Ob mit manchen von ihnen vielleicht doch ein Dialog möglich ist? Pro-Palästina-Camp auf dem Geschwister-Scholl-Platz vor der LMU München / dpa

Diskussionen über den Gazakrieg - Nicht nur Schwarz oder Weiß

Anders als das barbarische Pogrom vom 7. Oktober entziehen sich Diskussionen über den Gazakrieg moralischer Eindeutigkeit. Wenn aber unterschiedliche Meinungen zulässig sind, muss auch der Austausch derselben möglich sein.

Autoreninfo

Maram Stern ist geschäftsführender Vizepräsident des Jüdischen Weltkongresses und lebt in Brüssel.

 

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Der 7. Oktober 2023 wird als einer der schwärzesten Tage in die Geschichte des jüdischen Volkes eingehen. Nicht nur wegen der bestialischen Ermordung von rund zwölfhundert israelischen Zivilisten, sondern auch wegen der darüber weltweit geäußerten Freude. 

Die Feiern auf der Berliner Sonnenallee oder dem Campus der Cornell University machten deutlich, dass der Hass auf Juden offenbar nicht auf eine Gruppe fanatischer Islamisten im Gazastreifen beschränkt war. Im Nachgang des Massakers schnellte die Zahl der antisemitischen Straftaten in die Höhe. Die deutsche Polizeistatistik allein spricht eine deutliche Sprache. Aber nicht nur hierzulande, sondern weltweit fühlten Juden sich so bedroht wie seit langem nicht mehr. 

Leider hat sich die Lage in den acht Monaten, die seither vergangen sind, nicht beruhigt, sondern weiter aufgeheizt. Das jüngste Kapitel sind die Auseinandersetzungen an vielen Hochschulen in Europa und den USA, in deren Zuge es zu Bedrohungen jüdischer Studenten gekommen ist und die dazu geführt haben, dass viele von ihnen sich an ihren Universitäten nicht mehr sicher fühlen.

Wer den Mord an feiernden Jugendlichen nicht verurteilt, stellt sich außerhalb jeglichen Dialogs

Was kann man tun? Zunächst einmal sollten wir uns klarmachen, dass wir es mit unterschiedlichen Phänomenen zu tun haben, auf die man unterschiedlich reagieren muss. Der 7. Oktober 2023 war eines der seltenen Ereignisse, die sich dem üblichen Grau-Grau politischer Analyse entziehen. Angesichts des unfassbaren Terrors der Hamas blieb kein Platz für ein „Einerseits-andererseits“, alles war schwarz und weiß. Wer den Mord an feiernden Jugendlichen, harmlosen Zivilisten und sogar Schwangeren nicht unmissverständlich verurteilt, für den fehlt mir jedes Verständnis. Wer so handelt, stellt sich außerhalb jeglichen Dialogs. Ich befürchte, mit solchen Menschen ein Gespräch führen zu wollen, ist sinnlos.

Das bedeutet indes nicht, dass für Kontext oder Folgen des 7. Oktober das Gleiche gilt. Natürlich kann über die Frage diskutiert werden, wie es zu der Radikalisierung der Bevölkerung von Gaza gekommen ist, die der Hamas die Rekrutierung so vieler Freiwilliger erst möglich gemacht hat. Selbstverständlich darf man unterschiedlicher Meinung sein, ob das israelische Vorgehen gegen die radikalislamische Terrororganisation den Tod zu vieler unschuldiger Zivilisten in Kauf nimmt. Vollauf verständlich ist auch, dass diese Diskussionen emotional verlaufen. Angesichts der furchtbaren Opfer auf beiden Seiten kann es kaum anders sein. 

Ebenso entziehen sich diese Diskussionen moralischer Eindeutigkeit. Hier ist vieles eben nicht mehr schwarz oder weiß, sondern grau. Und das muss den Stil der Diskussion prägen. Zum 7. Oktober ist nur eine Meinung moralisch zulässig, zu Gaza nicht. Wenn aber unterschiedliche Meinungen zulässig sind, muss auch der Austausch derselben möglich sein. Angesichts der Heftigkeit der momentanen Diskussion mag diese Forderung naiv erscheinen. Verteidiger und Kritiker Israels schreien sich an, selbsternannte Advokaten der Palästinenser sprechen vom „Genozid“ und rufen zur „Intifada“ auf, ihre Gegner wiederum werfen ihnen, häufig ziemlich pauschal, Antisemitismus vor. 

Es sollte alles vermieden werden, was als Drohung aufgefasst werden kann

Beide Seiten haben also Grund zur Abrüstung und sollten auch ein Interesse daran haben. Denn die lautstark ausgetragenen Meinungsverschiedenheiten werden sich nicht einfach abräumen, die Beteiligten sich nicht mundtot machen lassen. Der israelisch-palästinensische Konflikt ist über 100 Jahre alt und wird sich bedauerlicherweise auch in den kommenden Jahren nicht lösen lassen, schon gar nicht auf eine Weise, die beide Seiten restlos zufriedenstellt. Zudem haben die jüngsten Auseinandersetzungen eine Metaebene, die über die konkreten Meinungsverschiedenheiten hinausstrahlt. Ich rede von der Frage von Meinungsfreiheit und Antisemitismus, von legitimer Kritik und Hate Speech.

Jede Diskussion sollte deshalb mit der Annahme beginnen, dass beide Seiten ein aufrichtiges Interesse haben. Wir sollten denjenigen, die für einen Waffenstillstand in Gaza eintreten, abnehmen, dass sie ernsthaft um das Leben der palästinensischen Zivilbevölkerung besorgt und nicht Parteigänger der Hamas sind. Und den Gegnern einer sofortigen Waffenruhe sollte keine Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid unschuldiger Palästinenser unterstellt werden, sondern ein echtes Interesse an Israels Sicherheit und der Rettung der Geiseln.

Die zweite Voraussetzung für einen auf gegenseitiges Verständnis ausgerichteten Dialog ist das Bemühen, alles zu vermeiden, was auf der anderen Seite das Gefühl der Bedrohung auslöst. Es versteht sich von selbst, dass Gewaltandrohungen oder gar physische Gewalt vollkommen inakzeptabel sind. Aber auch darüber hinaus würde ich mir wünschen, dass alles vermieden wird, was als Drohung aufgefasst werden kann. Mir ist bewusst, dass „Intifada“ nicht zwangsläufig ein bewaffneter Aufstand ist. Spätestens seit der Zweiten Intifada, deren Selbstmordattentate mehr als tausend israelischen Zivilisten das Leben gekostet hat, ist die gewaltsame Variante aber nicht ausgeschlossen. Wieso ist es nicht möglich, eine andere, eindeutiger Formulierung zu finden, wenn man meint, zum zivilen palästinensischen Widerstand aufrufen zu müssen? 

Israel stellt trotz aller Widrigkeiten weiterhin die Lebensversicherung für Juden dar 

Das gleiche gilt für den berühmt-berüchtigten Slogan „From the river to the sea – Palestine will be free“. Statt im Nachhinein zu erklären, damit werde nicht der ethnischen Säuberung Israels das Wort geredet, sondern lediglich die Forderung nach gleichen Rechten für alle zwischen Jordan und Mittelmeer lebende Menschen erhoben oder ein wirklich bi-nationaler Staat gefordert, könnte man doch eine Formulierung wählen, die bedrohliche Zweideutigkeiten vermeidet. 

Umgekehrt möchte ich alle Verteidiger Israels und meine jüdischen Freunde auffordern, zunächst in guter Absicht immer davon auszugehen, dass das Gegenüber die harmlose Bedeutung seiner Slogans im Kopf hat, und dies zum Ausgangspunkt eines Gesprächs zu machen. Die Frage, was eigentlich mit einer bestimmten Forderung gemeint ist, kann der Auftakt zu einem ernsthaften Gedankenaustausch sein. 

In einigen Fällen mag daran angesichts der Aufgeheiztheit der Situation nicht zu denken sein, in andere werden sich die Angesprochenen dem Dialog verweigern, in wieder anderen aber mag er gelingen und zu einem vertieften gegenseitigen Verständnis beitragen. Nur dann können wir auch erklären, wo israelbezogener Antisemitismus wirklich anfängt, wieso Israel trotz aller Widrigkeiten weiterhin die Lebensversicherung für uns Juden darstellt und weshalb die Forderung, alle Israelis sollten in ihre „Heimatländer“ zurückkehren, 75 Jahre nach Gründung des jüdischen Staates auch aus Sicht eines Antizionisten schlichtweg Unfug ist. Es erübrigt sich beinahe, darauf hinzuweisen, dass das im Umkehrschluss auch die Empathie für palästinensisches Leid erfordert.

Die Geschichte des Nahostkonflikts ist auch die Geschichte vereinfachter und einseitiger Erklärungen und Schuldzuweisungen. Wir sollten helfen, das zu ändern. Das wird auch helfen zu erkennen, wer die wahren Antisemiten sind. Zu meinem großen Bedauern sind sie zahlreich genug.

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Heidemarie Heim | Fr., 21. Juni 2024 - 10:44

Mehr ist nach solchem an den Tag gelegten und den sich selbst entlarvenden kompromisslos gelebten Hass m.E. nicht drin werter Herr Stern. Wie viele Warnungen, Drohungen, Attentate, Provokationen, geschlagene Wunden hält der Friedfertige oder Gerechte aus bis er sich außerstande fühlt dem Angreifer wie es die Bergpredigt fordert anstatt Auge um Auge, also der Rache zu entsagen, die andere Wange hinzuhalten? Meine Prüfung dahingehend, besser Zäsur, war und ist bis heute 9/11. Die Bilder jubelnder Palästinenser u. anderer, die zum Abzählen erhobenen Finger des Osama Bin Laden zu jedem Einschlag der mit Zivilisten besetzten Passagiermaschinen unter dem Jubel seiner Mitterroristen haben schon damals etwas mit mir gemacht. Nach dem Schock über diese Brutalität, der Erkenntnis zu was der Hass, zu welcher Empathie-u. Lieblosigkeit er die Menschen treibt, fühlte ich entgegen meiner sonstigen Natur einen unbändigen Willen zu Rache u. assoziiere ich Jubel bis dato auch damit. MfG

Hans Jürgen Wienroth | Fr., 21. Juni 2024 - 12:10

Antwort auf von Heidemarie Heim

Ich kann Ihnen nur zustimmen. Es ist für mich erschreckend, wie vereinfacht der Autor hier die Lage der Weltpolitik darstellt. Bereits mit dem von Ihnen genannten Anschlag an 09/11 hat der Westen versagt, indem er klare Linien gegen den Terror vermissen ließ.

Heute hoffieren viele Staatsmenschen die islamistischen Terroristen, predigen Menschlichkeit gegen unmenschliche Barbaren, deren offen erklärtes Ziel die Ausrottung aller Ungläubigen auf der Erde ist. Was glauben denn die Politiker, wie lange es dauert, bis es die eigenen Bürger trifft?

Die Hamas hat seit Jahrzehnten die volle Unterstützung der Bevölkerung, die hinter dem Ziel der Rückeroberung des israelischen Gebietes steht. Da gibt es keine Verhandlungen, selbst wenn man sich noch so bemüht. Gleiches gilt für die Hisbollah und die Huthi. Das ist kein Kampf mehr gegen Israel, das ist ein Kampf gegen die westlichen Werte. Da gibt es keinen Frieden mehr. Nur hat das „der Westen“ noch nicht verstanden, gräbt sein eigenes Grab.

Wurde 1972 als Jugendliche von meinem Sportverein mit einigen Kameraden/Innen ausgelost, um nach München zu den Olympischen Spielen zu fahren. Statt dessen Bilder von schwarzvermummten, palästinensischen "RAF-Trainingspartnern" aus Nahost, eine sichtlich überforderte Polizei u. eine reißerische Presse, die ohne Rücksicht auf eine mögliche Geiselbefreiung voll Tag und Nacht draufhielt zugunsten der Geiselnehmer. Wie gesagt "Der Kampf geht weiter Holger"-Sympathisanten, ihre Freunde bis heute, weshalb sie u.a. 1977 auch die Stammheimer mittels der "Landshut" freipressen wollten u. zur Untermauerung ihres Willens den Flugkapitän Jürgen Schumann hinrichteten u. die Geiseln mit Schnaps übergossen um sie zu verbrennen falls man nicht auf die Forderungen einginge. Mein Gott, mein Langzeitgedächtnis macht heute Überstunden! Vom linksextremistischen RAF-Terror, der unseren "Schweinestaat" bekämpfte u. beseitigen wollte, will um beim Begriff zu bleiben natürlich heute keine Sau mehr was wissen!?

Helmut Bachmann | Fr., 21. Juni 2024 - 12:01

Nur darf der Ansatz auch nicht naiv sein. Die Formulierung "Umgekehrt möchte ich alle Verteidiger Israels und meine jüdischen Freunde auffordern, zunächst in guter Absicht immer davon auszugehen, dass das Gegenüber die harmlose Bedeutung seiner Slogans im Kopf hat, und dies zum Ausgangspunkt eines Gesprächs zu machen." ist so nicht sinnvoll. Man kann sicher und sollte auch nachfragen, ob jemand, der einen faschistischen Slogan benutzt, vielleicht was anderes meint und sich nur dumm ausdrückt. Aber man sollte sich auch nicht lächerlich machen. Grundlage eines Friedens kann nur sein, dass man die Hamas als zu zerstörende Einheit sieht und dass die Freilassung der Geiseln oberste Priorität hat. Diese beiden Dinge sind für viele Linksverdrehte, inkl. UN offenbar nicht klar. Damit erübrigt sich dann jedoch eine Debatte, wenn man nicht in kurzer Zeit einen weiteren 7.Oktober erleben will.

H. Stellbrink | Fr., 21. Juni 2024 - 12:28

Golda Meir hat einmal gesagt, dass sich die arabischen Staaten nach einem verlorenen Angriffskrieg gegen Israel einfach zurückziehen und Kräfte für das nächste Mal sammeln könnten. Israel hingegen könne einen Krieg nur einmal verlieren.
Für ein kleines Volk wie die Israelis, die einzige Bastion der Demokratie im Nahen Osten, ist die einzige Chance zum Überleben, nie besiegt zu werden.
So können auch keine Geiseln im Gazastreifen zurückgelassen und dem Terror vom 7.10.23 im Nachhinein ein Erfolge zugebilligt werden.
Israel hat alles Recht, ja sogar die Pflicht, diesen Krieg bis zur Befreiung der letzten Geisel oder ihres Leichnams zu Ende zu bringen. Verhandlungen über irgendeine Lösung kommen erst danach.

O. Langner | Fr., 21. Juni 2024 - 14:31

... in guter Absicht immer davon auszugehen, dass das Gegenüber die harmlose Bedeutung seiner Slogans im Kopf hat ...

Das ist schwer vorstellbar, aber ja - man es sollte es trotzdem annehmen, auch wenn es naiv erscheint.

Henri Lassalle | Fr., 21. Juni 2024 - 15:01

jüdische Menschen leben. Das Problem im ehemaligen Palästina ist die Tatsache, dass die Gründung und, seien wir ehrlich, die partielle Extension des Staates Israel (Besiedlung) von den Palästinensern als Fremdkörper empfunden wird.
Es gäbe eine Lösung, eine psychologische, die viel Arbeit und Mühen erfordern würde: Die Existenz des Staates Israel seitens der Pälestinenser zu akzeptieren, ohne wenn und aber, Einsichten in die unumkehrbare Realität zu schaffen.
Die Hamas wird Israel nicht beseitigen können, die Palästinenser können dies auch nicht. Da hilft nur Therapie. Und dazu braucht man die Implikation beider Parteien.
Aber mit der Hamas diskutieren - das geht nicht. Mit Fanatikern kann man nicht rationale Dialoge führen. Deshalb wird Israel wohl weiter um seine Existenz kämpfen müssen, so tragisch das auch ist.

Albert Schultheis | Fr., 21. Juni 2024 - 15:06

Zwei höchst problematische, ja existenzgefährdende Voraussetzungen - davor kann man Israel nur warnen:
1. "dass beide Seiten ein aufrichtiges Interesse haben." - Haben sie aber nicht! Insbesondere muss man der Hamas infolge des Zivilisationsbruchs des 7. Oktober jegliches "aufrichtige Interesse" absprechen. Das sind barbarische Mörder mit denen kein Kompromiss möglich ist.
2. "auf gegenseitiges Verständnis ausgerichteten Dialog ist das Bemühen, alles zu vermeiden, was auf der anderen Seite das Gefühl der Bedrohung auslöst." - Sorry, wie naiv ist das denn? Allein das "Gefühl der Bedrohung" wird für lange Zeit zwar nicht Frieden, aber eine Art antagonistischer Homöostasis ermöglichen. Sobald Israel anfängt, das zu leugnen, ist es verloren!
Das bedeutet nicht, man sollte erz-zionistischen Rassisten, die es auch gibt, nicht entschieden entgegentreten.
Die Menschen im Gaza müssen aber notfalls dazu gezwungen werden zu begreifen, dass ihr Weg des Hasses und der Mordlust nur ins Elend führt.