- Als der Krimi noch in Ordnung war
In den vergangenen Monaten habe ich versucht, einige Kriminalromane zu lesen, und bin kläglich daran gescheitert. Die Meisterwerke, die mich nicht unterhielten, hatten eines gemeinsam: Sie waren episch im Sinne von langatmig. Das Langatmige ist nicht per se das Langweilige, auch der kürzeste Text kann einen langweilen. Das Langatmige jedenfalls ist von Anfang an auf weite Strecken angelegt.
In den vergangenen Monaten habe ich versucht, einige Kriminalromane zu lesen, und bin kläglich daran gescheitert. Die Meisterwerke, die mich nicht unterhielten, hatten eines gemeinsam: Sie waren episch im Sinne von langatmig. Das Langatmige ist nicht per se das Langweilige, auch der kürzeste Text kann einen langweilen. Das Langatmige jedenfalls ist von Anfang an auf weite Strecken angelegt. Von vornherein ist klar: Hier hat ein Autor genug Kraft, um sich zumindest einzubilden, er werde den Leser die nächsten sechs Wochen beschäftigen.
Aber es gibt auch Leser, die das mögen: den Schmöker, in den man sich einlebt, während die Kürze ja ein zu schnelles Auftauchen aus der Imagination bewirkt. Nun ist der Umfang eines Buches kein Argument dagegen oder dafür: Es geht um Verhältnismäßigkeit, und meine dicken Kriminalromane waren unverhältnismäßig dick; sie hatten etwas Ausuferndes, ohne (mich) irgendwohin zu führen.
Was macht einen Kriminalroman unterhaltsam, «spannend»? Ich hätte die langatmigen Exemplare nicht erwähnt, wenn ich nicht vermuten müsste, dass sie einen Trend verkörpern: Importe aus den angelsächsischen Ländern, in denen die Kulturindustrie wahrscheinlich so boomt, dass Bücher nach ihrem Gewicht hergestellt und verkauft werden. Beim Schreiben gibt es – gegen die Herrschsucht der Manieristen – die Utopie des Geradlinigen. Ach, war das noch ein Maß, das die alte rororo-Krimireihe vorgab! Aber es ist klar, Schriftsteller wie James Ellroy oder Henning Mankell lassen sich nichts vorschreiben. Diese Leute hören nicht auf zu schreiben, bloß weil ein Verlag ein erfolgreiches, nicht zuletzt den Umfang von Büchern betreffendes Kalkül hat.
Vielleicht also ist die Überlänge der Schmöker auch das Resultat einer Literarisierung der Gattung: Das Gutdünken der Autoren ersetzt die erprobten, publikumswirksamen Schemata. Nostalgisch halte ich «Das geheime Haus des Todes» von Ruth Rendell, übersetzt von Denis Scheck, in der Hand: angemessene 189 Seiten. Ja, hier stimmt das alte, über alle rororo-Thriller verhängte Wort: «A Faint Cold Fear Thrills Through My Veins.»
Die Maigret-Romane von Georges Simenon sind noch kürzer. Ich finde, Kriminalromane gelingen nicht zuletzt dann, wenn ihre Figuren etwas handwerklich Holzschnittartiges, wenn die Situationen, in die sie geraten, bei allen Überraschungen etwas kalkuliert Wiedererkennbares haben. Bella Block oder Maigret – fast gleich, wie sie heißen, man erkennt sie freudig wieder. Leider bin ich Nostalgiker und komme oft auf Maigret zurück: zum Beispiel auf Georges Simenons «Maigret und der Verrückte von Bergerac» (Diogenes, habe ich schon für 6,90 Euro im Internet-Versandhandel gesehen, scheint nur noch antiquarisch zu existieren). Das Buch ist dennoch der Rede wert, weil Maigret darin zum Liegen kommt: Als Opfer eines Überfalls muss er das Bett hüten, einen ziemlich wüsten Fall aufklären, ein Dorf in der Dordogne durcheinanderbringen und zugleich dort Urlaub machen.
Ausgeklügelte Abweichungen vom Schnittmuster, wie der liegende Kommissar, bewegen dazu, die Aufmerksamkeit auf die Machart zu lenken. Diese Aufmerksamkeit gehört auch zum Vergnügen. Simenon macht außerdem den Maigret stets sinnenhaft. Das erste Kapitel in «Der Verrückte von Bergerac» heißt: «Der Reisende, der nicht schlafen kann», und es ist ein Meisterstück der Versinnbildlichung einer Zugfahrt in der Nacht. Der Leser selbst wird auf gespannte Weise übernächtig, er spürt den schlechten Geschmack im Mund. Die traditionelle Kunst des Schreibens ist hypnotisch; sie verschafft dem Leser Einbildungen und Träume. Auch Maigret hat einen Traum: «War Maigret ein Seehund? Vielleicht nicht ganz, aber auch nicht ganz ein Walfisch.» Dieses NichtGanz-Tier – dick, sehr rund und glänzend schwarz – will in Maigrets Traum hinaus ins Meer, «wo er endlich frei sein würde».
Freiheit gibt’s nur im Traum, auch für Maigret, der allerdings seine Notwendigkeiten liebt. Wunderbar dieser Einblick ins sehr humane und sehr spießige Leben zur Weihnachtszeit: Simenons «Weihnachten mit Maigret» (Diogenes, 7,90 €) gibt’s auch als Hörbuch, gelesen von Hans Korte. Die Internationale der Kleinbürger, die Milliarden angezogener Pantoffel, die vollkommen austauschbaren Geschenke, die darüber hinaus noch die vom vergangenen Jahr sind: eine Pfeife für Maigret, wie immer, und für Madame wieder einmal etwas Nützliches, das neueste Modell einer Kaffeemaschine.
Aber am schönsten ist die Darstellung des Weihnachtsmorgens: «Es schneite nicht. Es war lächerlich, noch enttäuscht zu sein, er, ein Mann jenseits der Fünfzig, weil an einem Weihnachtsmorgen kein Schnee fiel.» Der Schneemangel ist nur ein Element der virtuos aufgebauten Stimmung, ein anderes ist der Morgenmantel. Kein Anzug am Feiertag, aber wie auch immer: ob’s nun der Urlaub oder der Weihnachtsmorgen ist, dieser Maigret ist wahrlich ein Polizist – immer im Dienst und daher selbst am Weihnachtsmorgen «zu sprechen».
Maigret altert nicht, er bleibt um die Fünfzig, wird aber in diesem Lebensjahrzehnt als alt, zumindest als von den Jungen sehr unterschieden geschildert. Aber es nützt nichts: Auch diese Fiktion der Alterslosigkeit legitimiert meine Nostalgie nicht. Nostalgisch ist hier der Rückgriff auf eine Zeit, von der man glauben möchte, dass der Krimi noch in Ordnung war. Ein Irrtum, aber einmal im Jahr darf man sich so was leisten. Dann kommt ohnedies der Kritiker-Alltag, vor allem also die zähe Lektüre langatmiger Neuerscheinungen.
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