
- Die Modelle Schröder & Kohl
Die Politik der Altbundeskanzler Kohl und Schröder hat Langzeitwirkung. Ein Blick zurück auf ihre Politik zeigt, sie hatten mehr gemeinsam, als ihnen lieb wäre: Beide trotzten den Moden, den Kritikern und den Ressentiments
Dies ist kein Sommerinterview. Trotzdem soll aus gegebenem Anlass – Sommerpause in Berlin – zwei Schlüsselfiguren der deutschen Politik, von denen wenig die Rede ist, ein kleiner Besuch abgestattet werden: Gerhard Schröder und Helmut Kohl nämlich, den beiden Vorgängern der Amtsinhaberin.
Beide gelten sie als Kanzler, welche die deutsche Politik nicht gerade modellhaft geprägt haben. Unbestritten ist weithin die Durchsetzungsfähigkeit des einen Regierungschefs, des Sozialdemokraten, der nach sieben Jahren von sich aus den Rückzug antrat; und ganz gewiss auch der extraordinaire Machtinstinkt des anderen, des Christdemokraten, der sechzehn Jahre regierte, bevor er sich - 1998 – abwählen ließ.
Aber keinem wurden Lorbeerkränze gewunden im Nachhinein. Selten äußern sich beide zur aktuellen Politik – Schröder machte kürzlich in einem langen Gespräch mit dem Bayrischen Rundfunk eine Ausnahme, aber im Prinzip hält er sich an die eigene Vorgabe, die Politik an den Nagel gehängt, den Beruf gewechselt und hinter sich als Kanzler das Licht ausgemacht zu haben. Kohl hat sich vor einigen Monaten in der einzig herausragenden außenpolitischen Zeitschrift, Internationale Politik (IP), kritisch zur aktuellen Europa-Politik eingelassen, in der Regel aber schweigt er. Es ist aus vielerlei Gründen schwer für ihn geworden, sich öffentlich zu äußern.
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Ich möchte mich hier mit der Frage beschäftigen, weshalb mir heute an ihrer Politik durchaus etwas paradigmatisch erscheint; vielleicht hat man sich ja im Urteil über sie geirrt?
Auch wenn man Helmut Kohl als Kanzler kritisch gegenüberstand, wie ich es von mir sagen würde – einer angemessenen historischen Gewichtung sogar aus den Reihen der eigenen Anhänger heraus (und da sammelt sich einiges an in sechzehn Jahren!) stand er vor allem selber im Weg. Es waren nicht einmal nur die Schwarzen Kassen, deren Entdeckung verriet, wie sehr er sich selber in seinen sechzehn Regierungsjahren mit dem Staat verwechselt hatte; vor allem seine extrem unterkomplexe Darstellung in den zahlreichen eigenen Büchern über seine Kanzlerjahre haben den Blick darauf verstellt, was seine Stärken waren und wann sie zur Geltung kamen. Seine herausragende Leistung als Chef der Exekutive – würde sein Vorgänger Helmut Schmidt anerkennend einräumen – bestand im Zehn-Punkte-Plan, mit dem er Ende November 1989 beherzt das Heft in die Hand nahm und dem ungeordneten Vereinigungsprozess eine klare Richtung gab.
Diese Kunst des Operativen hatte für Schmidt, der längst als eine Art als deutscher Referenzkanzler gilt, immer Priorität. Mir scheint im Nachhinein, die wirkliche Leistung Kohls bestand jedoch darin, durch alle Irrungen und Wirrungen – von Genscher beflügelt – einen europäischen Kurs gesteuert zu haben, der bereits vor der Zäsur von 1989 und auch danach überhaupt erst das Vertrauen der Nachbarn verfestigte und die Einheit der Deutschen erlaubte. Kurzum, unter Kohls Ägide wurde das „europäische Deutschland“ als Leitmotiv glaubwürdig umgesetzt.
Dies wurde mir beispielsweise als Journalist in seiner ganzen Dimension erst klar, seit die deutsche Politik vor knapp drei Jahren mit Beginn der Euro- und Griechenlandkrise exakt daran Zweifel aufkommen ließ und ein „deutsches Europa“ zum heimlichen Modell erklärt wurde. Mit Helmut Kohl, da bin ich mir sicher, wäre diese Krise anders verhandelt worden, mutiger, solidarischer, weniger deutschlandfixiert und stärker europazugewandt. Ich vermute sogar, wir wären in der Krise bereits über den Berg. Nach der deutschen Zögerlichkeit seit nunmehr drei Jahren aber könnte sie sich, wie die Financial Times jüngst mit guten Argumenten fürchtete, eben wegen der fehlenden frühen Entschlossenheit weitere zwanzig Jahre hinziehen.
Der Fall Schröder liegt anders. Er hatte keinen Ruf wie Kohl, der immerhin als „Einheitskanzler“ galt – obwohl der selbsternannte Enkel Adenauers nie ein „konzeptioneller“ Kanzler war. Schröder verabschiedete sich selbstbewusst aus dem Amt, in Konzepten dachte auch er nicht, wohl aber hatte er politische Ziele klar definiert und beharrlich verfolgt. Auf ein bleibendes Vermächtnis jedoch pochte er dennoch nicht. Nicht einmal mit seinem „Nein“ zum Irak-Krieg schmückte er sich sonderlich. Heute wird er überall in Europa bewundert als derjenige, der beizeiten mit seiner „Agenda 2010“ und „Hartz IV“ den Sozialstaat abspeckte, ohne ihn zu opfern, und damit die Bundesrepublik anschlussfähig an die moderne, globalisierte Ökonomie gemacht habe. Gern tritt er als Redner außerhalb des eigenen Landes auf, der Prophet, der zu Hause nichts gilt, streicht Lob ein und genießt es, gefragt zu werden, wie er und die Deutschen das bloß gemacht hätten, die Krise als Klassenerste mit Glanz zu bestehen?
Das Lob genießt er schon deshalb besonders, weil immer noch gerade aus seiner eigenen Partei heraus – von der Linken nicht zu reden – die Reduzierung der Arbeitslosenhilfe auf ein soziales Minimum als Anschlag auf jeden Rest von Sozialstaatlichkeit gebrandmarkt wurde. Aber Schröder war nun einmal der Ansicht, der Fürsorgestaat stoße an seine Grenze, denn die Zeit der scheinbar immerwährenden Prosperität gehe zu Ende, wir überschuldeten uns untragbar, wenn wir auf Kosten der nächsten Generationen von der Annahme ständig weiteren Wirtschaftswachstums zehrten, und wir drohten unsere Wettbewerbsfähigkeit zu verlieren. Mehr noch: Bewusst war ihm, dass die Republik Anfang des letzten Jahrzehnts als der „kranke Mann“ Europas galt.
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Ich entsinne mich, wie er in seiner zweiten Amtszeit als Kanzler zwischen solcher Kritik als neoliberaler Kanzler Gnadenlos und den Vorbehalten jener Journalisten und Fachleute stand, die meinten, als Kanzler Zitterhand habe er schlicht keine Courage und gehe beim Abbau des Sozialstaats nicht weit genug. Die Bundesrepublik sei ein gefesselter Riese, meinten seinerzeit Reformer, manche Maulhelden darunter, sie müsse ungleich rabiater an Besitzstände herangehen, wenn sie jemals wieder in der Weltwirtschaft eine Rolle spielen wolle.
Heute lobt die Regierung seine Agenda, weil sie weiß, wie sehr die Sozialdemokraten damit hadern. Damals hingegen, als die Wellen der Erregung hoch schlugen, legte sich die christdemokratische Opposition möglichst unsichtbar „in die Furche“, um es mit Schröders Worten zu sagen; das heißt, sie bekannte sich nicht zu seinem Kurs, obgleich sie ihn stets in diese Richtung gedrängt hatte. Als die zweifellos bitteren Folgen der Hartz-IV-Reform sichtbar wurden – besonders Langzeitarbeitslose, die jahrzehntelang gespart hatten und nun auf Sozialhilfestatus zurückfielen, traf es hart - , genierten sich manche der journalistischen Hardliner nicht, eine Volte zu schlagen. Sie bemängelten nun plötzlich, Schröder trage zum Entstehen einer neuen Klassengesellschaft bei – obwohl er mit seiner Politik nur die tatsächliche soziale Schieflage in der Ära der globalisierten Ökonomie sichtbar gemacht, also das Land ehrlich gemacht hatte.
Heute wollen es praktisch alle gewesen sein, die Schröder immer zu diesen Reformen geraten haben, die inzwischen als Modell gelten. Das aber ist schlicht eine Legende. Auch diejenigen, die ihn zu waghalsigeren Schritten drängten, obwohl er immerhin seine Kanzlerschaft opferte, auch sie also haben nicht vorausgesagt, dass die Republik schon wenige Jahre später einmal als ökonomischer Leuchtturm gepriesen würde. Und das, ohne den Sozialstaat wirklich preiszugeben. Einige seiner Leute – Frank-Walter Steinmeier beispielsweise und auch Peer Steinbrück – haben sich nicht gescheut, seine (und ihre) Politik über die Jahre gegen alle Vorbehalte zu verteidigen.
Diesen Schröder-Kurs jedoch ein „Modell“ zu nennen, hätten sie nicht gewagt. Aber belohnt können sie sich nun durch die Anerkennung fühlen, die der Weg europaweit genießt. Der Ehrlichkeit und Genauigkeit halber muss man allerdings hinzufügen, dass Schröder keineswegs jene platte Austeritätslinie verfolgte, die später den europäischen Nachbarn von Berlin strikt verordnet wurde. Um Einsparungen ging es sehr wohl, um Totsparen keineswegs. (Diese schwierige Balance übrigens glückte Schröder nicht, als es um die Liberalisierung der „spekulativen Industrie“ ging; sie wurde gleichfalls von Rot-Grün betrieben und beförderte das Desaster einer unkontrollierbaren Finanzmarkt-Abhängigkeit mit, das heute unübersehbar und womöglich sogar irreparabel ist.) Mit Recht weist er zudem darauf hin, dass seine „Agenda“ keineswegs das einzige Instrument war: Die Gewerkschaften übten hochdiszipliniert Lohnzurückhaltung, und obendrein blieb die Industrieproduktion ein zentraler Wirtschaftsfaktor, anders als in Großbritannien, das sich ausschließlich auf den Ausbau der neuen Finanzmärkte und die Londoner City als Wachstumsmotor kaprizierte.
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Zugegeben, viel haben Kohl und Schröder nicht gemeinsam, sie kommen von anderen Planeten und es bleiben zweierlei Kanzlerschaften, für die sie stehen. Und dennoch, gemeinsame Stärken entdeckt man bei näherem Hinsehen nach Jahren sehr wohl. Der eine, der als Kanzler der Entscheidungs-Verweigerung und des endlosen Abwartens galt, und der andere, der mit seinem entscheidungsfrohen, wenn nicht autoritären „Basta!“ berühmt wurde, haben gewittert, was die Hauptsache für sie ist – und sie haben im entscheidenden Moment eine Politik der langen Linie angelegt und konsequent verfolgt, deren Relevanz und Tragfähigkeit man erst viele Jahre nach ihrem Ausscheiden wirklich erkannte.
Ihre Politik war längerfristig angelegt, als es schien, und sie bewies ihren Modellcharakter, weil sie sich als tragfähig und richtig erwies. Sie trotzten den Moden, den Kritikern und den Ressentiments. Der eine in Sachen Sozialstaat und seiner Überlebensfähigkeit, der andere in Sachen Europa und der Priorität für dieses Projekt. Kurzum, sie hielten es nicht einfach mit der Mehrheit oder dem, was vermeintlich gefällt. Wenn also im Blick auf’s heutige Berlin und seine Leerstellen Helmut Kohl und Gerhard Schröder so oft in den Sinn kommen, ist das – da bin ich mir sicher – gewiss mehr als blinde Nostalgie.
PS. Was aber den Modellcharakter angeht, kann man nur beten: Wenn die europäische Krise auch die exportlastige Bundesrepublik mit herabzieht, und wer will das ausschließen, könnte der stolze Ruf noch schneller verblassen, als er gekommen ist. Aber das ist, einverstanden, eine andere Geschichte.
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