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Geteiltes Deutschland - Der Norden ist der neue Osten

Der Süden hat den Norden wirtschaftlich abgehängt - nach dem Ost-West-Gefälle driftet Deutschland nun an neuer Stelle auseinander. Berlins BER-Desaster ist nur ein Beispiel dafür, dass es das Prinzip der Eigenverantwortung im Norden schwerer hat

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Fabian Leber ist Redakteur im Ressort Meinung des Tagesspiegels. Er kommentiert vor allem aktuelle Entwicklungen der Bundespolitik. Sein Schwerpunkt liegt bei wirtschafts- bzw. sozialpolitische Fragestellungen und der Euro-Politik.

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Von den „neuen Ländern“ spricht kaum mehr jemand. Deutsche Statistiken aber erfassen immer noch „West“ und „Ost“. Dabei wäre es mindestens genauso sinnvoll, zwischen „Nord“ und „Süd“ zu unterscheiden. Egal ob bei Steuereinnahmen, Löhnen oder Lebenserwartung – der Süden ist dem Rest der Republik uneinholbar davongeeilt. Unter den zehn Städten mit den besten Gehaltsprognosen für junge Hochqualifizierte zum Beispiel kommen Orte nördlich der Main-Linie gar nicht mehr vor, von Leverkusen abgesehen.

Selbst das teure Hamburg ist aus dieser Liga abgestiegen. Berlin galt lange als Billighauptstadt – doch in Zeiten, wo die Mieten rasant steigen, fällt auch auf, wie abgehängt die Stadt bei den Gehältern ist.

Hamburgs Ex-Bürgermeister klagt über „das große Baden-Baden des Nordens“


Ausgerechnet der frühere Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi hat kürzlich auf die neue deutsche Nord-Süd-Frage hingewiesen. Die Hansestadt sei zum „großen Baden-Baden des Nordens“ degeneriert, der Stillstand regiere, es fehle an „weitschauendem Bürgergeist“. „Das Tor zur Welt verlagerte sich entscheidend nach Süden“, warnte er. Dass Hamburg so wahrgenommen wird, ist relativ neu. Am Beispiel Niedersachsens aber konnte man schon seit längerem sehen, dass der Norden schwächelt. 100.000 Einwohner zogen dort in den letzten fünf Jahren weg – während der Süden wächst. Es fiel nur deshalb nicht auf, weil der Aderlass in Ostdeutschland noch größer war.

Andererseits schließen mit Sachsen und Thüringen zwei Länder im Süden der Ex-DDR zu den Klassenbesten Baden-Württemberg und Bayern auf, die 1990 ähnliche Startbedingungen hatten wie der preußisch geprägte Nordosten. In Bildungsvergleichen landen sie stets vorne, bei der Arbeitslosenquote zieht Thüringen gerade an Nordrhein-Westfalen vorbei, Sachsen hat von allen Ländern den niedrigsten Schuldenstand. Und nichts spricht dafür, dass sich der Graben zwischen Nord und Süd einmal wieder schließen wird. Der „Demographic Risk Atlas“, der von großen deutschen Unternehmen erstellt wurde, prophezeit für Deutschland bald sogar eine größere regionale Kluft als im historisch geteilten Italien.

In seinem Weckruf weist Dohnanyi auch darauf hin, dass Hamburg allenfalls noch einen „Regionalflughafen“ habe. Wichtige Verkehrsströme fänden woanders statt – in Frankfurt am Main und München, die mit ihren Interkontinentalflughäfen zum neuen „Tor der Welt“ geworden seien. Während Hamburg von vorneherein an seinem innerstädtischen Airport festhielt, hat Berlin wohl spätestens mit dem BER-Desaster die Chance vertan, in dieser Hinsicht Anschluss zu finden. Ein Oberbürgermeister in einer süddeutschen Stadt wie München hätte sich nach einer solchen Mega-Panne wohl kaum jahrelang im Amt halten können.

Regionalforscher begründen den Vorsprung des Südens mit tieferen historischen Prägungen, die eine andere Art von Bürgersinn hervorgebracht hätten. Die Mentalität in Ländern wie Thüringen oder Bayern sei über Jahrhunderte von der Kleinlandwirtschaft beeinflusst worden. Weil südlich einer Linie von Aachen bis Görlitz das Erbkonzept der Realteilung galt, mussten sich die Bauern mit kleinen Anbauflächen begnügen, für die sie aber selbst verantwortlich waren. Da dies zum Leben oft nicht reichte, entwickelte sich zum Nebenerwerb ein starkes Handwerk und Kleingewerbe.

Sachsen und Thüringen schließen zu Bayern auf


Der Norden Deutschlands dagegen ist historisch durch Großgrundbesitz und Junkertum geprägt. Für die Landarbeiter schuf das eine große wirtschaftliche und politische Abhängigkeit, die auch im preußischen Dreiklassenwahlrecht ihren Ausdruck fand. Die soziale Ungleichheit wurde zunehmend kleiner, je weiter man sich von Ostelbien entfernte. Erfindungsgeist und Pfiffigkeit hingegen nahm zu. Ein Zufall ist es wohl nicht, dass die Hälfte der deutschen „Elite-Unis“ in den zwei südlichen Bundesländern liegt. Genau andersherum war es in Italien – im abgehängten Mezzogiorno dominierten wie im deutschen Norden Großagrarier.

Politische Brisanz für die Gegenwart wird die Verfestigung des Nord-Süd-Gefälles gewinnen, weil bald ein neuer Länderfinanzausgleich verhandelt werden muss, der ab 2020 greift. Die Maßgabe im Grundgesetz, wonach in Deutschland „einheitliche Lebensverhältnisse“ hergestellt werden sollen, gilt schon seit 1996 nicht mehr. Inzwischen wird nur noch „Gleichwertigkeit“ angestrebt. Auch Berlin wird sich auf hohe Finanztransfers aus dem Süden nicht mehr verlassen können. Eine schnelle Abkehr vom historischen Entwicklungspfad ist allerdings nicht zu erwarten: Für eine Neuwahl des Abgeordnetenhauses nach dem BER-Debakel sollen bisher erst 2000 Unterschriften von Berliner Bürgern zusammengekommen sein.

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