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(picture alliance) "An den Märkten wurden abnormale Risiken eingegangen"

Jean-Claude Trichet - „Die größte Krise seit dem Weltkrieg“

Der ehemalige Präsident der Europäischen Zentralbank spricht über die Notwendigkeit von weiteren Bankenrettungen, Johann Wolfgang von Goethe und seine Enkelinnen. Ein Gespräch mit Jean-Claude Trichet

Herr Trichet, als Sie vor acht Jahren die Nachfolge von Wim Duisenberg als Präsident der Europäischen Zentralbank antraten, hätten Sie da auch nur in Ihren schlimmsten Albträumen damit gerechnet, dass am Ende Ihrer Amtszeit der Euro am Rande des Abgrunds steht?
Da muss ich Ihnen gleich widersprechen, der Euro steht nicht am Abgrund. Die Europäische Zentralbank hat es geschafft, den Wert des Euro seit seiner Einführung zu erhalten, und sie hat ihre vorrangige Aufgabe, die Gewährleistung von Preisstabilität, erfolgreich erfüllt. Die durchschnittliche jährliche Inflation lag in den vergangenen 13 Jahren unter 2 Prozent, in Deutschland sogar bei lediglich 1,55 Prozent. Dies ist ein besseres Ergebnis, als es die Vorgängerwährungen, einschließlich der D-Mark, in den vergangenen 50 Jahren erzielt haben.

Sie betonen immer wieder die Preisstabilität. Die englische „Financial Times“ bemerkte dazu kürzlich: „Lieber einen etwas schwächeren Euro als gar keinen.“ Sie können doch nicht ernsthaft leugnen, dass sich die Eurozone derzeit in einer schweren Krise befindet.
Im Zuge der Belastung durch die globale Krise wurden im Euroraum Schwachstellen offengelegt. Das trifft auch auf alle übrigen fortgeschrittenen Industrienationen zu. Seit nunmehr vier Jahren befinden wir uns in einer schweren Krise, die durch die Subprime-Kredite in den USA ausgelöst wurde. Jetzt müssen wir alle Schwachstellen korrigieren. Im Eurogebiet gilt es, die Aufsicht zu verbessern.

Die Amerikaner scheinen vergessen zu haben, dass es bei ihnen losging. Präsident Obama gibt mittlerweile ständig Ratschläge, wie Europa mit seiner Schuldenkrise umzugehen habe. Sollte er nicht zunächst mal vor der eigenen Tür kehren?
Wir erleben derzeit eine globale Krise. Wir sind alle eng miteinander verbunden. Als die Finanzkrise, die eine Folge der US-Subprime-Kredite und der Insolvenz von Lehman Brothers war, uns Europäer traf, teilten auch wir den Vereinigten Staaten unsere Sichtweise mit. Jetzt, wo sich die Krise nach Europa verlagert hat, blicken nicht nur die USA, sondern auch der Rest der Welt, inklusive der im Kreis der G 20 vertretenen aufstrebenden Volkswirtschaften, auf uns. Man erwartet von Europa, dass wir die Staatsschuldenkrise überwinden. Aber ich muss noch mal betonen, dass es sich bei der Krise nicht in erster Linie um eine Krise der Währung oder gar der EZB handelt. Die Krise ist im Wesentlichen darauf zurückzuführen, dass eine verantwortungslose Finanzpolitik betrieben wurde und die im Stabilitäts- und Wachstumspakt vorgesehene rigorose Überwachung nicht erfolgte.

Sie haben an der Spitze der EZB die ganze Krise hautnah miterlebt. Auch wenn einige europäische Staaten sich im Moment nicht mehr selbstständig refinanzieren können, ist nicht einer der Gründe für die Krise, dass es aufgrund der langen Niedrigzinspolitik zu viel Geld auf der Welt gibt?
Was den Beginn der Krise anbelangt, so trifft dies zu. In den Jahren davor war die Haltung der Finanzinstitute und Marktteilnehmer über lange Zeit zu lax. An den Märkten wurden abnormale Risiken eingegangen. Die Bankenaufsicht war locker und wirkte dem Entstehen der Kreditblase nicht entgegen. Gleichzeitig haben die Regierungen keine solide und nachhaltige Haushaltspolitik betrieben. Die systemische Fragilität des Finanzsystems hatte ihren Höhepunkt erreicht. Vor drei Jahren hat uns alle dann ein lauter und schmerzhafter Weckruf ereilt.

Ist das, wenn wir noch weiter zurückgehen, die Folge eines fast schon ideologischen Marktverständnisses in den USA, das zurückgeht bis zum Ökonomen Milton Friedman und der Präsidentschaft von Ronald Reagan, in deren Folge sich das Finanzsystem teilweise von der wertschöpfenden Realwirtschaft abgekoppelt hat?
Die wichtigste Lehre aus der Finanzkrise ist eindeutig, dass Marktwirtschaften Regeln und Vorschriften brauchen, die den systemischen Risiken entsprechen und regelmäßig aktualisiert werden müssen, wobei die technologischen Fortschritte und die Finanzinnovationen zu berücksichtigen sind.

Gab es diese Entwicklung nur in den USA und Großbritannien?
Der Weg hin zur Deregulierung hatte seine Wurzeln in den wichtigsten Finanzplätzen der Welt, aber sie hat sich weltweit ausgebreitet und wurde von fast allen Ländern übernommen. Insofern kann man nicht ein einzelnes Land oder einzelne Institutionen zum Sündenbock machen. Auf Ebene der G 20 ist man sich allerdings einig darüber, dass die Marktwirtschaft der geeignete Weg zur Schaffung von Wohlstand ist. Ebenso besteht weltweit Konsens darüber, die Regeln, die Vorschriften und die Bankenaufsicht zu verstärken, um die Widerstandsfähigkeit des globalen Finanzsystems zu erhöhen.

Das Thema Regulierung galt aber in den USA lange Zeit als „sozialistisch“.
Es gab eben eine lange Phase von Stabilität und Wohlstand, in der das Finanzsystem nicht kontrolliert wurde und ordnungsgemäß zu funktionieren schien. Mittlerweile teilen wir aber auf beiden Seiten des Atlantiks die Ansicht, dass Innovationen und Kreativität, die elementare Bestandteile einer Marktwirtschaft sind, einer regelmäßigen Kontrolle bedürfen. Das gilt insbesondere für die sogenannten innovativen Finanzprodukte. Wir arbeiten derzeit sehr hart daran, die Kontrollen und die Überwachung zu verbessern, damit die Widerstandsfähigkeit des Finanzsystems massiv gestärkt wird.

In Europa diskutieren wir spätestens seit der Insolvenz der belgisch-französischen Dexia-Bank wieder die Notwendigkeit der Rekapitalisierung der Banken. Der Internationale Währungsfonds geht davon aus, dass es einen Kapitalbedarf von mehr als 200 Milliarden Euro gibt. Wie sollte die Rekapitalisierung aus Sicht der EZB durchgeführt werden?
Ich will mich hier nicht auf eine Zahl festlegen, aber wir haben eine klare Botschaft: Die europäischen Banken sollten auf geeignetem Wege ihre Bilanzen stärken und ihr Eigenkapital erhöhen. Hierfür ist es erforderlich, dass sie ihre Gewinne einbehalten, Zurückhaltung bei den Managementbezügen walten lassen und, soweit möglich, Finanzinstrumente in Kapital umwandeln. Bei Bedarf sollten sie sich über den Markt rekapitalisieren. Ist dies nicht möglich, dann sollten sie den für diesen Fall von den nationalen Regierungen bereitgestellten Rettungsschirm in Anspruch nehmen.


Können wir uns denn eine weitere Bankenrettung überhaupt leisten, oder müssen wir nicht, wie es auch der ehemalige US-Zentralbankchef Paul Volcker vorgeschlagen hat, einige einfach pleite gehen lassen?
Wir haben mit der Insolvenz von Lehman Brothers ja eher unerfreuliche Erfahrungen gemacht. Zudem spielen die Banken in Europa eine wichtige Rolle bei der Finanzierung der Wirtschaft. Die Realwirtschaft finanziert sich zu 75 Prozent über den Bankensektor und nur zu 25 Prozent direkt über die Kapitalmärkte. In den USA ist es genau umgekehrt. Insofern brauchen wir dringend ein gesundes und stabiles Finanzsystem. Aufgrund der Bedeutung der Banken für die wirtschaftliche Entwicklung in Europa ist auch das sogenannte Deleveraging volkswirtschaftlich äußerst problematisch. Denn wenn die Banken ihre Eigenkapitalquoten erhöhen, indem sie ihre Bilanzsummen deutlich verkleinern, könnte dies zu einer Kreditklemme führen.

Ist die Diskussion über die Rekapitalisierung der Banken nicht auch ein indirektes Eingeständnis der Politik, dass sich der Staatsbankrott Griechenlands nicht mehr abwenden lässt und man vorher noch die Banken fit machen muss?
Meiner Meinung nach besteht derzeit ohnehin die Notwendigkeit der Stabilisierung des Bankensystems, damit die Finanzstabilität und das angemessene Funktionieren der Realwirtschaft gewährleistet sind. Wie Sie wissen, raten wir den Regierungen dringend, ein Kreditereignis in Griechenland zu vermeiden.

Fehlt es nicht auch an politischer Führung? Oder anders formuliert, wäre das unter Helmut Kohl und François Mitterrand auch passiert?
Als Zentralbanker muss ich mit allen 17 Euro-Ländern umzugehen wissen. Eine Tendenz, die ich in den vergangenen Jahren beobachtet habe, ist die zunehmende Orientierung der Demokratien nach innen. Das gilt sowohl für unsere Demokratien in Europa als auch für Japan und die USA. Dadurch ist es für die Regierungen schwieriger, ihre Aufgaben wahrzunehmen, insbesondere dann, wenn mutige Entscheidungen getroffen werden müssen, um eine mögliche Verschärfung der Krise zu verhindern.

Aber war es denn rückblickend ein Fehler, dass die EZB in der Krise angefangen hat, Staatsanleihen der Krisenländer aufzukaufen? Oder musste sie es tun, weil 17 demokratische Regierungen in der Krise nicht schnell genug handlungsfähig waren?
Das Programm zum Ankauf von Staatsanleihen am Sekundärmarkt ist Teil der Geldpolitik der EZB. Angesichts der schwersten globalen Krise seit dem Zweiten Weltkrieg hat die EZB beschlossen, ihre Standardmaßnahmen, also die Festsetzung der Zinssätze, um Sondermaßnahmen zu ergänzen, um eine bessere Transmission der Geldpolitik wiederherzustellen und somit ihr Ziel, die Gewährleistung von Preisstabilität, zu erreichen. Zu diesen Sondermaßnahmen zählen die vollständige Zuteilung von Liquidität zu einem festen Zinssatz, der Ankauf von gedeckten Schuldverschreibungen und das Programm für die Wertpapiermärkte. Von den drei genannten Maßnahmen war die Entscheidung, den Banken unbegrenzt Liquidität bereitzustellen, bei weitem die wichtigste und stieß nicht auf Kritik.

Was entgegnen Sie den Kritikern dieser Entscheidungen, darunter Ihre ehemaligen Kollegen Axel Weber und Jürgen Stark, deutschen Politikern und den Medien?
Zunächst einmal denke ich, dass es in Deutschland – wie in jeder anderen Demokratie auch – unterschiedliche Meinungen und Stimmungen gibt. Dies spiegelt sich auch in der Tatsache wider, dass mir in meiner Funktion als Präsident der EZB deutsche Preise verliehen wurden. Während meiner zehn Jahre an der Spitze der Banque de France wurde ich in Frankreich im Übrigen immer abfällig als „Bundesbank-Anhänger“ und „Klon von Hans Tietmeyer“ bezeichnet! Erlauben Sie mir noch, in diesem Zusammenhang Goethe zu zitieren: „Gegen Kritik kann ein Mann weder protestieren noch sich verteidigen. Er muss ungeachtet dessen handeln und wird nach und nach dafür belohnt werden.“

Der härteste Vorwurf an Sie lautet aber, dass Sie durch das Ankaufprogramm für die Staatsanleihen der Krisenstaaten die Unabhängigkeit der EZB aufs Spiel gesetzt und aus ihr die „größte Bad Bank Europas“ gemacht haben.
Das stimmt nicht. Die EZB trifft ihre Entscheidungen stets in absoluter Unabhängigkeit. Niemand kann uns Anweisungen geben. Wir haben von Anfang an sehr deutliche Kritik am Verhalten Griechenlands geäußert und gleichzeitig den anderen europäischen Regierungen deutlich gemacht, dass sie dieses Verhalten niemals so lange hätten tolerieren dürfen. Ich poche seit acht Jahren auf die Einhaltung des Stabilitäts- und Wachstumspakts. Dass sogar große Nationen wie Frankreich und Deutschland 2004 beziehungsweise 2005 versucht haben, den Pakt zu umgehen oder ihn zu schwächen, wiegt sehr schwer. Unser Programm für die Wertpapiermärkte ist, wie ich bereits sagte, allein darauf ausgerichtet, dafür zu sorgen, dass die Transmission unserer Geldpolitik wieder besser funktioniert. Wir erwarten von den Regierungen, dass sie ihre zuletzt getroffenen Entscheidungen rigoros und vollständig umsetzen. Dazu gehört auch die Sicherstellung der Finanzstabilität durch EFSF-Interventionen am Sekundärmarkt.

Aber führt die Tatsache, dass Sie für 17 unterschiedliche Länder zuständig sind, deren Volkswirtschaften sehr unterschiedlich sind und deren Wettbewerbsfähigkeit auseinanderklafft, nicht zu einer völligen Überforderung des Systems? Brauchen wir in Zukunft nicht doch die Vereinigten Staaten von Europa, damit die Währungsunion funktionieren kann?
Wir müssen auf jeden Fall alle Lehren aus dieser Krise ziehen, die gezogen werden können. Als Teil der neuen Maßnahmen, über die kürzlich abgestimmt wurde, gibt es neue Regeln für die Überwachung der Haushaltspolitik in den Mitgliedstaaten sowie neue Indikatoren für die Überprüfung der Wettbewerbsfähigkeit und der wirtschaftlichen Ungleichgewichte innerhalb des Euroraums. Diese müssen unverzüglich umgesetzt werden. Die Bereitschaft der Regierungen dazu sollte nach der harten Lektion, die uns die Krise erteilt hat, eigentlich sehr hoch sein. Längerfristig ist nach meiner persönlichen Meinung eine Änderung der europäischen Verträge erforderlich. In Zukunft muss es möglich sein, dass Staaten, die gegen die Regeln verstoßen, härtere Maßnahmen auferlegt werden. Als Bürger Europas bin ich der Ansicht, dass wir weitere Schritte in Richtung einer politischen Union machen müssen.

Jetzt am Ende Ihrer Amtszeit, wenn Sie nach vorne schauen, was ist Ihre Prognose für Europa in fünf Jahren?
Ich bin zuversichtlich, dass die beteiligten Regierungen und Institutionen verantwortungsvoll handeln werden und ihr Handeln den Bürgern Europas überzeugend erklären. Dadurch werden wir die Krise überwinden und gestärkt aus dieser schwierigen Phase hervorgehen. Ich habe vier Enkelinnen und hoffe, dass die kommenden Generationen die europäische Idee wiederbeleben. Meine Generation ist sich stets bewusst, dass Frieden, Wohlstand, Stabilität und Demokratie keine selbstverständlichen Errungenschaften sind.

Das Gespräch führten Til Knipper und Michael Naumann

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