Fußgängerin im Bankenviertel der kanadischen Hauptstadt Ottawa / picture alliance

Lage in Kanada - Von Schieflagen und Risiken

Kanadas scheidender Premierminister Justin Trudeau hinterlässt ein Land, das sich heute in einer deutlich schlechteren Lage befindet als noch zu Donald Trumps erster Amtszeit. Neue US-Zölle könnten die soziale und ökonomische Situation im Land weiter verschärfen.

Autoreninfo

Allison Fedirka arbeitet als Analystin für die Denkfabrik Geopolitical Futures. Sie hat mehrere Jahre in Südamerika gelebt. 

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Aus geopolitischer Sicht sind die amerikanisch-kanadischen Beziehungen beneidenswert. Die beiden Länder haben nicht die dramatischen historischen, kulturellen und religiösen Unterschiede, die oft zu Konflikten zwischen Nachbarn führen – vor allem zwischen wohlhabenden Ländern. Im Vergleich zu den meisten anderen Ländern genießen beide dank des Pazifischen und des Atlantischen Ozeans ein hohes Maß an physischem Schutz vor potenziellen Feinden, und es ist ihnen gelungen, im weltweiten Vergleich eine friedliche, sichere Grenze aufrechtzuerhalten.

Durch Verträge und Handelsabkommen haben sie Konflikte vermieden und ihre Volkswirtschaften so integriert, dass Stabilität für eines der Länder auch Stabilität für beide bedeutet. So liefert Kanada beispielsweise etwas mehr als die Hälfte seiner Erdölexporte in die USA, und da die Importe 37 Prozent des gesamten US-Erdölverbrauchs ausmachen (ab 2023), ist Kanada für fast 20 Prozent des gesamten US-Verbrauchs verantwortlich. Die USA sind auch auf Kanada angewiesen, wenn es um die Versorgung mit wichtigen Rohstoffen wie Kali, Uran und Holz geht, und die beiden Länder haben hoch integrierte Produktionsketten in wichtigen Wirtschaftszweigen wie der Automobilindustrie – all dies verringert die Anfälligkeit der US-Wirtschaft.

Die Krise hat sich seit langem angebahnt

Vereinfacht ausgedrückt ist Kanada für die Fähigkeit der Vereinigten Staaten, ihre Macht zu demonstrieren, von entscheidender Bedeutung, denn wenn sich Washington nicht um seinen eigenen Hinterhof kümmern muss, hat es mehr Zeit und Ressourcen, die es anderswo einsetzen kann. Aber selbst unter idealen Umständen ist Stabilität nie garantiert. Die Regierung in Ottawa befindet sich in einer politischen Krise, die durch wirtschaftlichen und sozialen Druck ausgelöst wurde. 

Anfang letzter Woche kündigte Premierminister Justin Trudeau seinen Rücktritt von seinem Amt an, das er fast ein Jahrzehnt lang innehatte. Sein Rücktritt geht einher mit einem dramatischen Anstieg der Popularität der Konservativen Partei. Nach allem, was man hört, wird die regierende Liberale Partei bei den bevorstehenden Bundeswahlen die Macht verlieren, da die Konservativen in den Umfragen weit vorne liegen. Ursprünglich waren die Wahlen für den 20. Oktober angesetzt, doch der Rücktritt von Trudeau wird wahrscheinlich zu einem früheren Termin führen, da die Opposition kurz nach der Wiederaufnahme des Parlaments am 24. März eine Vertrauensabstimmung beantragen wird.

Die Krise hat sich seit langem angebahnt. Die steigenden Lebenshaltungskosten, der Arbeitskräftemangel, die Spannungen im Bereich der Einwanderung und der Mangel an bezahlbarem Wohnraum haben die Regierung gezwungen, ihre Politik grundlegend zu überarbeiten. Doch all die Änderungen haben noch nicht die gewünschten Ergebnisse gebracht. Kanadas Inflation erreichte im Juni 2022 einen Höchststand von 8,1 Prozent und ging bis November 2024 auf 1,9 Prozent zurück. Auch wenn sich die Inflation verlangsamt hat, sind die Preise für lebenswichtige Güter für die Verbraucher nach wie vor hoch. 

Community Food Centers Canada schätzt, dass jeder vierte Kanadier in irgendeiner Form von Ernährungsunsicherheit betroffen ist. Diese Zahlen begannen 2019 zu steigen und betrafen nicht nur diejenigen, die in Armut leben, sondern auch etwa 15 Prozent der Menschen, die nicht in Armut leben. Die Löhne blieben nach der Pandemie zunächst hinter der Inflation zurück, haben sich aber inzwischen wieder erholt. Höhere Löhne treiben jedoch die Kosten für Dienstleistungen und Arbeit in die Höhe, während das Wirtschaftswachstum leicht hinter der Inflation zurückbleibt.

Kanadas Bevölkerungsprobleme

Die Regierung hat um eine Politik gerungen, die es ihr ermöglicht, dem Arbeitskräftemangel in kritischen Bereichen erfolgreich zu begegnen, ohne sich zu sehr auf die Einwanderung zu verlassen. Seit der Pandemie hat Kanada große demografische Veränderungen erlebt. Die Geburtenrate ist auf einem Rekordtief (1,33 Geburten pro Frau im Jahr 2022), und die Zahl der Millennials übersteigt inzwischen die der Babyboomer. Und die Bevölkerungsbewegungen zwischen den Provinzen haben den höchsten Stand seit den 1990er Jahren erreicht, was im Großen und Ganzen dazu führt, dass die Menschen die städtischen Gebiete verlassen und in ländlichere Gegenden ziehen. 

In den letzten Jahren hat sich die Regierung auf die Einwanderung verlassen, um Kanadas Bevölkerungsprobleme auszugleichen. Im vergangenen Jahr belief sich die Gesamtbevölkerung des Landes auf 40 Millionen, und das Bevölkerungswachstum war das höchste seit fast 70 Jahren (3,2 Prozent). Fast das gesamte Bevölkerungswachstum des Landes (97,6 Prozent) ist auf die Einwanderung zurückzuführen, wobei 6,2 Prozent der Gesamtbevölkerung auf vorübergehend ansässige Personen entfallen.

Kanada wendet ein Punktesystem an, um den Einwanderungsstatus zu vergeben, das in der Vergangenheit vor allem Angestellte und hochqualifizierte Personen begünstigte. Viele derjenigen, die nach Kanada eingewandert sind, konnten jedoch keine Arbeit finden, die ihren Qualifikationen entsprach. Dies war darauf zurückzuführen, dass die Qualifikationen der Arbeitskräfte und die Arbeitsplätze nicht übereinstimmten und die Wirtschaft nicht in der Lage war, im gleichen Maße wie das Bevölkerungswachstum Arbeitsplätze zu schaffen. 

Im Jahr 2021 lockerte die Regierung die Einwanderungsbestimmungen, um die Attraktivität von Arbeitsplätzen für die Arbeiterklasse zu erhöhen. Zwei Jahre später lockerte die Regierung die Vorschriften, um mehr Einwanderern die Möglichkeit zu geben, im Land zu arbeiten. Dazu gehörten höhere Einwanderungsquoten, die Verpflichtung, eine Arbeitserlaubnis zu beantragen, wenn sie bereits im Land sind, und die Möglichkeit für internationale Studenten, bis zu 20 Stunden pro Woche zu arbeiten.

Druck auf den Arbeitskräftemangel noch erhöht

Diese Maßnahmen konnten den Arbeitskräftemangel aber nicht beheben. Die Nachfrage nach qualifizierter Arbeit übersteigt nach wie vor das Angebot an Handwerkern und Arbeitern, insbesondere im Baugewerbe, im Handel, in der Landwirtschaft, im Transportwesen und im Gesundheitswesen. Dies wiederum hat die Arbeitskosten in die Höhe getrieben, zu Verzögerungen bei den Dienstleistungen geführt und die Qualitätskontrollstandards unter Druck gesetzt. Es ist zu befürchten, dass der Mangel an Arbeitskräften anhalten wird: Etwa 700.000 der vier Millionen kanadischen Handelsangestellten werden bis 2030 in den Ruhestand gehen, was den Druck auf den Arbeitskräftemangel noch erhöht.

Der Arbeitskräftemangel, die langsame wirtschaftliche Erholung und die Einwanderungspolitik der Regierung werden als Hauptursachen für die kanadische Immobilienkrise angesehen. Von 2000 bis 2021 stiegen die Immobilienpreise in Kanada um 355 Prozent, während das nominale Medianeinkommen nur um 113 Prozent zunahm. Eine niedrigere Inflation und niedrigere Zinssätze haben diesen Trend nicht umkehren können. Die zunehmende Einwanderung und der Arbeitskräftemangel im Baugewerbe und im Handel haben die Preise in die Höhe getrieben und das Wachstum des Angebots an verfügbaren Wohnungen verlangsamt. 

Marktindikatoren wie Verkäufe vor Baubeginn und Verkäufe neuer Eigentumswohnungen sind 2024 weiter gesunken, was darauf hindeutet, dass das Problem in nächster Zeit weiter bestehen wird. Marktanalysten schätzen, dass es im günstigsten Fall mindestens fünf oder sechs Jahre dauern wird, bis das Angebot die Nachfrage eingeholt hat.

Die Finanzialisierung des Wohnungsbaus

Akademiker und einige Marktanalysten haben auch strukturelle Verschiebungen im Bereich des Wohneigentums als Teil des Problems ausgemacht. Vor etwa 50 Jahren gab es in Kanada mehr staatliche Programme zur Finanzierung des sozialen Wohnungsbaus. Diese Programme wurden in den 1990er Jahren reduziert oder abgeschafft. Experten weisen auch darauf hin, dass die Finanzialisierung des Wohnungsbaus zunahm, nachdem die Canada Mortgage and Housing Corporation vom Bau von Häusern auf die Versicherung von Hypotheken umgestiegen war. 

Infolgedessen, so die Argumentation, wurde das Wohnen eher als Mittel zur Vermögensbildung denn als soziales Grundbedürfnis angesehen. Die zunehmende Bedeutung von Kurzzeitvermietungen wie Airbnb hat ebenfalls zu diesem Problem beigetragen. Etwa 20 Prozent der Wohnimmobilien in British Columbia und Ontario (zwei Provinzen mit einigen der größten Erschwinglichkeitsprobleme) sind im Besitz von Investoren.

Wirtschaftliche Probleme führen zu sozialen Unruhen

Die Bemühungen der Regierung, den Druck auf die Immobilienpreise zu verringern, scheinen gescheitert zu sein. Mehr als 50 Prozent der Kanadier machen sich Sorgen, ob sie ihre Hypothek oder Miete bezahlen können, und ähnlich viele geben an, dass sie ihr Haus verlieren könnten, wenn sich ihre finanzielle Situation verschlechtert. Zwei Drittel der Kanadier mit Hypotheken haben Berichten zufolge bereits Probleme, ihren finanziellen Verpflichtungen nachzukommen. Im Frühjahr 2024 wurde ein neuer Wohnungsbauplan auf den Weg gebracht, der bis zum Jahr 2031 3,87 Millionen neue Wohnungen „freisetzen“ soll. Auch hier wird die Herausforderung darin bestehen, umfangreiche Bundesprogramme zu finanzieren, um den sozioökonomischen Bedürfnissen der Bevölkerung gerecht zu werden.

Es überrascht nicht, dass diese wirtschaftlichen Probleme zu sozialen Unruhen geführt haben. Bürger und längerfristig ansässige Personen konkurrieren mit neuen Einwanderern und vorübergehend Ansässigen um staatliche Mittel. Der Zustrom von Einwanderern war auch für die kanadische Gesellschaft schwer zu verkraften, was zu einer mangelnden Assimilierung der verschiedenen Einwanderergruppen geführt hat, die oft in halb isolierten Gemeinschaften und in eher marginalen Positionen verbleiben, ähnlich wie es in vielen europäischen Ländern der Fall ist.

All dies bedeutet, dass Kanada weder sozial noch wirtschaftlich so stabil ist, wie es das während der ersten Präsidentschaft von Donald Trump war. Einige warnen, dass Kanada aufgrund seines langsamen Wirtschaftswachstums und seiner strukturellen Probleme nicht in der Lage ist, Schocks wie neue Zölle aus den Vereinigten Staaten aufzufangen. Wirtschaftswissenschaftler schätzen, dass die kanadische Wirtschaft um 2,6 bis 3,8 Prozent schrumpfen würde, wenn Trump seine pauschalen Zölle von 25 Prozent durchsetzen würde. 

Vergeltungsmaßnahmen seitens Kanadas könnten diese Zahl auf bis zu 5,6 Prozent ansteigen lassen, so die Ökonomen der Scotiabank. Ein derartiger Rückgang würde zu größerer Instabilität in Kanada führen und könnte sich auch auf die USA auswirken. Dies könnte leicht zu mehr undokumentierter Migration, mehr grenzüberschreitendem Warenschmuggel und anderen Sicherheitsbedenken führen. In diesem Sinne müssen die USA bei der Gestaltung ihrer Handelspolitik für Kanada berücksichtigen, wie sie sich auf die amerikanischen Verbraucher auswirken würde.

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Ernst-Günther Konrad | Di., 14. Januar 2025 - 09:56

Wer hat da regiert und wer hat diese Wirtschaft in Kanada stetig weiter dem Abgrund zugeführt? Das kennen wir doch alles aus Deutschland. Wo links-grüne woke Ideologen regieren, passiert genau das.
Es liegt an den Kanadiern aufzuwachen, so wie es an uns Deutschen liegt, aufzuwachen und die Wohlstandszerstörer und Staatsfeinde endlich aus dem Rennen zu nehmen.
Augen auf bei der nächsten Wahl.

Jens Böhme | Di., 14. Januar 2025 - 11:45

Antwort auf von Ernst-Günther Konrad

Den Fachkräftemangel wird auch eine konservative Regierung nicht per Armschütteln beseitigen. Die Verteuerung der Lebenshaltungskosten (Inflation) sind kein Phänomen links-grüner Politik. Kapitalismus geht nicht ohne Kaptialismus. Und globale Wirtschaft macht nicht an der Landesgrenze halt. Der politische Westen hat nach 1989/90 völlig die Orientierung verloren und das Handeln (mehrdeutig) anderen Staaten überlassen. Der Handelskrieg der westlichen Länder untereinander wird sich dadurch verschärfen. Zudem gibt es immer weniger Schlüsselindustrien. Die wurden ausgelagert, weil dort billiger produzieren. Zurückholen ist nicht, da die asiatische Konkurrenz besser arbeitet, als neu auszubildende, einheimische Stahlarbeiter oder Autobauer.

Henri Lassalle | Di., 14. Januar 2025 - 16:21

Stimmt. Auch was meinen 2. Wohnsitz, der Landkreis Starnberg angeht, aber auch in München und Umland: Die Mieten sind für niedrige u. mittlere Einkommen kaum mehr bezahlbar, Eigentumswohnungen sind sehr teuer. Vielen droht Altersarmut.
Dazu kommen die ukrainischen Flüchtlinge, aussereuropäische Migranten...wo sollen die wohnen? Sie werden sich nicht dauerhaft mit Unterkünften in Zelten oder Turnhallen zufriedengeben. Dann aber sieht man Wahlplakate der SPD mit Vollbildporträt von Olaf Scholz; an Dreistigkeit ist das nicht zu überbieten.
Kanada hat ein sehr ähnliches Problem wie Deutschland: Viele Einwanderer, die eine Wohnung brauchen. Die idealistische Regierung Trudeau hat die Realität nicht vorhergesehen. Jetzt kommt eine signifikant härtere Gangart durch den neuen Regierungschef.

Herr Lassalle, ich würde nicht sagen: "Die *idealistische* Regierung Trudeau hat die Realität nicht vorhergesehen." Es müßte eher heißen, die *ideologisierte* Regierung Trudeau hat die Realität nicht vorhergesehen.
Herr Trudeau gehörte auch zu den Jüngern des Herrn Schwab.

Tomas Poth | Di., 14. Januar 2025 - 19:53

... und eine Schweizer Studie zur Migration.
Beide bestätigen es, Migration und Zuwanderung erhöhen den Arbeitskräftemangel. Die Menschen die kommen generieren Bedürfnisse (Produkte und Dienstleistungen) in den Sektoren, wo die Fachkräfte durch den erhöhten Konsum/Nachfrage an Produkten fehlen!
Das ist eine selbstverstärkende wirtschaftliche Mißlage.
Abgesehen von der Zerstörung der heimischen Kultur durch Multikulti, bis es völlig kulturlos und archaisch wird.
Migration ist in jeder Hinsicht ein Verlustgeschäft!
Es läuft auf einen Bürgerkrieg bei uns zu!

Karla Vetter | Di., 14. Januar 2025 - 20:52

ist für viele USA-Hasser das "bessere Amerika". Ich konnte zwar auch schon bei unseren Reisen nach USA und anschließend nach Kanada, damals um die 2000er Wende, diesen Unterschied nicht wirklich erkennen. Wir waren sowohl an der Ost- wie an der traumhaften Westküste. Genau wie in USA in den New-Englandstaaten, gibt es mit dem französisch geprägten Quebec europäisch anmutende Gebiete. Unberührte Natur und wunderbar pulsierende Großstädte findet man ebenso hier wie dort. Genauso auch Armseliges. Vor die Wahl gestellt lieber Vancouver oder Seattle hätte ich tatsächlich ein Problem. Kein Problem hätte ich mit der Wahl ob Trump oder Trudeau. Aber dessen Wokness kommt ja auch vor dem Fall.

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