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Ukraine - Der prekäre Frieden in Europa

Russlands Expansionsdrang bedroht Europa. Im Ukrainekonflikt zeigt uns Putin, dass Deutschland seine die Fähigkeit zur Landes- und Bündnisverteidigung wiederherstellen muss. Inklusive Wehrpflicht

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Karl Feldmeyer war lange Jahre Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und Doyen der sicherheitspolitischen Berichterstattung.

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„Krieg“, das Wort hatte die politische Klasse mit dem Ende des Kalten Krieges aus ihrer Vorstellungswelt verbannt – nicht für den Rest der Welt, wohl aber für Europa. Deutschlands ehemaliger Außenminister Genscher fasste das nach dem Fall der Mauer in Deutschland entstandene neue Lebensgefühl in einem Satz zusammen: „Wir sind von Freunden umzingelt.“ Streitkräfte brauchen wir – wenn überhaupt – dann nur noch für Friedensmissionen in fernen Ländern: Afghanistan, Somalia, Mali, Zentralafrika und wer weiß, wo sonst noch, aber nicht für uns hier in Europa. Landesverteidigung wurde zum alten Hut, den sich niemand mehr aufsetzen wollte. Da war die Aussetzung der Wehrpflicht nur eine selbstverständliche Konsequenz dieser Weltsicht, die vor allem einem entsprach: unseren Wünschen, mehr noch unserem Lebensgefühl.

Argumente, die dieser Sicht entgegenstanden, hatten keine Chance. Die Mehrheit hatte beschlossen, die Erfahrungen der Vergangenheit hätten ausgedient: Vorsorge gegen Krieg, Verteidigungsfähigkeit, Wehrpflicht: Sie alle hatten keinen Platz mehr in unserer schönen neuen Welt. Dieser Traum ist ausgeträumt, und die Forderung nach Reaktivierung der Wehrpflicht wird schon geäußert, wenn auch nur vereinzelt und zum Entsetzen der meisten Zuhörer. Der Mann, der uns vom Irrtum des ewigen Friedens in Europa – ganz gegen unseren Willen – befreit hat, heißt Wladimir Putin. Was Anfang dieses Jahres als Protest der Westukraine gegen eine Rückkehr des Landes in den russischen Hegemonialbereich begann, hat die Ukraine und Europa an den Rand eines veritablen Krieges mit Russland geführt – und niemand weiß, wie lange der prekäre Frieden noch halten wird.

Seit die Krim den Besitzer gewechselt hat und Putin auch seine militärische Macht einsetzt, um sich die Ukraine politisch gefügig zu machen – ja, möglicherweise sogar die politische Landkarte Osteuropas so zu zeichnen, wie sie zu Zeiten der Sowjetunion aussah –, hat unsere Gewissheit, Krieg in Europa sei kein Thema mehr, Risse bekommen. Bundesregierung und Nato haben zwar versichert, im Ukrainekonflikt komme für sie der Einsatz militärischer Mittel nicht in Betracht. Aber allein schon, dass sie sich zu einer derartigen Versicherung veranlasst sahen, verrät, dass dies nicht mehr selbstverständlich ist, denn über Selbstverständliches verliert man keine Worte.

Verständnis für Putin


Dennoch: Zwischen der Überlegung, die Wehrpflicht zu reaktivieren, und einem entsprechenden Parlamentsbeschluss liegen Welten. Dafür gibt es viele Gründe und der wichtigste ist: Wir wollen es nicht. Nicht weil die Wehrpflicht bis zu ihrer 2011 verfügten Aussetzung in der Bevölkerung und bei den Wehrpflichtigen selbst auf Ablehnung gestoßen wäre, sondern weil ihre Reaktivierung unter den derzeitigen Umständen als das Eingeständnis einer Krise, ja einer möglichen Kriegsgefahr empfunden würde, als Beleg einer Veränderung zum Schlechten, gegen die wir uns vehement wehren.

Ein weiterer Grund hat erhebliches Gewicht. Ein erstaunlich großer Teil unserer Bevölkerung bringt Putins Vorgehen Verständnis entgegen. „Putin-Versteher“ werden sie bissig genannt, und unter ihnen finden sich sogar die ehemaligen Bundeskanzler Schmidt und Schröder. Aber auch von Kohl kamen kritische Anmerkungen zu diesem Thema. Selbst ein Mann wie der ehemalige US-Außenminister Kissinger zeigt Verständnis für Putin und hebt hervor, dass die Ukraine für Russland nicht „irgendein beliebiges fremdes Land“ sei, sondern die Wiege Russlands. „Russlands Geschichte begann mit der Kiewer Rus. Von hier aus verbreitete sich die russische Religion. Die Ukraine war jahrhundertelang ein Bestandteil Russlands“, erinnert Kissinger seine Leser.

Es ist vermutlich eine ähnliche Sicht des Ukrainekonflikts in breiten Teilen unseres Landes, die dazu führt, dass die Reaktionen auf die Krise in der Öffentlichkeit – und in der Wirtschaft – gelassen sind. Man bewertet dies quasi als innerrussische Angelegenheit, die einen selbst nichts angeht, bei der man Zuschauer ist und bleiben will. Dass die Politiker dies anders sehen, beunruhigt so lange nicht, wie sie ein militärisches Eingreifen ausschließen und keine Sanktionen stattfinden, die die eigenen Interessen tangieren. Man denke nur an unsere wirtschaftlichen Beziehungen, die wir zu Russland – weit weniger dagegen zur Ukraine – haben und von denen rund 300.000 deutsche Arbeitsplätze abhängen.

Anders sähe unsere Wirklichkeit aus, wenn Putin nicht nur nach der Ukraine greifen sollte, sondern – sollte er Erfolg damit haben – auch nach anderen Teilen der einstigen Sowjetunion. Ob und wie wir reagieren würden, wenn sich Putins Begehrlichkeit auf asiatische Staaten richten würde, die bis vor gut 30 Jahren von Moskau regiert wurden, lässt sich nicht voraussagen. Tadschikistan, Kasachstan, Usbekistan, Kirgisien – sie liegen uns fern, und selbst das ölreiche Aserbaidschan wäre uns wohl keine militärische Intervention wert. Bei den baltischen Staaten lägen die Dinge anders. Estland, Lettland, Litauen, die Hitler einst dem Zugriff der Roten Armee überließ, sind heute nicht nur Mitglieder der EU; sie sind seit 2004 Mitglieder der Nato.

Sie sind aber auch Länder mit einer starken russischen Bevölkerung, deren Loyalität fraglich ist. In Estland sind 25 Prozent der Bevölkerung Russen. In Lettland leben 300.000 „Nichtbürger“, nämlich Russen, die die Annahme eines lettischen Passes verweigern. Was geschähe, wenn sie Putin zur Hilfe riefen? Ohne das Eingreifen der Nato würden diese Staaten wie 1940 Moskaus Opfer. Deshalb wäre Bündnissolidarität im Falle einer russischen Militäraktion eine Frage von Selbstbehauptung oder Scheitern; nicht nur für die baltischen Staaten, sondern für die Nato insgesamt. Putin hätte dann zwei Fliegen auf einmal erschlagen.

Natürlich wäre ein russischer Angriff auf Estland, Lettland oder Litauen nackter Wahnsinn – für uns, aber auch für Russland. Nur: Wer kann garantieren, dass Wahnsinn nicht wieder stattfindet? Es wäre ja nicht das erste Mal. In der Anfangsphase wäre Putin zweifellos im Vorteil, denn was könnte die Nato fürs Erste aufbringen? Die Kräfte der baltischen Staaten sind zu vernachlässigen; Polen hat drei mechanisierte Divisionen, das deutsche Heer ist von einst zwölf Divisionen und 36 Brigaden auf zwei gepanzerte Divisionen und eine luftbewegliche Division aus Fallschirmjägern und Hubschraubern geschrumpft. Hinzu käme das, was Amerika zu stellen bereit wäre – und das ist ungewiss.

Ungleiche Kräfteverhältnisse


Ob Frankreich dabei wäre, bliebe abzuwarten. Als es bis 1989 um die Verteidigung der Bundesrepublik ging, verweigerte sich Frankreich. Die Bundesrepublik war für Paris nur Glacis. Wer diese Zahlen liest, muss bedenken, dass Putin auf eine Armee von etwa einer Million Soldaten zurückgreifen könnte, darunter die 76. Sturmgruppe in Pskow (Pleskau) am Peipus‑See direkt an der Grenze mit Estland. Bis zur Universitätsstadt Tartu (Dorpat) würde dieser Eliteverband nur Minuten fliegen müssen und bis zur Hauptstadt Tallin (Reval) keine Stunde.

Das zeigt: Helfen kann nur, was fertig ist, also einsatzbereit. Mit der direkten militärischen Bedrohung des Baltikums könnte der Augenblick gekommen sein, an dem hierzulande das politische Klima umschlagen würde und eine Mehrheit für die Rückkehr zur Wehrpflicht zustande käme, auch wenn das für den Ausgang des dann angelaufenen Konflikts ohne Bedeutung bleiben würde. Von Cicero und Martial stammt der einst viel zitierte Satz: „Si vis pacem, para bellum“ – „Wenn du den Frieden willst, musst du zum Krieg rüsten.“

Verschenkt, verkauft, verschrottet
 

Der Satz müsste in diesem Fall für die Nato und ihre Mitglieder, zum Beispiel für Deutschland, um das Adjektiv rechtzeitig ergänzt werden. Wehrpflichtige dann einzuberufen, wenn die Hütte brennt, wäre, mit Verlaub, schwachsinnig. Was ergibt sich aus dieser Einsicht? Wenn die westliche Welt, die Nato als Ganzes, insbesondere wir und unsere Nato-Nachbarn es mit unserer Selbstbehauptung ernst meinen, dann müssen wir unsere Fähigkeit zur Landes- und zur Bündnisverteidigung wiederherstellen – und zwar nicht nur vorübergehend, weil eine akute Gefahr droht, sondern auf Dauer als Konsequenz unserer Einsicht, dass es zum Wesen von Gefahren gehört, dass sie unerwartet kommen.

Die Reaktivierung der Wehrpflicht allein aber kann nichts richten. Dazu ist eine Fülle von Maßnahmen erforderlich, insbesondere eine neue Ausrüstung, denn die alte hat die Bundeswehr verschenkt, verkauft, verschrottet. Putin hat öffentlich den Anspruch verkündet, künftig überall dort zu intervenieren, wo die Rechte von Russen – seiner Meinung nach – verletzt werden. Tut er das, so setzt er sich über das Völkerrecht und seine Verpflichtung hinweg, sich nicht in innere Angelegenheiten anderer Staaten einzumischen. Damit wird er zu einer Bedrohung und unkalkulierbaren Größe der internationalen Politik. Darauf muss man sich einstellen. Es gibt keine vernünftige Alternative zur Wiederherstellung der Fähigkeit, sich und die anderen Nato-Mitglieder verteidigen zu können. Dazu ist die Wiederherstellung dessen nötig, was die Nato bis 1991 in die Lage versetzte, den Kalten Krieg erfolgreich zu bestehen, die Wehrpflicht eingeschlossen.

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