Ex-Kanzler Ludwig Erhard (CDU) in seinem Büro / dpa

Ludwig Erhards Memoiren - Bedienungsanleitung für Koalitionsregierungen

Die gerade erschienenen Erinnerungen Ludwig Erhards können den gegenwärtigen Ampelkoalitionären zur Lektüre empfohlen werden. Beim Bruch der CDU/CSU/FDP-Koalition im Jahr 1966 drängen sich Parallelen zu heute auf.

Ulrich Schlie

Autoreninfo

Ulrich Schlie ist Historiker und Henry-Kissinger-Professor für Sicherheits- und Strategieforschung an der Universität Bonn.

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Ulrich Schlie ist Herausgeber der Ludwig-Erhard-Memoiren, die unter dem Titel „Meine Kanzlerzeit. Erinnerungen für die Zukunft“ im Econ-Verlag erschienen sind.

Wenn Koalitionen zerbrechen, dann liegt dem Scheitern fast immer ein längerer Prozess der partnerschaftlichen Entfremdung und gegenseitigen Zermürbung zugrunde. Immer gibt es am Ende den berühmten Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Die gerade publizierten Memoiren Ludwig Erhards über seine Kanzlerzeit enthalten eine Bedienungsanleitung für Koalitionsregierungen, an die sich Ludwig Erhard zwar nicht selbst gehalten hat, die aber den gegenwärtigen Ampelkoalitionären durchaus zur Lektüre empfohlen werden kann. Denn Erhards Rückblick auf das Zerbrechen der von ihm selbst geführten kleinen Koalition von CDU/CSU und FDP im Herbst 1966 – aus der Perspektive des Jahres 1976 und aus der Feder seines Ghostwriters Johnny Klein – ist ein Rückblick mit Schmerzen und bisweilen auch im Groll.

Der kleine Koalitionspartner komme immer an den Punkt, so schrieb Erhard, wo „die FDP immer dann eine Änderung ihrer Koalitionsbindungen erwägt, wenn ihr entsprechende Wahlergebnisse dies nahezulegen scheinen. Politische Begründungen findet sie dann allemal. (…) Diese FDP-Maxime hat vielmehr einen doppelten taktischen Zweck: Zum einen soll sie die eigene politische Glaubwürdigkeit stützen und zum anderen den potentiellen Koalitionspartner veranlassen, sie in der öffentlichen Auseinandersetzung weitgehend zu schonen. In dieser Art politischen Windschattens schlüpfen die Freien Demokraten dann rasch in die Rolle von Schiedsrichtern, Bremsern oder Zensuren-Verteilern. Je nach tagesaktueller Opportunität.“

Der Vorrat an Gemeinsamkeiten war verzehrt

Bei Erhard wurde der Bruch der Koalition am 26. Oktober 1966 vollzogen, als die von ihm geführte CDU/CSU/FDP-Koalition an Meinungsverschiedenheiten über den Haushaltsausgleich, eine ordnungsgemäße Abdeckung des Haushalts, Minderausgaben und den Abbau von Privilegien zerbrach. Parallelen zum Jahr 2024 drängen sich auf. Damit das Koalitionsziel eines ausgeglichenen Haushalts erreicht werden konnte, hatten CDU und CSU eine Ergänzungsabgabe auf die Lohn-, Einkommens- und Körperschaftssteuern sowie eine Erhöhung von Verbrauchssteuern vorgeschlagen. Die Liberalen waren indes nicht bereit, diese Steuererhöhungen mitzutragen. Stattdessen hatten sie als Alternative den Wegfall des Arbeitgeberfreibetrags sowie die Erhöhung der Beiträge zur Rentenversicherung ins Spiel gebracht. 

Der Vorrat an Gemeinsamkeiten war verzehrt, die Koalitionspartner standen sich unversöhnlich gegenüber. Über die Parteigremien der Liberalen wurde nun der Druck auf den Koalitionspartner erhöht. Am 27. Oktober zirkulierte im Bundeshaus die Mitteilung der FDP-Pressestelle, dass die Partei ihre Minister aus der Koalition zurückziehe. Zum dritten Mal nach Februar 1958 – in Düsseldorf – und Dezember 1962 hatten die Freien Demokraten mitten in der Legislaturperiode ihre Rolle als Juniorpartner ausgereizt und den Ausstieg aus der laufenden Koalition verkündet. Die Liberalen befanden sich, wie ein Kommentator dies damals treffend beschrieben hatte, „auf dem Grat zwischen Umfall und Prinzipientreue“ und mussten aufpassen, dass ihre Selbstbeschreibung „klein, aber fein“ in Verbindung mit dem Anspruch, sich so teuer wie möglich zu verkaufen, nicht vom Wähler als Opportunismus interpretiert werden würde.

Wie kommt die FDP dazu, zu meinen, der Wähler würde einem Koalitionsbruch honorieren? Es nimmt sich paradox aus, dass die FDP im Jahr 1966 mit ihren haushaltspolitischen Forderungen gerade den Kanzler zu Fall bringen sollte, der in seiner politischen Programmatik der FDP von allen Unionsführern am nächsten stand. Denn Erhards Verhältnis zur FDP war grundsätzlich gut. Er hatte zunächst sogar mit einem Eintritt in diese Partei nach dem Zweiten Weltkrieg geliebäugelt, und 1948 war die Ernennung Erhards zum Direktor für Wirtschaft der Bizone auf die maßgebliche Einflussnahme der FDP zurückzuführen gewesen. Die 1965 im Amt bestätigte Koalition freilich hatte nach dem Wahlerfolg nie wirklich Tritt fassen können. Bundeskanzler Erhard hatte Führungs- und Autoritätsprobleme: Er ließ gewähren, wo er hätte durchgreifen müssen, er kündigte Kabinettsumbildungen an, die er nicht vollzog.

Die Freunde waren nur taktische Freunde

Aber auch die FDP war 1966 Opfer ihrer eigenen Ambitionen, die viel mit der Unsicherheit ihres Führungspersonals zu tun hatten. Da war zunächst Erich Mende als Parteivorsitzender. Die Forderung nach dem Abgang Adenauers war bereits 1961 im Wahlkampf das Hauptanliegen der Liberalen gewesen und hatte dem Parteivorsitzenden Erich Mende, als es dann doch zu einer Fortsetzung der Kanzlerschaft Adenauers kam, den zweifelhaften Ruf des Umfallers eingetragen, ein Ruf, der an Mende hafteten blieb und ihn nachhaltig politisch beschädigen sollte. Letztlich fehlte es Mende, der unter seinem negativen öffentlichen Bild litt und wusste, dass er nicht die ganze FDP-Führungsmannschaft hinter sich hatte, auch an Souveränität. Dies mag seine bisweilen durchbrechende Neigung zu überzogenen politischen Forderungen erklären.

War die FDP damals verzichtbar? Ist sie heute verzichtbar? Ludwig Erhard hatte es eine Zeitlang gedacht und sogar den verwegenen Plan gehegt, mit einer Minderheitsregierung weiterregieren zu können. Auch hier könnte man versucht sein, Parallelen zur Gegenwart zu ziehen. Ludwig Erhard hatte dabei allerdings unterschätzt, wie sehr der Koalitionskrach und die fortgesetzten öffentlichen Spekulationen seine Autorität untergraben und einen mehr oder weniger offen ausgetragen Wettbewerb um seine Nachfolge in den eigenen Reihen hervorgerufen hatte. Vor allem der Fraktionsvorsitzende Rainer Barzel, der ihn schon im März 1966 bei den Wahlen zum Parteivorsitzenden herausgefordert hatte und dann unterlegen war, konnte es kaum erwarten, die Erhard-Nachfolge anzutreten. 

Franz Josef Strauß, einst die treibende Kraft dafür, dass die Würfel bei der Adenauer-Nachfolge zugunsten Erhards gefallen waren, hatte immer auch eigene Ambitionen im Blick und hatte Erhard, als der Autoritätsverfall immer sichtbarer wurde, bereits an der Spitze des Kanzleramts aufgegeben. Nun zeigte sich, dass die Freunde, die sich einst hinter Ludwig Erhard geschart hatten, taktische Freunde waren, die keine Skrupel hatten, das einstige Zugpferd der CDU fallen zu lassen. Ganz offen wurde in der Fraktion nun über mögliche Nachfolger diskutiert, darunter auch die Option der Ersetzung des Kanzlers durch den Bundestagspräsidenten Eugen Gerstenmaier.

Ludwig Erhard haderte auch mit seiner Partei

Am Ende ging der Schaden des Koalitionsbruchs mit Ludwig Erhard nach Hause. Es ist aufschlussreich, dass auch aus dem Blick zurück nach fast zehn Jahren das Ausmaß der Verwundungen noch ganz deutlich bei ihm vorhanden war, wenn er in seinen Memoiren schreibt: „Verblaßt sind eher die starken Gefühle, die ich gegenüber dem einen oder anderen der Akteure damals gehegt habe. Nicht nur, weil ich nicht nachtragen kann.“ Das Gegenteil war wohl richtig. Ludwig Erhard haderte auch mit seiner Partei, der CDU, in die er formal erst 1968, also nach seiner Zeit als Parteivorsitzender, eingetreten war. Er pochte auf seine Erfolge, und er schrieb in seinen Memoiren, wie er gerne gesehen werden wollte:

„Ich bin nicht in dem Gefühl zurückgetreten, als einsamer Rufer in der Wüste unverstanden und ungehört geblieben zu sein. In 17jähriger Regierungstätigkeit, davon drei Jahre als Bundeskanzler, habe ich die sichere Überzeugung gewonnen, viel Verständnis und viel Gehör gefunden zu haben, insbesondere auch innerhalb der Unionsparteien, mit denen gemeinsam ich bis zum heutigen Tage für ein freies und modernes Deutschland gearbeitet habe. Gegenüber der CDU/CSU-Bundestagsfraktion habe ich am 30. November 1966 erklärt, daß ich ohne Groll scheide.“ 

Olaf Scholz, der anders als Ludwig Erhard in seinem letzten Jahr seine Ambition auf den Parteivorsitz nie verwirklichen konnte, sollte sich das Narrativ des Scheiterns, das Erhards Parteifreund und unmittelbarer Nachfolger, Kurt Georg Kiesinger, nach Bildung der Großen Koalition in der Regierungserklärung am 13. Dezember 1966 nutzte, vor Augen führen. Es können dann auch eigene Parteifreunde sein, die wirkungsvoll die Geschichte des scheinbaren Scheiterns verbreiten. 

„Der Bildung dieser Bundesregierung, in deren Namen ich die Ehre habe, zu Ihnen zu sprechen, ist eine lange, schwelende Krise vorausgegangen, deren Ursachen sich auf Jahre zurückverfolgen lassen.“ Kiesinger fügte damit zugleich die für lange Zeit verbindliche Deutung des Niedergangs der Regierung Erhard an, wenn er „innenpolitische Schwierigkeiten, innerparteiliche(n) Zwist und außenpolitische Sorgen“ dafür verantwortlich machte, „bis schließlich die Uneinigkeit über den Haushalt 1967 und über die auf lange Sicht notwendigen finanzpolitischen Maßnahmen zum Auseinanderbrechen der bisherigen Koalition und zu einem Minderheitskabinett führten“.

Ludwig Erhard: Meine Kanzlerzeit. Erfahrungen für die Zukunft. Herausgegeben von Ulrich Schlie für die Ludwig-Erhard-Stiftung e.V. Econ, Berlin 2024. 336 S., 22,90 €

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Dietmar Philipp | So., 7. Juli 2024 - 10:32

diese einzuleiten ist die wichtigste Aufgabe der Zeit. Mit einem fanatischen westlichen Festhalten an Weltanschauung, Ideologie gibt es keine Rettung der menschlichen Kultur. Wir brauchen endlich eine weltweite POLITIK DER VERNUNFT. Die damalige Politik von und mit Ludwig Erhard ist mit den heute total veränderten Weltbedingungen nicht vergleichbar. Neue Wege, Neuordnung mit dem Überbau der Vernunft sind aktuell, wir haben nur diese eine Welt, das sollten alle entsprechend bewegen!!!

hermann klein | So., 7. Juli 2024 - 10:44

Von der Partei Ludwig Erhardts ist die Union heute Meilenweit entfernt.
Ludwig Erhardt der Erfinder der "Sozialen-Marktwirtschaft" hatte schon vor 70 Jahren angesichts eines aufgeblähten Sozialstaats gewarnt.
Erhardt wollte Marktwirtschaften und Erarbeiten und Wachstum und anschließend bei Bedürftigkeit verteilen.
Ich erinnere mich noch an einer Äußerung Erhardts: „ zu sozial ist unsozial“.
Angesichts der Warnungen von Erhardt: u. a. „Maßhalten“ und hinterher von Karl Schiller: „Genossen lasst die Tassen im Schrank“ (oder das vom Bundeskanzler Helmut Schmidt in Auftrag gegebene sogenannte Lambsdorf-Papier) würden heute Parteiausschluss-Verfahren eingeleitet.
Solides Wachstum kann man nur erreichen, wenn man sich auf die Thesen von Ludwig Ehrhard von der sozialen Marktwirtschaft zurück besinnt und nicht der grünen Kommando-Wirtschaft hinterher läuft.
Die Union juckt die perverse grüne Narretei kaum. Auch unter Merz - von Wüst, Günther, Wagner, Güler, ganz zu schweigen - passt weiterhi

Ich würde ehr sagen links grüne Kommandowirtschaft …..
Und das schlimme ist, leidet das heutige Deutschland an Gedächtnisverlust ?
Hatten wir nicht in dem Ostteil unseres Lande mehr als 40 Jahre die SED Kommandowirtschaft mit desaströsen Verhältnissen und vor allem Ergebnissen ? Dem endgültigen ökonomischen Zusammenbruch und des Untergangs des gesamten links ausgerichteten Systems. Und sage niemand, das passiert in Deutschand nicht ! Das kann ganz ganz schnell passieren …..
Mit freundlichen Gruß aus der Erfurter Republik

Johannes Renz | So., 7. Juli 2024 - 10:56

Hier hat sich wohl ein Fehler eingeschlichen: Im Februar 1958 war die FDP nicht an der Bundesregierung beteiligt, nachdem Adenauer im September 1957 die absulute Nehrheit geholt hat.

Karl-Heinz Weiß | So., 7. Juli 2024 - 11:26

Ob die Lektüre der Memoiren tatsächlich Erhellendes bringt: zweifelhaft. Christian Lindner hat die von Angela Merkel paralysierte FDP zwischen 2013 und 2017 wiederbelebt. Diese sehr beachtliche Leistung ändert aber nichts an der Tatsache, dass sich die Parteienlandschaft in Deutschland grundlegend geändert hat. Und die künftige Rolle des BSW, vor allem in den neuen Bundesländern, ist noch gar nicht eingepreist. Augsteins Totenglöcklein für das Begräbnis der FDP bimmelt bereits kräftig.

Gerhard Lenz | So., 7. Juli 2024 - 13:54

hatte die FDP noch einen linksliberalen Flügel. Der beispielsweise die Freiburger Thesen mitformulierte, ein Dokument, das man, gemessen an der heutigen FDP-Programmatik, fast schon als links bezeichnen kann.

Die Linksliberalen sind heute bei Sozialdemokraten und Grünen zu finden. Die Wirtschaftsliberalen, die im Grunde die FDP beständig dominierten, wollten damals schon, was sie heute noch immer anstreben: Den ausgehöhlten Staat, die "Diktatur der Marktwirtschaft", in die der Staat höchstens noch am Rande korrigierend eingreifen sollte.

Damals wie heute hat die FDP das Dogma des "freien Marktes" als "Freiheit für alle Bürger" verkauft. Und sich auch nicht vor einem populistisch geprägten Opportunismus gescheut.

Und immer, wenn es nicht in ihrem Sinne läuft, beginnt die FDP, selbst gegen von ihr mitgetragene Institutionen und Entscheidungen querzutreiben.

Tomas Poth | Mo., 8. Juli 2024 - 10:44

Und die rotgrüne Blase freut sich über die Sponsorengelder aus den Taschen der Soros, Gates, Harveys und wie sie alle heißen.
Die Kapitalsoligarchen fördern die rotgrüne Blase und lassen ihr freie Hand für den Kulturkampf ihrer "Heilsideen".
Den LinksGrün*innen*außen wird die Aufgabe zugewiesen die Menschen dumm zu halten und Trost mit Weltrettungsideen zu spenden, während die Kapitalseigner ihren Maximierungsinteressen bei Geld - und Macht nachgehen können.
Die einen dürfen ihr Machtbedürfnis mit der Volkserziehung, der Volksoptimierung und -zusammensetzung ausleben, während die anderen den Monetären Nutzen daraus steigern.
Der Trend zur Zweit- und Drittyacht hält an, Yachten unter hundert Meter gelten bald nur noch als Rettungsboote.