- Tod einer Schauspielerin
Anfang Juli wurde Maria Kwiatkowsky tot in ihrer Berliner Wohnung aufgefunden. Sie galt als die begabteste Nachwuchsschauspielerin des Landes. Doch ihr größtes Talent war vielleicht auch ihr größtes Verhängnis. Eine Reportage
Für den Boulevard ist alles immer einfach. Als Anfang Juli die Schauspielerin Maria Kwiatkowsky, gerade mal 26 Jahre jung, tot in ihrer Berliner Wohnung gefunden wurde, hatte die Bild-Zeitung eine schöne Schlagzeile. Die üblichen Reflexe funktionierten: Geheucheltes Mitleid („Sie lebte ein viel zu kurzes Leben!“), Spekulationen ohne Beweise („möglicherweise zu viele Drogen“), dazu als Ferndiagnose etwas Küchenpsychologie („zerrissene Persönlichkeit“). Unglück und private Katastrophen mit ein paar Klischees von Genie und Wahnsinn zu vermarkten, ist Boulevardroutine, bei Maria Kwiatkowsky genau wie ein paar Wochen später beim Tod von Amy Winehouse.
Man denkt bei Maria Kwiatkowskys Tod unwillkürlich an andere, zu jung gestorbene Schauspieler. Heath Ledger, dessen letzte große Rolle ein Psychopath in der Batman-Verfilmung „The Dark Knight“ war. Frank Giering („Baader“), der sich mit 38 Jahren ins Grab getrunken hat. Die hochbegabte Berliner Theaterschauspielerin Franca Kastein, die sich mit 31 Jahren aus dem Fenster stürzte. Alle drei Ausnahmeschauspieler, bei denen Talent und Selbstgefährdung bedrohlich nah beieinanderlagen. Borwin Bandelow, Professor der Psychiatrie an der Universität Göttingen, hat eine verblüffende These zum Zusammenhang zwischen Begabung und selbstzerstörerischem Potenzial: „Viele Künstler bekommen nicht deshalb Probleme, weil sie erfolgreich sind, sondern sie werden erfolgreich, weil sie Probleme haben.“ Talent und Gefährdung wären in dieser Perspektive fast identisch. „Jeder von uns hat Borderline-Anteile in sich, wir leben sie nur nicht aus. Wenn eine Künstlerin tiefe Emotionen wie Liebe und Hass und Verzweiflung so unmittelbar ausdrückt, dann tut sie das auch stellvertretend für uns“, sagt Bandelow. Er meint damit Amy Winehouse, aber genau diese Unmittelbarkeit war es, die auch Maria Kwiatkowskys Auftritte faszinierend machte: eine Schauspielerin ohne Filter und angezogene Handbremse. Und ohne Sicherheitsabstand gegenüber den eigenen Gefährdungen.
Zur Todesursache machen ihre Familie und ihr Haus, die Berliner Volksbühne, konsequent keine Angaben: Es gibt Dinge, die die Öffentlichkeit nichts angehen. Der Obduktionsbericht wird nicht veröffentlicht. Klar ist nur, dass Kwiatkowsky, eine maßlos lebensgierige, vor Ideen überschäumende Frau, keinen Suizid begangen hat. Und klar ist, dass die Wahrheit viel komplizierter ist als die voyeuristische Kitschformel von Genie und Wahnsinn. „Maria war das größte Glück meines Lebens“, sagt etwa Daniel Regenberg, ihr Lebensgefährte. Und Sebastian Baumgarten, der am Schauspielhaus Düsseldorf ein Stück mit ihr inszenierte, meint: „Auf der Bühne hatte sie alles im Griff, sodass es gefährlich aussah, aber nicht gefährlich war. Außerhalb der Bühne, im Leben, konnte es gefährlich werden, weil sie da nicht unbedingt alles im Griff hatte. Aber genau das macht Menschen wie sie auch so besonders.“ Kwiatkowskys Volksbühnen-Kollege Frank Büttner erinnert sich: „Sie war nie ruhig und leise, auch wenn sie in einer Szene keinen Text hatte. Sie hatte eine ungeheure Kraft. Ich mochte ihre Facetten und Brüche, die in jeder Hinsicht in ihrer Person begründet waren. Man hat, wenn sie gespielt hat, immer den Menschen hinter der Rolle gesehen.“ Und der Dramaturg Carl Hegemann, der seit ihrer Jugend mit ihr befreundet war, glaubt: „In einem Jahr wäre sie der neue Star der Volksbühne gewesen.“
Maria Kwiatkowsky war als Schauspielerin ein seltsamer, faszinierender Solitär: eigen, herb, auch überdreht, unverwechselbar und nie gefällig oder einfach nur nett. Spätestens in Frank Castorfs Inszenierungen „Nach Moskau! Nach Moskau!“ und „Der Kaufmann von Berlin“ konnte man sehen, dass hier jemand eine ähnlich starke Bühnenpräsenz, eine Aura und einen rüden Charme entwickelte wie die Volksbühnen-Diven Sophie Rois und Kathrin Angerer. Vor sieben Jahren, mit gerade mal 19, spielte sie ihre erste Hauptrolle in Ayse Polats Kinofilm „En Garde“ – ein vereinsamtes, seelisch verstörtes Mädchen in einem Erziehungsheim. Sie spielte das mit einer so beängstigenden Intensität, so unendlich weit entfernt von aller professionellen Routine und klischeehaften Figurenzeichnung, dass man beim Zusehen Angst um dieses Mädchen bekam und vergaß, dass das alles gespielt und nicht gelebt war. Es war die Rolle, für die sie ihren ersten Preis bekam, den Leopard für die beste weibliche Hauptrolle beim Internationalen Filmfestival Locarno. Die Goldene Kamera und die Wahl zur Nachwuchsschauspielerin des Jahres folgten 2010.
Was Kwiatkowskys Spiel in ihrem ersten großen Film so faszinierend machte, war die Tatsache, dass sie in jedem Augenblick genau zu wissen schien, wie sich die Verstörtheit ihrer Figur anfühlt. Das Manko, keine professionelle Schauspielausbildung absolviert, nie eine Schauspielschule von innen gesehen zu haben, glich sie durch das enorme Talent aus, sich in ihre Figuren hineinzuversetzen – die dann immer auch Anteile von ihr selbst hatten. Die Grenzen zwischen Leben und Kunst, Rolle und eigener Gefühlswelt waren bei dieser Schauspielerin extrem durchlässig. Das machte ihr Spiel besonders. „Sie konnte alles“, sagt Carl Hegemann, „sie konnte sich vollkommen in eine Rolle hineinbegeben. Es gibt einfach Menschen, die mehr auf einmal wahrnehmen als unsereins, die eine andere Intensität entwickeln und eine andere überscharfe Sensibilität. Maria hatte ein Übermaß an Möglichkeiten. Das Theater fiel ihr ziemlich leicht, vielleicht fiel es ihr auch zu leicht. Ich hatte immer das Gefühl, die kann mir alles vorspielen. Sie hätte auch eine gute Hausfrau und Mutter spielen können – aber eben immer nur spielen. Selbst das Häusliche, das Niedliche, das ganz Normale hatte bei ihr noch so einen dionysischen Beigeschmack, sodass man immer leicht beunruhigt war. Das Spiel wird bei jemandem wie ihr das absolut Ernste, Existenzielle. Aber wenn alles zum Spiel wird, gibt es keinen Moment jenseits des Spiels, das ist der Preis. Sogar der Tod wird so im Extremfall zum Spiel, was er leider Gottes nicht ist.“ Dann macht Hegemann eine Pause und zitiert eine Zeile aus einem Songtext von Neil Young: „I heard myself singing like a long lost friend, the same thing that makes you live can kill you in the end.“ Das Spiel ist die Freiheit, der Ort, an dem alles möglich ist, der Ort, an dem man sich selbst und die inneren Abgründe und überschießenden Energien spüren kann, ohne dafür haften zu müssen. Aber wenn alles zum Spiel wird, wenn das Leben nichts als ein Spiel ist, wird umgekehrt auch das Spiel zum Leben. Und im Leben muss man für alles bezahlen. Vielleicht war die Verwandlung von Leben in Spiel gleichzeitig Maria Kwiatkowskys Rettung und ihr Existenzrisiko.
Hegemann lernte Maria Kwiatkowsky kennen, als sie mit 14 Jahren anfing, im Jugendtheater der Volksbühne mitzuspielen. Kunst, gar Theater war in ihrer Familie im nicht so sehr gutbürgerlichen Berlin-Friedrichshain kein Thema. Spricht man mit Leuten, die sie in dieser Zeit kannten, klingt es, als hätte sich die 14-Jährige damals einfach selbst neu erfunden: Ab heute bin ich Schauspielerin. Mit der Volksbühne hat sie sich dafür zielsicher den Ort ausgesucht, der zur Radikalität ihres Talents und ihrer Persönlichkeit passte. Die Selbstentäußerung, das Spiel mit vollem Risiko, das Desinteresse an Formbeherrschung und kleinteilig subtiler Psychologie, das Theater als eine Form des Exzesses, eben der damals noch gute Volksbühnen-Stil – das war offenbar genau das, was Maria Kwiatkowsky suchte: Theater wie ein Punkkonzert. Oder mit den schönen Worten des Volksbühnen-Schauspielers Bernhard Schütz: „An diesem Haus gehörte es immer dazu, sich auf der Bühne abzufackeln.“
Hegemann erinnert sich an ein Mädchen, das „schon damals wirklich extrem auffällig war, auf eine Weise, die man bei einer 14-Jährigen nicht erwartet, hyperintelligent und hyperwitzig. Sie tat als kleines Mädchen so, als wäre sie wirklich mit allen Wassern gewaschen. Maria saß wie die totale Diva alleine in der Kantine und man wusste: Hier sitzt der Star der Zukunft. Sie hat Sophie Rois gesehen und dachte, das kann ich auch. Und sie war damals schon merkwürdig erwachsen.“ Ein bezeichnendes Paradox: Noch die 26-Jährige konnte in ihrem Spiel wie ein Kind wirken, das 14-jährige Mädchen hatte etwas frühreif Cooles – ein Mensch, der immer beides ist, kindlich und fast erwachsen, unschuldig und abgefuckt. Dazu passt eine Beobachtung von Viola Hasselberg, der Schauspieldirektorin am Theater Freiburg, an dem Maria Kwiatkowsky zwei Jahre im Engagement war: „Man kann in ihr als Schauspielerin etwas ganz Kindliches sehen, aber genauso auch etwas Abgebrühtes, Kaputtes oder etwas Vamphaftes. Ich glaube, das hat damit zu tun, dass sie viele Leben gelebt hat. Sie wusste etwas über diese Zustände. Ich hatte immer das Gefühl, dass ich nur einen kleinen Teil von Maria kenne – dieses Unter-Strom-Stehen, das Stillsitzen nicht auszuhalten, plötzlich aufspringen und ans Fester rennen und etwas rausrufen, eine innere Ungeduld. Und gleichzeitig war sie jemand, der auch sehr nachdenklich, in sich zurückgezogen und still werden konnte.“ Auch Menschen, die ihr in einer langen Freundschaft verbunden waren, scheint Maria Kwiatkowsky rätselhaft geblieben zu sein: jemand, mit dem es Momente großer, fröhlicher Nähe gab und der sich trotzdem immer zu entziehen schien. „Das Gefühl, vor ihr zu stehen und nicht im Geringsten das Gefühl zu haben, sie zu kennen, das teile ich total“, sagt Hegemann. „Gleichzeitig war sie herzlich, auch offen, alles. Aber das Gefühl, dass sie ganz viel nicht ausgesprochen hat, das hatte ich immer. Die Intensität war für sie wichtiger als die Dauer, nur der Moment zählte.“
Was für ein Mensch war Maria Kwiatkowsky? „Schon damals hatte ihr Leben etwas Fragiles“, erinnert sich Viola Hasselberg vom Theater Freiburg, wo die Schauspielerin ab 2006 im Ensemble war. „Sie hat wahnsinnig schöne, zarte, ganz feine Zeichnungen gemacht, Figuren an der Grenze zum Surrealen. Sie hat auch eigene Texte geschrieben, für ihre Bühnenfiguren, aber auch einfach für sich selbst. Ich hatte das Gefühl, dass es da ein großes inneres Reservoir gibt, wo keiner von außen so richtig reinschauen kann, jemand mit einer sehr eigenen Sprache, die vielleicht auch nicht jeder verstanden hat. Maria war jemand, der extrem wenig geschlafen hat. Zu allem, was einen klaren Arbeitsrhythmus verlangt, hat sie eine Reibung gesucht. Es gab für sie kein Regelwerk, das sie nicht hinterfragte und im Zweifel durch ihr eigenes Regelwerk ersetzte. Was Maria gesucht hat, hat den Rahmen eines Theaters gesprengt. Sie war auf der Suche nach einer anderen Intensität, nach anderen Begegnungen, auch nach einem anderen Selbstexperiment. Es war immer eine große Vitalität spürbar, ein großer Druck von innen, der sich nach außen kanalisiert hat. All das, was sie bewegt hat, kam aus ihr raus. Jemand, in dessen Kopf Kettenreaktionen abgehen, die für andere nicht immer nachvollziehbar sind. Mir fällt zu Maria nicht das Wort Ehrgeiz ein, kein zielgerichtetes, kalkuliertes Karrieredenken. Aber vielleicht gab es etwas anderes, das sie getrieben hat.“ Je länger Viola Hasselberg über die Schauspielerin spricht, desto klarer wird, dass sie sie sehr gemocht hat. Und dass ihr Tod einfach nur schrecklich und überflüssig und fürchterlich unfair ist.
Was für eine Schauspielerin war Maria Kwiatkowsky? „Es war immer Kunst und Nichtkunst zugleich, und das ist das, was einen beim Zusehen irritiert und fasziniert“, sagt der Regisseur Sebastian Baumgarten. „Leute, die gut sind, arbeiten oft genau an dieser Kippe zwischen Ordnung und Zerstörung der Ordnung. Bei Maria war das extrem. Das Arbeiten mit ihr war nicht konfliktlos, zum Beispiel, weil sie nicht immer unbedingt pünktlich zu den Proben kam. Es gab bei ihr auch immer die Angst, dass sie, zumindest künstlerisch, nicht nur sich, sondern auch andere gefährdet.“ Das Gespräch mit Sebastian Baumgarten findet spät abends eine Woche vor seiner „Tannhäuser“-Premiere in Bayreuth statt. Es ist wahrscheinlich die wichtigste Inszenierung seiner Karriere. Er hat eigentlich keine Zeit, er hätte eigentlich anderes zu tun. Dass er nicht aufhört, über sie zu sprechen, über sie nachzudenken, hat damit zu tun, dass ihn Maria Kwiatkowsky nicht loslässt.
Wahrscheinlich kann die Frage, was für ein Mensch Maria Kwiatkowsky war, kaum jemand so genau, auch so reflektiert beantworten wie Daniel Regenberg, ihr Lebensgefährte, mit dem sie knapp fünf Jahre zusammen war. Für Regenberg, Anfang dreißig, war sie die größte Liebe seines Lebens. Regenberg, schmal, muskulös, schwarzes T-Shirt, schwarze Sonnenbrille, Berlin-Mitte-Hipster, ein etwas manischer Sympath, studierter Mathematiker und Philosoph, ausgebildeter Pianist, ist jemand, der sehr schnell denkt, viel Theorie liest und abstrakte Gedankengebäude mag. Und ein Künstler mit hohem Output: CDs, Texte, Filme, Theater- und Opernauftritte. Mit ihm zusammen hat Maria Kwiatkowsky eine ziemlich lustige Sitcom gedreht und die Folgen ins Internet gestellt: „Torstraße – intim.“ Drehort war die gemeinsame Wohnung, Mitspieler waren, logischerweise ohne einen Cent Gage, befreundete Schauspieler. Die Drehbücher mit selbstironisch albernen Szenen aus dem Berliner WG- und Beziehungsleben haben die beiden zusammen mit den anderen Hauptakteuren der Sitcom geschrieben – einfach so, zum eigenen Vergnügen und aus purem Übermut. Schaut man sich diese Filme heute an, sieht man eine wunderbar alberne, fröhliche Maria Kwiatkowsky. Gefährdet, kaputt, verschattet ist da gar nichts. Stattdessen: Überschäumende Spiel- und Lebensfreude, Frechheit, purer Genuss am Machen und an den eigenen Ideen. Genau wie bei ihrem anderen Lieblingsprojekt, ihrer abgedrehten Kunstfigur Paff Meisi, der Weiterentwicklung ihrer Figur in der Sitcom „Torstraße“, ein vollendet schmieriger Rocker mit angeklebtem Schnäuzer und riesiger Ray-Ban-Brille. Das hat etwas von Kindergeburtstagsanarchie und ist gleichzeitig sehr schlau, sehr charmant und sehr begabt.
Hegemann, der in der Sitcom eher lässig als von schauspielerischem Ehrgeiz geplagt den grummeligen Vater spielte, erinnert sich an lustig-entspannte Drehtage: „Sie war total im Flow und glücklich. Wie die beiden das geplant und sich in kürzester Zeit in das Genre Sitcom eingearbeitet haben, hatte einfach Kraft.“ Sich immer neue Aufgaben zu suchen, als Schauspielerin ziemlich autark eigene Projekte auf die Beine zu stellen, nicht nur zu spielen, sondern auch zu schreiben, zu malen, Musik zu machen und nebenbei ohne Geld selber Filme zu drehen, gehörte zu Kwiatkowskys manisch überschäumender Produktivität. Ihr Problem, glaubt Hegemann, war nicht der Stress im Theater, sondern genau das Gegenteil: „Ich glaube, die Unterforderung war eines ihrer größten Probleme. An der Volksbühne war sie in den letzten beiden Jahren erfolgreich, aber gemessen an dem, was sie alles hätte leisten können, war sie unterbeschäftigt. Wahrscheinlich hätte man sie noch gleichzeitig in der Dramaturgie und der Kostümwerkstatt beschäftigen müssen. Ich glaube, das Theater war für sie ein großer Halt.“
Mit Daniel Regenberg über seine tote Freundin zu reden, ist einerseits sehr unkompliziert und offen. Er benutzt das Gespräch, um stundenlang über den geliebten Menschen nachzudenken. Sein Blick ist genau, unverkitscht, ehrlich. Auf die Frage, ob wir noch weitere vier Stunden über Maria Kwiatkowsky reden sollen, kommt die Antwort, dass wir auch noch vier Monate durchreden können. Und auch dann wäre nur ein kleiner Teil des Selbstgesprächs, das er in seinem Kopf mit der Toten führt, ausgesprochen. Hört man Regenberg zu, denkt man unwillkürlich: Ich wünsche dir, dass du das alles gut überstehst. Und dann denkt man in Großbuchstaben das Wort: Respekt. Daniel Regenberg erzählt, wie seine Freundin nicht nur Nachahmungstalent, sondern einen regelrechten Nachahmungszwang hatte. Bei einer Zugfahrt sitzt ein autistisches Kind im Zug, das immer wieder „Da... da... da...“ sagt. Maria imitiert das sofort und wiederholt die Sprechmelodie tagelang. Sind sie in einer Tangobar, schaut sie zu und tanzt plötzlich selbst Tango, obwohl sie das nie gelernt hat. Jemand, der das Leben permanent in Theater verwandelt: „Wenn Maria und ich zusammen waren, war sie privat. Wahrscheinlich war sie das auch bei ihrer Mutter. Allen anderen hat sie permanent etwas vorgespielt, nicht als Lüge, sondern als Spiel. Wenn sie jetzt hier sitzen würde, wäre das Café ihre Bühne und du wärst ihr Publikum.“
Aber bei aller Offenheit hat das Gespräch mit Daniel Regenberg auch seine Hürden: „Wenn du etwas Mieses schreibst, komme ich nicht mit dem Rechtsanwalt, sondern mit dem Baseballschläger.“ Das sind keine schlechten Manieren, sondern die völlig angemessene Reaktion auf zu viele schlechte Erfahrungen mit Journalisten. Kurz nachdem ihr Tod bekannt wurde, standen ungebeten Boulevardreporter bei Maria Kwiatkowskys Mutter und bei Daniel Regenberg vor der Wohnungstür, ein pietätloses Überfallkommando. Natürlich haben weder er noch sie mit ihnen geredet. Beim Theater rief von RTL bis Focus so ziemlich jeder an, der sich sonst nicht für Theater interessiert. Als Antwort gab es, logisch, nichts oder ein paar knappe, ausweichende Sätze.
Angeheizt war die Sensationsgier auch dadurch, dass die Schauspielerin vor sechs Jahren schon einmal in den Schlagzeilen war. 2005 zündete sie nachts in einem psychotischen Schub eine Kita an. Die Feuerwehr rettete sie vom Dach des brennenden Gebäudes. Seitdem ging ein Großteil ihrer Gagen in die Schuldentilgung. Der Schaden, für den sie aufkommen musste, lag bei mehr als 400000 Euro. Allein die jährlichen Zinsen waren höher als alles, was sie abbezahlen konnte. Die Jugendstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Zu den Auflagen gehörte es, eine Therapie zu machen. Aber was bringt eine Therapie bei jemandem, der permanent allen, natürlich auch jedem Therapeuten, je nach Laune und Situation die verschiedensten Rollen vorspielt? Die Rettung nach der Brandstiftung waren die zwei Jahre am Theater Freiburg – weg vom Berliner Nachtleben und der psychodynamisch nicht ganz unkomplizierten Volksbühne. „Ich habe große Scheiße gebaut. Ich weiß, dass ich noch mal neu anfangen muss“, sagte sie damals ihren neuen Kollegen in Freiburg. Viele andere wären an dieser Situation zerbrochen. Maria Kwiatkowsky hat einfach weiter Theater gespielt. Sie war, als sie in Freiburg anfing, 21 Jahre alt.
Hegemann hat seine eigene Theorie zu der Wahnsinnstat im Kindergarten: „Das hatte etwas von einer kindlichen Allmachtsfantasie. Sie musste exzessiv leben, weil sie sich vielleicht sonst nicht gespürt hat. Ihre Lebenslust verband sich mit der völligen Gleichgültigkeit, ob sie das, was sie macht, überlebt.“ Hegemann beschreibt einen Menschen, der im Zweifel ohne Helm auf dem Motorrad in Höchstgeschwindigkeit in eine Nebelwand rast, dem es immer nur um die Intensität des Augenblicks geht. Selbst um den Preis, auf dem Dach eines brennenden Hauses zu stehen. Selbst um den Preis, mit 26 Jahren zu sterben. Verglichen mit Kwiatkowskys Dionysos-Prinzip ist Punkrock so harmlos wie Kamillentee.
Zugespitzt könnte man sagen: Maria Kwiatkowskys Problem und ihre Gabe war, dass sie keine Unterhaltungsdienstleisterin, sondern eine gefährlich autarke, nicht von äußeren Zwängen, sondern radikal von ihren inneren Impulsen gesteuerte Künstlerin war. Künstler sind Stellvertreter, auch in der Selbstgefährdung. Während wir alle vernünftigerweise ein Vollkaskoleben mit beschränkter Haftung und gesunder Ernährung führen und am liebsten jedes Restrisiko ausschalten, gehen Künstler in die Schmerzzone, dahin, wo Gefühle schwer kontrollierbare Dynamiken entwickeln. Genau deshalb brauchen wir sie. Kunst ohne Restrisiko ist Kunstgewerbe, eigentlich überflüssig und höchstens kommerziell von Interesse. Unübersehbar ist der Zusammenhang zwischen öffentlicher Selbstzerstörung im Exzess und Faszinationskraft bei Absturzprofis wie Amy Winehouse, Kurt Cobain oder Pete Doherty. Der Absturz wird zum Markenzeichen, der Star zur Projektionsfläche, wenn er sich stellvertretend für seine Fans, die vom wilden Leben träumen, die Kante gibt. Professionell den Exzesskünstler zu geben, ist einer der anstrengendsten Jobs, den das Showbusiness zu vergeben hat. Besonders trostlos sind die Fälle, bei denen der öffentlichkeitswirksame Alkohol- und Drogenabusus keine lästige Begleiterscheinung, sondern der eigentliche Reiz ist, den ein Künstler zu bieten hat. Wer würde sich schließlich für Ben Becker oder Udo Lindenberg interessieren, wenn sie nur Mineralwasser statt Hochprozentiges in sich reinkippen würden. Schlechte Leberwerte und fortschreitende Gehirnerweichung sind noch die harmloseren Folgen dieser Art von Selbstvermarktung. Mindestens so verheerend wie die körperlichen Schäden sind das falsche Denken, die vernebelten Selbstbilder und Lebensentwürfe. Den Absturz als Lebensform mit Rock’n’Roll und gelebter Anarchie zu verwechseln, ist die klassische Lebenslüge der Boheme. Den Hang zur Selbstzerstörung als Ausweis künstlerischer Radikalität zu idealisieren, ist nichts als ein so anachronistischer wie gefährlicher Künstlerromantizismus.
Bei Maria Kwiatkowsky liegt der Fall entschieden anders – schon weil sie das Publikum nicht mit Mitteilungen aus ihrem Privatleben behelligte. „Maria war nicht kaputt. Aber sie war das Gegenteil eines kompletten, fertigen Menschen“, sagt ihr Freund Daniel Regenberg und erzählt, dass sie selbst die Volksbühnenkantine zu ihrer Bühne machte. Ihren neuen Liebhaber stellte sie dort ihren Kollegen als Sohn von Alexander Kluge und hauptberufliches Penis-Model vor. Eine von Kwiatkowskys Haupteigenschaften: Sie war ein Mensch, der sehr schnell denkt. Darin ergänzte sie sich mit ihrem Freund. Jedes Gespräch eine Folge von kleinen Explosionen im Kopf. „Ihren Gefühlen und der Diffusion von Gefühlen war sie sehr unmittelbar ausgeliefert. Sie konnte sie nicht benennen und schwer beherrschen. Ich habe Marias Innenleben nie komplett verstanden. Kunst als Selbstzweck war ihr ziemlich fremd. Sie hat eher vom ‚Spielen‘ oder ‚Sachen machen‘ geredet als von ‚Kunst‘. Das war genauso viel wert, wie ein gutes Essen zu kochen oder die Wohnung aufzuräumen, was ihr übrigens auch wichtig war. Aber die Volksbühne als Ort und die Leute dort waren ihr wichtig. Sie hat nicht auf ein Ziel hin gehandelt, sondern aus einem Impuls heraus. Maria hat in mir Blockaden niedergerissen. Sie hat impulsiv darauf reagiert, dass für sie etwas nicht stimmt. In einer Lüge zu leben, war für sie schlicht nicht möglich. Maria war besser im Niederreißen als im Aufbauen, mit einer wahnsinnigen Energie, aber auch diese destruktive Energie war getragen von einer Liebe.“
Walter Benjamin hat solche Dispositionen beschrieben: „Der destruktive Charakter ist jung und heiter. Der destruktive Charakter kennt nur eine Parole: Platz schaffen; nur eine Tätigkeit: räumen. Sein Bedürfnis nach frischer Luft und freiem Raum ist stärker als jeder Hass.“ Notfalls um den Preis des eigenen Lebens. Vielleicht ist es nicht besonders wichtig, ob Maria Kwiatkowsky, ein sehr besonderer Mensch, Drogen genommen hat oder nicht. Vielleicht ist sie in Wirklichkeit einfach an zu viel Lebensgier und Intensität gestorben. Vielleicht war für Maria Kwiatkowsky die gefährlichste Droge von allen Maria Kwiatkowsky.
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