„Weinendes Mädchen IV“ von Edvard Munch / dpa

Warum unsere Sprache immer therapeutischer wird - Vergiftete Gefühle

Unsere Sprache ist übertherapiert. Überall wimmelt es von „Narzissten“, „Borderlinern“ und anderen toxischen Typen. Besonders beim Sprechen über Gefühle wird das zur Gefahr.

Autoreninfo

Daniel Haas lebt als freier Autor in Hamburg. Zuletzt war er Kulturkorrespondent der NZZ in Berlin.

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Wie für alles, seien es Turnschuhe, Kleinwagen oder Lippenstifte, gibt es auch für Begriffe und Sprechweisen Phasen der Konjunktur. Das Verhältnis von Angebot und Nachfrage reguliert in weiten Teilen die Sphäre des Ausdrucks. Eine Vokabel oder eine Sprachwendung steht nur so hoch im Kurs, wie sie sich mit Zeitstimmungen und kulturellen Bedürfnissen aufladen kann. Sprachen die Boomer noch von „fetzig“, „dufte“ und „flott“, artikulieren Vertreter der Generation Z Anerkennungswerte mit „nice“ und „goofy“.

Die Boomer, also die zwischen 1946 und 1964 Geborenen, sind vielleicht die letzte Generation, die ihr zeitspezifisches Vokabular relativ unbeschwert verwenden konnte. Zwar war das deutsche Idiom von den Nazis mit einer Mischung aus Bürokratensprech und rassistischer Rhetorik vergiftet worden, aber dank der 68er hatte man die nötigen Lockerungsübungen gemacht. Die sogenannte Spontisprache koordinierte Reklamesprüche, Kraftausdrücke und ein diffuses Revoltebedürfnis im Sinne einer lässig-provokanten Rede, deren Toleranzsignale nicht zu überhören waren. „Legal, illegal, scheißegal“ – derart fasste man in der alten Bundesrepublik eine Migrationsdebatte zusammen.

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Sabine Lehmann | So., 5. Januar 2025 - 00:23

Vor jedem negativen Gefühl steht ein negativer Gedanke, nicht umgekehrt. Das heißt, unsere Gedanken lenken unsere Gefühle, natürlich gilt das auch im positiven Sinn. Zumindest ist diese Kausalität der Regelfall. Insofern hat jeder auch Einfluss auf seine Gefühlswelt, in dem er seine Gedanken steuert.
Die Gesellschaft von heute allerdings wird geprägt von digitalem Schrott, einer Scheinwelt, einem Paralleluniversum, das suggeriert wichtiger zu sein als das reale Leben vor unserer Nase bzw. unseren Augen.
Insofern haben Trends und sogenannte "Influencer" eine unglaubliche Macht erlangt, denn genau sie steuern unsere Gedanken und damit auch unsere Gefühle. Wie sehr uns das Alle mitnimmt, kann jeder mal testen, indem er für lediglich 3 Tage abstinent lebt. Ohne Internet, ohne Handy, ohne TV. Ich wette, das garantiert eine Art Erleuchtung. Es fühlt sich nämlich an, als wäre man einen riesigen inneren Kloß losgeworden. Und damit meine ich nicht Omas leckeren Kartoffelkloß mit Nussbutter;-)

Sie haben Recht, aber wer zwingt uns an der Erzeugung des digitalen Schrotts mitzumachen ?
Eine andere Frage ist, wem nützt der digitale Schrott ? So lange gerade jede persönliche Intimität ins Netzt gestellt werden kann zeugt das m M nur im Absinken den menschlichen (Bildungs-) Niveaus und je dümmer um so besser für die Herrschenden.
Mit besten Grüßen aus der Erfurter Republik

Christoph Kuhlmann | So., 5. Januar 2025 - 09:17

Die Interpenetration des Mainstreams von wissenschaftlicher Theorien und Hypothesen, der diese vorwissenschaftlich als "Wahrheit´´ propagiert, verweist auf den Mangel an Erkenntnistheorie. Die Autoren und Sprecher des Mainstreams weisen, weisen diese Unkenntnis jedes Mal nach, wenn sie wissenschaftliche Fachbegriffe verwenden. In der Wissenschaft gibt es keine wissenschaftlich fundierte Wahrheit, sontern nur Hypothesen, Theorien und Paradigmata von begrenzter temporärer Gültigkeit. Im Mainstream wird kontrafaktisch davon ausgegangen, dass es so etwas wie Wahrheit gibt. Selbst empirisch völlig unbelegte religiöse Überzeugungen werden als Faktum behandelt. Die Wahrheitskonstruktion des Mainstreams moderner und postmoderner Gesellschaften ist stark vom Zugang zu Kommunikationsmedien abhängig. Interessant wäre die Interaktion zwischen Psychologie, einer Wissenschaft, die ihr Paradigma ca. alle 10 Jahre wechselt und des Verwendung ihrer Fachbegriffe im Mainstream zu beobachten.

Zunächst möchte ich Ihnen zustimmen und auf eine Tatsache
aufmerksam machen, die mich zunehmend beunruhigt.

Mir geht es dabei um die Trennung zwischen Soft Facts und Hart Facts.
Meinetwegen kann man den ganzen Genderunsinn noch als "soft"
ansehen, obwohl er mich maßlos stört. Aber im ideolgischen Überbau
kommen dann die radikalen Fundamentalisten und setzen den Teil
"hart" (z. B. Selbstbestimmungsgesetz) auch noch durch. Es ist das
alte Prinzip, reicht man denen den kleinen Finger, nehmen sie gleich die
ganze Hand.

Und das größte Übel ist aus meiner Sicht, die Typen haben ja nicht
ein Ziel, das irgendwann ein Ende ihres Umwandlugs- und
Transformationswahns darstellen würde. Wenn das erste Ziel erreicht
wurde, muss das nächste vorhaben ausgerufen werden, wie bei einer
permanenten Revolution.

Insofern stimmen ich Ihrer Überschrift wieder zu, es handelt sich um den:
"Zeitgeist einer geschichtslosen Schrottkultur"

MfG

Wolfgang Dubbel | So., 5. Januar 2025 - 09:20

sollte man sich noch einen Rest von Orthographie bewahrt haben:
der Narzisst ? Narziß !

Klaus-Peter Götze | So., 5. Januar 2025 - 12:18

Antwort auf von Wolfgang Dubbel

Genau, man könnte auch sagen: Ebent!

Walter Bühler | So., 5. Januar 2025 - 11:17

Vielen Dank für diesen Artikel über einen modernen Missbrauch der Sprache.

Auch nach meiner Beobachtung ist modernes psychologisches Fachvokabular längst in das Waffenarsenal eristischer bzw. diffamatorischer Kampftechniken für alltägliche Auseinandersetzungen übernommen worden.

Da sich heute jeder gerne als wissenschaftlich Gebildeten inszeniert, liegt es nahe, in einer kontroversen Diskussion bei drohender Niederlage schnell die Tarnkappe des "objektiven Wissenschaftlers" aufzusetzen, um vom Streit um die Sache zu einer scheinbar objektiven, diagnostisch-psychologischen Wertung des Kontrahenten zu wechseln (argumentum ad personam). In aller Regel ist das verbunden mit einer provokanten Diffamierung des Gegners ("Giftiger/Toxischer Zwerg" usw.).

Wer diese Mittel anwendet, offenbart damit erfahrungsgemäß nur seine Dummheit, auch wenn er damit seinen Gegner kurzfristig aus der Fassung bringen sollte.

Halbwissen ist oft schlimmer als Nichtwissen, insbesondere auch in der Psychologie.

Angelika Schmidt | So., 5. Januar 2025 - 13:01

trifft es m.E. eher. Boomer haben den Charakter der Menschen aufgrund ihres Verhaltens grob vereinfacht in Arschloch und Nichtarschloch eingeteilt.. Es ging ja nur darum zu erkennen, mit wem man es zu tun hat, um damit adäquat umzugehen.
Heute psychologisiert man am Küchentisch begrifflich differenzierter, hat aber nur mehr Schubladen die man bestückt. Damals wie heute gilt, man kann Menschen nicht "therapieren"/ändern, die das selbst nicht wollen. Tatsächliche Narzissten z.B. sind ohnehin kaum therapierbar. Andererseits muss man sich m.E. aber nicht wundern, wenn dem als Mittel zum Zweck geschulten rationalen homo oeconomicus die Emotionen (und somit er sich selbst) abhanden gekommen sind, er Gefühle nur rational konstruieren, statt fühlen, geschweige denn aushalten kann.
Ich bezweifle, dass das Füllen der emotional inneren Leere durch reizüberflutende und rein rational konstruierte Narrative über Mensch und Welt heilsam und gesund ist.

Rainer Dellinger | So., 5. Januar 2025 - 21:50

Die Menschen im Osten hatten keine sogenannte 68er-Bewegung. Wir brauchten das nicht, denn, wovon der westliche 68er geträumt hat, Maoismus, Stalinismus, erlebten wir in der Realität. Da der Osten wie eine offene Vollzugsanstalt war, haben Ostdeutsche damals viel gelesen, auch Klassiker in Hochdeutsch. Das hat unsere Sprache geprägt. Anfang 90 war ich im Westen auf Grund eines Joint Ventures. Anfangs gab es Verständigungsprobleme unterschiedlicher Ausdrucksweisen im Ablauf einer Technologie. Ein Grund waren z.T. Anglizismen im westdeutschen Vokabular. Im jetzt stellt man fest, eine umgängliche Unterhaltung in der alltäglichen Umgebung und Öffentlichkeit besteht nur aus Satzbausteinen oder wie in Comics, Sprechblasen. Es ist eine Vermischung unterschiedlicher Akzente und Sprachen, der neue Slang. Wie in der alten Zeit, erkennt man anhand der Aussprechweise und Artikulation die Herkunft des Gesprächpartners.
Deutsch ist eine musikalische Sprache mit Rhythmus + Bildlichkeit.

Netznutzer | So., 5. Januar 2025 - 22:25

Was ist ein/eine Mindset, Herr Haas?

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