Indiens Premier Narendra Modi (r.) begrüßt den russischen Außenminister Sergei Lawrow / dpa

G20-Gipfel in Neu Delhi - Kompromiss mit Russland bewahrt G20 vor dem Scheitern

Ein Formelkompromiss mit Russland hilft der G20 gerade noch einmal über die Runden. Der Gipfel in Indien macht die Moskauer Führung wieder ein Stück weit salonfähig. Verliererin ist die Ukraine.

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Die Gruppe der führenden Wirtschaftsmächte hat bei ihrem Gipfel in Neu Delhi etwas erreicht, was viele zwischenzeitlich schon fast abgeschrieben hatten: eine Gipfelerklärung aller 20 Mitglieder. Darunter die USA, Deutschland, Japan oder Frankreich. Aber eben auch China und Russland. 

Dass die Verhandlungen in die Nähe des Scheiterns gerieten, liegt an einer einzigen Frage: Wie beschreibt man das, was in der Ukraine passiert? Ob man nun Krieg „in“ der Ukraine oder „gegen“ die Ukraine sagt, ist schon von höchster Brisanz. 

Mit solchen Feinheiten haben sich die Unterhändler der Staats- und Regierungschefs schon Wochen vor dem Gipfel befasst, und in der heißen Phase in Neu Delhi Tag und Nacht. Beim vorherigen Gipfel in Indonesien wurde der russische Angriffskrieg in der Erklärung noch von „den meisten“ Staaten klar verurteilt. Und Russland stimmte auf Druck Chinas zu, der für den daheimgebliebenen Kremlchef Wladimir Putin verhandelnde Außenminister Sergej Lawrow reiste am ersten Gipfeltag vorzeitig ab. Die G20 habe Russland mit Hilfe Chinas isoliert, jubelte der Westen. 

Diesmal wollten China und Russland sich diese Blöße nicht mehr geben. Das Ergebnis ist ein Formelkompromiss – also eine Einigung, bei der der eigentliche Konflikt ungelöst bleibt und jeder behaupten kann, sich durchgesetzt zu haben. Es wird nur noch auf Resolutionen der Vereinten Nationen zur Verurteilung des Angriffskriegs verwiesen. Außerdem enthält die Erklärung ein Bekenntnis zur „territorialen Integrität“ aller Staaten, also ganz allgemein zur Unverletzbarkeit von Grenzen. 

Jeder kann sich seine Lesart aussuchen 

Aus westlicher Sicht kommt das einer Verurteilung der Invasion durch die Hintertür gleich. Aber auch Russland kann damit leben, weil es die besetzten Gebiete in der Ukraine als sein Staatsgebiet betrachtet. Und China kann damit seinen Anspruch auf Taiwan begründen, das es als Teil der Volksrepublik ansieht. 

Jeder hat also seine eigene Lesart – und kann sie als Erfolg verkaufen. Für Außenminister Lawrow, der auch in Indien wieder Putin vertrat, gab es keinen Grund mehr, den Gipfel vorzeitig zu verlassen. Er sprach von einer „ehrlichen und ausbalancierten“ Erklärung. 

Am Sonntagmorgen stand er zusammen mit den Staats- und Regierungschefs an dem Ort, an dem der indischen Freiheitskämpfer Mahatma Gandhi 1948 kurz nach seiner Ermordung eingeäschert wurde, und legt einen Kranz nieder. Die Bilder von der Gedenkzeremonie sind der inoffizielle Ersatz für das traditionelle Familienfoto, das es seit dem russischen Angriff auf die Ukraine nicht mehr gibt. Auch auf Bali gab es ein solches Bild bei einem Spaziergang durch einen Mangrovenwald. Da war Lawrow schon weg. Jetzt ist er zurück auf der Bildfläche im Kreis der G20. Auch das dürfte ihm Genugtuung sein. 

Daran änderte auch nichts, dass die westlichen Staats- und Regierungschefs den russischen Delegationsleiter beim Gipfel weitgehend schnitten. Bundeskanzler Olaf Scholz sagte am Samstagabend offen, dass er ihm weder die Hand gegeben noch mit ihm geredet habe.  

G20-Comeback Putins beim Gipfel in Brasilien? 

Trotzdem hat der G20-Gipfel Russland wieder ein Stück weit salonfähig gemacht. Das könnte beim nächsten Treffen in Brasilien so weitergehen. Der brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva hat bereits versichert, dass Putin in seinem Land sicher nicht verhaftet würde - eine indirekte Einladung an den russischen Präsidenten zu einem G20-Comeback. 

Stellt sich die Frage, warum der Westen der Delhi-Erklärung zugestimmt hat. Als ein ganz konkreter Grund gelten die Bemühungen, Russland zu einer Rückkehr in das Abkommen für den Transport von ukrainischem Getreide über das Schwarze Meer zu drängen – oder zumindest dafür zu sorgen, dass Moskau für seine Nicht-Rückkehr nicht den Westen verantwortlich machen kann. 

Todesstoß für die G20 verhindert 

Konfrontiert mit Kritik an den Zugeständnissen an Russland stellte ein westlicher Verhandlungsteilnehmer zudem die Frage, wie die Schlagzeilen gelautet hätten, wenn es in diesem Jahr erstmals keine gemeinsame G20-Erklärung gegeben hätte. „Das Ende der G20“, „Todesstoß für die G20“, „Schluss mit Kooperation“, gibt er selbst die Antwort. Der Kompromiss ermögliche es, die Plattform am Leben zu halten und zu verhindern, dass sie vollständig durch „Blöcke“ wie die westliche G7-Gruppe und die Gruppe der Brics-Staaten um China und Russland ersetzt werde. 

Erwartet wird nun, dass 2024 in Brasilien auch wieder der chinesische Staatschef Xi Jinping anreist. Der hat sich in Neu Delhi wie Putin vertreten lassen – möglicherweise auch, weil er dem gerade zum bevölkerungsreichsten Land der Welt aufgestiegenen Rivalen Indien einen Strich durch die Rechnung machen wollte. Dessen Premierminister Narendra Modi wollte sich als Anführer des globalen Südens profilieren. 

Gerade für Deutschland und die EU geht es derzeit geopolitisch um viel. Die Europäer wissen, dass sie im Kampf gegen den Klimawandel oder bei der Rohstoffversorgung auf Länder wie China, Indien und Brasilien angewiesen sind. Ganz zu schweigen von der Bedeutung, die diese Länder als Absatzmärkte spielen. 

Verliererin des Gipfels ist die von Russland angegriffene Ukraine. Präsident Wolodymyr Selenskyj wurde diesmal nicht per Video zugeschaltet. Anders als im vergangen Jahr, wo ihm auf Bali eine große Bühne geboten wurde, um den Abzug Russlands zu fordern. „Die G20 hat nichts, worauf sie stolz sein kann“, lautet die Gipfelbilanz des Sprechers des Außenministeriums in Kiew, Oleh Nikolenko.

Zeichen an Afrika 

Schon zu Beginn des Gipfels verkündete Modi eine Einigung zur Aufnahme der Afrikanischen Union (AU) als Mitglied in die G20. Länder Afrikas leiden stark unter den Folgen der Klimakrise und des Kriegs in der Ukraine. Der indische Regierungschef versucht, sein Land als Anführer des globalen Südens zu profilieren. Die Aufnahme der AU gilt für ihn deshalb als wichtiger Erfolg. 

 

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Bisher war die Europäische Union (EU) mit ihren 27 Mitgliedstaaten die einzige Regionalorganisation in der G20-Runde. Der AU gehören alle international anerkannten afrikanischen Länder sowie das völkerrechtlich umstrittene Land Westsahara an. Insgesamt sind es 55 Staaten. Die AU vertritt die Interessen von rund 1,3 Milliarden Menschen. In der EU leben rund 450 Millionen Menschen. 

Kritik von Klimaschützern 

Die Passagen der Abschlusserklärung zum Klimaschutz werden von Experten als wenig ehrgeizig eingestuft. „Gegen die Klimakrise hat der G20-Gipfel zu wenig geliefert“, sagte Jörn Kalinski von Oxfam in Deutschland. „Die Regierungen steuern uns weiter auf eine globale Katastrophe zu.“ Auch Friederike Röder, Vize-Präsidentin der Nicht-Regierungsorganisation Global Citizen, übte Kritik: „Das ist eine schreckliche Botschaft an die Welt, besonders an die ärmsten und verletzlichsten Länder und deren Menschen, die am meisten unter dem Klimawandel leiden.“ 

Nicht aufgegriffen wird die Forderung, die G20 sollten sich klar zu einem zügigen Ausstieg aus Kohle, Öl und Gas bekennen. Bekräftigt wird im Abschlussdokument zwar der Beschluss der G20 von vor 14 Jahren, mittelfristig „ineffiziente“ Subventionen für diese klimaschädlichen fossilen Energieträger abzubauen. Doch steht dies in hartem Widerspruch zur Realität: 2022 haben sich diese Subventionen nach Zahlen der Internationalen Energie-Agentur gegenüber dem Vorjahr weltweit auf den Rekordwert von gut einer Billion Dollar verdoppelt. 

Beim Verbrennen von Kohle, Öl und Gas werden klimaschädliche Treibhausgase freigesetzt. Die G20 verantworten etwa 80 Prozent dieser Emissionen; den Löwenanteil haben China, die USA und die EU. 

Ein anderer Konfliktpunkt in Neu Delhi war, ob der G20-Gipfel im Jahr 2026 in den USA oder anderswo ausgerichtet werden soll. Die USA setzten sich dabei nach Angaben von Diplomaten gegen China durch. Der Gipfel 2024 ist in Brasilien, der im Jahr 2025 in Südafrika. Der Gipfel unter dem Motto „One Earth, one Family, one Future“ ging heute zu Ende. 

Quelle: dpa

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Ernst-Günther Konrad | Sa., 9. September 2023 - 20:31

Es ist gut, das bei den G21 Staaten eben auch solche dabei sind, die nicht ständig versuchen, anderen ihre "Werte" aufzudrücken und das auch gerne mit Putschen und Installation eigener "Staatenlenker" garnieren. Auch wenn die USA und gerade auch die EU immer wieder den Eindruck erwecken, nur ihr Denken und nur "ihre" Werte, die man willkürlich ändert gerade so, wie es einem passt, sei der Maßstab der Menschheit. Es kann nicht anders gehen als auf Russland zu zugehen und endlich den diplomatischen Weg einzuschlagen. Die Mütter und Väter, Partner und Kinder, die Verwandten der Soldaten, die noch nicht gefallen sind und täglich um ihr Leben bangen müssen, haben es verdient, diesen Krieg wie auch immer schnell zu beenden.
Dass das Selenskij nicht schmeckt war klar. Da muss er aber durch.
Und auch was die Klima Hysterie anbetrifft ist es gut, dass eben nicht die Apokalyptiker den Ton angeben, sondern Politiker, die auch an ihr Volk denken und nicht der grünen Sekte blindlings folgen.

Mario Felizzi | Sa., 9. September 2023 - 22:15

"In der EU leben rund 450 Millionen Menschen. "

Die EU sitzt am Katzentisch und hat kein Gewicht.
Das ist nun mal die Realität und wir müssen uns damit abfinden.

Albert Schultheis | So., 10. September 2023 - 00:58

insbesondere die USA - dort nicht mehr viel zu melden hat. Auch eine Folge des Ukraine-Krieges. Und unser feministisches Außen:Milchmädchen braucht sich dort auch nicht blicken zu lassen, wenn sie es überhaupt mit einem deutschen Flieger bis dorthin schaffen würde - ohne Notlandung. Das ist einfach deutsches CO2-Einsparen von seiner schönsten Art! Während die USA mit den Russen diesen Hahnenkampf auf Kosten der Ukraine veranstalten, sind die BRICS und Co erwachsen geworden. Sie brauchen uns nicht mehr. Demokratie und Freiheit - das war einmal unser westliches Tafelsilber, nach dem sich die Welt sehnte! Heute erlebt die Welt, wie die einstmaligen Sehnsuchtsländer der Demokratie und Freiheit sich wie Drogensüchtige selber ruinieren. Und sie wenden sich ab von uns und unseren "Werten". Die Migranten kommen trotzdem zu uns, denn hier ist Selbstbedienung angesagt. Wo gibt's das denn sonst noch? - In den BRICs bestimmt nicht, die können noch 3+3 zusammenzählen.

Heidemarie Heim | So., 10. September 2023 - 17:07

Den eigentlich schon verfassten Kommentar dazu habe ich nach einiger Überlegung gelöscht. Besonders der Teil bezüglich Kranzniederlegung statt Familienfoto war "nicht jugendfrei".
MfG

Tomas Poth | Mo., 11. September 2023 - 12:23

Klimaschützer ein Begriff der leugnet, daß unser Planet und unser Sonnensystem nach seinen eigenen Gesetzmäßigkeiten das Klima auf unserer Erde gestaltet.
In ihrem kindlichen Glauben an Halbwahrheiten, daß ausschließlich der Mensch für den Klimawandel verantwortlich ist, versteigen Sie sich zu absurdem Katastrophengeheul.
Sie sind die Leugner des komplizierten Klimageschehens und Treiber einer Politik die nur neue, andere Schäden anrichtet.

Brigitte Simon | Mo., 11. September 2023 - 14:00

Für mich persönlich werte ich die Nichteinladung, auch keine Videoschaltung, angebracht. Selenskyj muß lernen, daß die Welt nicht bei allen Veranstaltungen ihm zu Füßen liegt. Auch wenn seine Frau ihn als Retter der Menschheit bezeichnet.

Ich verlange von ihm Kooperation mit dem Westen. Was hat er vor, wie sieht seine eventuelle Strategie aus? Nur Agreements mit Biden, der Zahlmeister?
Unter Agreement verstehe ich eine zwischen Staatsmännern getroffene Übereinkunft auf Treu und Glauben, die nicht unbedingt der parlamentarischen Zustimmung oder Ratifikation bedarf.