährleisten, ohne dass sich etwas ändern
müsste. Das ist aber nicht der Fall.
Rot-Grün hebt Steuern an und weitet die Staatsquote aus
– viel Spaß im Wahlkampf!
Gabriel: Im Wahlkampf wird die Merkel-Koalition sagen: Wir
wollen mehr für Bildung ausgeben. Wir wollen unsere Städte und
Gemeinden sanieren. Und dann sagt sie auch: Wir wollen Schulden
abbauen – und wir wollen Steuern senken. Das alles gemeinsam zu
versprechen, ist Wählerbetrug mit Ansage. Eine Quadratur des
Kreises gibt es nicht. Ich bin der festen Überzeugung, dass die
Menschen?…
Trittin: …? Die glauben das nicht mehr.
Gabriel: Genau: dass die Menschen das nicht mehr glauben
und dass sie eine ehrliche Antwort darauf haben wollen. Es gibt
zwei Möglichkeiten: Entweder, man verzichtet darauf, in Bildung zu
investieren, lässt die Städte und Gemeinden weiter verkommen, dann
kann man möglicherweise kurzfristig die Steuern senken – auch wenn
das langfristig zu erheblichen Mehrkosten führt. Aber beides
zusammen – investieren einerseits und Steuern senken auf der
anderen Seite –, das geht nicht, und das spürt inzwischen auch
jeder.
[gallery:Die SPD sucht einen Kanzlerkandidaten – das Casting in Bildern]
Steuern hoch oder runter, das wird also die Frage 2013
sein?
Gabriel: Die Lage unserer Städte und Gemeinden ist mehr
als ein Finanzproblem. Es ist ein gesellschaftliches Problem. Wenn
die Städte verwahrlosen, dann verwahrlost die Gesellschaft. Die
Menschen wollen eine Heimat, eine lebenswerte Heimat, und wenn sie
die nicht mehr haben, dann werden sie die notwendigen Veränderungen
nicht mitmachen. Wenn in Mecklenburg-Vorpommern die NPD
Kinderbetreuung anbietet, die die Kommunen nicht mehr finanzieren
können, dann merken Sie doch, dass es lichterloh brennt. Ich kann
nicht so tun, als koste das alles kein Geld, und die Frage
offenlassen, wie das bezahlt werden wird. Das geht nur mit einer
faireren Lastenverteilung in dieser Gesellschaft, die wir verloren
haben – auch durch die SPD in Regierungsverantwortung, jawohl. Die
Senkung des Spitzensteuersatzes von 53 Prozent bei Kohl auf 42
Prozent bei Schröder war ein Fehler, den wir revidieren müssen.
Trittin: Sie brauchen einen Mix von Einsparungen,
Subventionskürzungen und Einnahmeverbesserungen. Die Leute sind es
leid, dass ihnen vom Pferd erzählt wird. Ein Beispiel: Wir haben in
Göttingen die Bürgerinnen und Bürger zu einem Entschuldungspakt
befragt. Natürlich hatten wir Angst, denn es ging ums Eingemachte:
Welche Schwimmbäder brauchen wir, wie viel Zuschuss kriegen die
Händel-Festpiele? Sollen wir die Grundsteuer erhöhen? Und siehe da:
Am Ende hat die Bevölkerung gesagt: Ja, wir wollen diesen
Entschuldungspakt, dafür sind Einschnitte nötig, aber dafür muss
auch mehr Geld reinkommen. Die Menschen sind da viel weiter, als
viele ideologische Bornierte in der Politik glauben. Es geht
deshalb auch darum, die Bürger stärker an solchen Prozessen zu
beteiligen.
Seite 4: Über die rot-grüne Agenda 2020…
Was ist also die rot-grüne Agenda 2020?
Trittin: Mehr Bildung, mehr Ökologie und mehr
Gerechtigkeit.
Auch über mehr Steuern der Wohlhabenden?
Gabriel: Das ist die Voraussetzung. Und dahinter steckt
kein Sozialneid. Ich habe nichts gegen Millionäre, wäre auch gerne
einer. Aber jeder weiß: Niemand wird allein reich. Die Gesellschaft
hat mitgeholfen, dass bei nicht wenigen individueller Reichtum
entsteht. Wenn diese Gesellschaft jetzt Aufgaben zu lösen hat,
müssen diejenigen, die durch die Kombination aus eigener Leistung
und gesellschaftlich guten Bedingungen wohlhabend geworden sind,
auch etwas mehr helfen als andere. Ich nenne das sozialen
Patriotismus.
Trittin: Wer Schulden abbauen will, kommt an einer
Vermögensabgabe für Millionäre nicht vorbei. Beide Parteien, die
SPD und die Grünen, vertreten ein Steuerkonzept, das alle Menschen,
die weniger als 60?000 Euro im Jahr verdienen, entlastet. Auf
Deutsch: weniger Steuern. Und bei den Sozialdemokraten soll der
Betreffende ab einem Einkommen von 100?000 Euro, bei den Grünen ab
80?000 Euro, dann etwas mehr beisteuern – bekanntlich nur vom
ersten Euro an jenseits der Grenze von 60?000 Euro. Wissen Sie, was
übrigens sofort mehr Geld in die Kasse spült? Wenn künftig in
Deutschland nicht mehr jemand für 3,50 Euro in der Stunde Haare
schneidet oder für 4,50 Euro an der Kasse sitzt. Auch damit werden
wir Schluss machen. Mehr Lohnsteuer, keine Aufstockerei und mehr
Kaufkraft – so wird gespart!
Gabriel: Es gibt überhaupt keinen Grund, dass der eine
Handwerksmeister faire Löhne zahlt, der andere aber Hungerlöhne –
und die Leute zum Staat schickt, um sich den Rest zum Leben dort zu
holen. Das kostet sieben Milliarden jedes Jahr, Geld, das wir
dringend woanders brauchen und nicht, um Arbeitgebern billige
Arbeitskräfte zu finanzieren.
Diesen Gedanken hat sich die Kanzlerin ja inzwischen
auch zu eigen gemacht.
Gabriel: Eben nicht!
Trittin: Falsch!
Gabriel: Der Unterschied zwischen Frau Merkel und uns ist,
dass sie nicht versteht, was ein Mindestlohn ist. Ein Mindestlohn
ist keine Lotterie, bei der man mit etwas Glück 8,50 Euro zieht.
Ein Mindestlohn ist der Anspruch darauf, dass ein Alleinverdiener
in Vollzeitarbeit am Ende des Monats genug haben muss, damit er
beim Sozialamt nicht mehr betteln gehen muss. Das ist ein
Mindestlohn!
1998 hatte Deutschland 16 Jahre Kohl hinter sich und das
Gefühl: Was Neues muss her. Würden Sie sagen, 2013 ist eine
ähnliche Lage da, eine Wechselstimmung?
Trittin: Da arbeiten wir dran.
Gabriel: Merkel ist nicht in der gleichen Verfassung wie
Kohl nach 16 Jahren. Sie ist beliebter, aber politisch in einer
schwierigeren Lage, weil sie keine Koalitionschance mehr hat.
Selbst bei den für sie besten Zahlen – 37 Prozent Union plus 6
Prozent FDP – hat sie keine Regierungsmöglichkeit.
[video:Über dem Zenit - Verwelken die Grünen?]
Doch. Mit Ihnen und der SPD. Oder mit den Grünen.
Schwören Sie sich hier beide unverbrüchlich die Treue für 2013?
Denn nur dann stimmt Ihr Satz.
Gabriel: Wir treten 2013 für eine Mehrheit von SPD und
Grünen an, weil wir einen Politik- und Richtungswechsel in
Deutschland und Europa brauchen. Das geht in einer Koalition mit
Frau Merkel und der CDU/CSU nicht, und deshalb wollen wir sie
nicht.
Trittin: Wir stehen für bestimmte Inhalte.
Herr Trittin, Herr Gabriel war gerade erfrischend klar:
Sie suchen Ausflüchte.
Trittin: Nein. Ich definiere Koalitionsmöglichkeiten über
Inhalte. Und unsere Inhalte sind zurzeit mit CDU und CSU nicht zu
verwirklichen.
Aber zu zweit wird es für Rot-Grün realistischerweise
nicht reichen.
Trittin: Wieso eigentlich nicht? Was ist mit
Schleswig-Holstein? Und Nordrhein-Westfalen?
Das Saarland lassen Sie weg, und in Schleswig-Holstein
brauchen Sie die Dänen.
Trittin: Na und? Mehrheit ist Mehrheit. Entschuldigen Sie,
die Wähler des SSW sind alles Leute, die bei Bundestagswahlen Grüne
oder SPD wählen.
Gabriel: Der SSW ist eine klassisch sozialliberale
Partei.
Aber werte Herren, wollen Sie jetzt ernsthaft
bestreiten, dass Sie, zumal bei Berücksichtigung der Piraten, einen
Dritten im Bunde brauchen werden?
Trittin: Allerdings! Wir haben in Niedersachsen eine
genauso gute Chance auf Rot-Grün wie etwa in Rheinland-Pfalz. Und
jetzt müssen Sie mir mal erklären, wieso von der Förde bis zum
Bodensee mehr als die Hälfte der Bevölkerung von Rot-Grün regiert
wird und warum das im Bund nicht klappen soll.
Das können wir Ihnen sagen. Wegen dieser
Kanzlerin…
Trittin: …? Deren Demobilisierungsstrategie gerade
krachend scheitert! Norbert Röttgen ist das jüngste Opfer.
Gabriel: Ich zerbreche mir nicht den Kopf der Kanzlerin.
Die hat ein Riesenproblem. Sie hat in elf Wahlen in Folge für ihre
Koalition keine Mehrheit bekommen. Hannelore Kraft hat in
Nordrhein-Westfalen gezeigt, dass es selbst mit starken Piraten für
eine satte rot-grüne Mehrheit reichen kann. Dennoch mache ich mir
nichts vor: Wir gewinnen die nächste Bundestagswahl nicht von
selbst. Aber wir haben ein klares politisches Gegenmodell. Damit
werden wir Merkel stellen.
Das Gespräch führten Christoph Schwennicke und Alexander Marguier.
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