- Ein Nadelöhr aus Staub und Schmutz
Tausende Flüchtlinge vor allem aus Syrien nutzen Mazedonien jeden Tag als Transitland nach Westeuropa. Das arme Balkanland hat die Grenzen geöffnet, ist aber völlig überfordert mit dem Ansturm. Reporter Cedric Rehman hat einen Flüchtlingstreck begleitet
Der Zug am Bahnhof von Gevgelija, Mazedonien, rollt schon. Die Flüchtlinge rennen die letzten Meter über den Schotter und die Gleise. Sie werfen den anderen Fahrgästen ihre Taschen zu. Dann klettern sie auf. Jemand reicht ihnen eine Flasche Wasser. Alhamdulilah, Lob sei Gott, geschafft!
Zwei Stunden lang schleppt sich die altersschwache Bahn durch die Landschaft, das Ziel: Tabanovtse an der serbischen Grenze. In der ersten Stunde der Fahrt herrscht Ausgelassenheit. Manche singen, Essen und Getränke werden geteilt.
Plötzlich bremst der Zug mitten in einem Dorf. Junge Männer steigen aus den Waggons, rennen zu den Häusern. Sie halten den Einheimischen ihre Euroscheine hin und bekommen dafür mit Leitungswasser gefüllte Bierflaschen in die Hand gedrückt.
Die Hitze wirkt wie ein Betäubungsmittel
Die Sonne brennt, in den überfüllten Gängen und in den Abteilen ist die Luft stickig. Eine Afghanin pustet ihrer Tochter ins Gesicht. Sie hebt das Kind hoch, nah an den Spalt eines Fensters.
Der Zug setzt sich wieder in Bewegung. Die Männer draußen laufen zu den Gleisen, klettern in den Wagen. Einer stolpert, lässt seine Bierflasche fallen. Er schafft es nicht. Die Flüchtlinge recken ihm durch die Fenster ihre Arme entgegen, der Mann packt einen von ihnen, wird hochgezogen von den vielen. Seine Füße suchen Halt, treten fast in die scharfen Räder. Sein Fuß berührt schließlich den Einstieg. Der Mann wird von den anderen in das Abteil gehievt. Alhamdulilah, Alhamdulilah!
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Die Hitze und die schlechte Luft im Zug wirken wie ein Betäubungsmittel. Nach drei Stunden sind die Menschen zu erschöpft zum Reden. Der Schweiß rinnt, die Räder rattern, die Augen fallen zu.
Vielleicht denken sie in diesem Moment wieder an die Qualen der vergangenen Tage. Erinnern sich an das Loch, das im Stacheldraht zwischen Mazedonien und Griechenland klafft. Hier mussten sie durch, um ihre gefährliche Reise nach Westeuropa fortzusetzen, um ihren Zug zu ergattern.
Dort an der Grenze, auf der griechischen Seite, liegen Kleidungsstücke, Rucksäcke, Schuhe. Es sieht aus, als sei ein Sturm über das staubige Gelände gefegt, der die Menschen mit fortwirbelte und nur ihre Habseligkeiten zurückließ. Den Sturm hat es tatsächlich gegeben. Aber es waren keine Luftmassen, die sich bewegten, sondern Menschen, die, ineinander verhakt und in Panik geraten, gegen den Zaun anrannten. Die Bilder gingen um die Welt.
Plastikmüll, Planen, Dixi-Klos
Das Loch im Zaun war versperrt. Griechische Beamte bildeten einen Kordon und hielten die Flüchtlinge auf Abstand. Einige Hundert Meter entfernt warteten Tausende darauf, die Öffnung zu passieren. Sie bildeten Gruppen von 25, immer zwei Personen hielten sich an den Händen. Wie Erstklässler auf dem Schulausflug.
Als sie endlich durch waren, die Grenze nach Mazedonien passiert hatten, kamen sie über einen Pfad ins Lager Gevgelija.
Hier liegt Plastikmüll herum, eine Plane dient als Sonnenschutz, ein paar Dixi-Klos der Notdurft. Im Lager, das das UN-Flüchtlingswerk aus dem Boden gestampft hat, bekommen die Flüchtlinge ein Papier, das sie berechtigt, sich 72 Stunden in dem Balkanland aufzuhalten. Sie dürfen in dieser Zeit das Lager nicht verlassen.
Nachts kampieren die Flüchtlinge unter grellem Scheinwerferlicht von Militärfahrzeugen in den Feldern. Sie liegen auf dem steinigen Boden, decken sich mit Plastiktüten zu. So heiß der September auf dem Balkan am Tag ist, so kühl ist er in der Nacht. Das mazedonische Gesetz schreibt vor, dass die Flüchtlinge auf der Plastikplane ausharren müssen, egal, wie viel Geld sie dabei haben.
Mazedonien stellt Züge für die Flüchtlinge bereit
Sie warten auf einen der Züge, die Mazedonien bereitgestellt hat für die Fahrt an die serbische Grenze. Die Tickets kosten umgerechnet zehn Euro. Der Staat hat sich nur auf zahlende Gäste eingestellt, und weil sich im Moment vor allem die wohlhabenden Syrer auf den Weg machen aus ihrem zerstörten Land, geht die Rechnung auf.
Mahmoud Abuzaia, 23, einer der Flüchtlinge im Lager Gevgelija, drängt sich durch die Menge nach vorn. In den Armen trägt er Fatima, die Frau seines Cousins Mohammed. Die spindeldürre Frau ist zusammengebrochen. Auf Englisch bittet Mahmoud um Hilfe. Fatima darf in die Krankenstation, wird an den Tropf gehängt. Zumindest die Notversorgung kostet nichts in Gevgelija.
Wenig später liegt Fatima, mit Baseballkappe, auf dem Boden des Lagers. Ihr Kopf ruht auf der Brust ihres Mannes Mohammed. Eine Zigarette wandert zwischen ihren und Mohammeds Lippen hin und her, ab und zu auch ein Kuss. Wären da nicht Fatimas eingefallene Wangen, ihre dünnen Arme, ihre müden Augen, die beiden würden aussehen wie ein Paar ohne Sorgen.
Mahmoud, sein Bruder Almoumen, Mohammed und Fatima haben studiert. Ihre Familien waren vor dem Krieg nicht arm. 8000 Euro haben sie im Gepäck. Sie geben ihr letztes Vermögen aus, um es irgendwie noch nach Deutschland oder Schweden zu schaffen, bevor die Grenzen vielleicht unüberwindbar werden.
In ihrer Heimatstadt Daraa gingen sie 2011 auf die Straße, um gegen Baschar al-Assad zu demonstrieren. Die Eiferer des Islamischen Staates würden die jungen Leute jetzt wohl mit Peitschenhieben traktieren.
Im Durcheinander von Gevgelija stört sich niemand an ihnen. Auch einige Frauen, die Kopftuch tragen, haben vor der Hitze kapituliert. Sie tränken ihr Tuch mit Wasser, um ihre Kinder abzukühlen.
Das Smartphone ist ihr Kompass während der Flucht
Was andere von ihnen denken könnten, ist Menschen, die dem Tod von der Schippe gesprungen sind, vielleicht schlichtweg egal.
„In Syrien haben uns die Fassbomben fast erledigt“, sagt Almoumen, 22. Ihre Stadt Daraa ist bis heute eine der letzten Bastionen der Freien Syrischen Armee und wird vom Regime immer wieder bombardiert. Aber mit Verlassen ihrer Heimat waren sie noch nicht außer Lebensgefahr, erzählt sein Bruder Mahmoud. „Auf dem Weg nach Griechenland ist unser Schlauchboot gesunken.“ Gerettet wurden sie von der Küstenwache.
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Über Facebook beobachten die vier die Lage an der ungarisch-serbischen Grenze. Ihr Smartphone ist der Kompass durch Länder wie Mazedonien, in denen kaum jemand Englisch oder Französisch spricht und Auskunft geben kann. Die Tipps anderer Flüchtlinge sind eine Alternative zu den Verlockungen der Schmuggler.
Mahmoud Abuzaia glaubt, dass die vier jungen Syrer es über den Zaun nach Ungarn schaffen werden. Wie es danach weitergeht, weiß er nicht. „Vielleicht können wir mit dem Taxi nach Österreich fahren?“
Akademiker und Balletttänzerinnen aus Palmyra
Ingenieure, Journalisten, Unternehmer, Literaturwissenschaftler, sogar Bühnendekorateure sitzen im Staub von Gevgelija. Helfer erzählen sich Geschichten, wie etwa die von zwei syrischen Balletttänzerinnen. Im Frieden hätten sie vor der Kulisse der antiken Stätten von Palmyra ihre Stücke aufgeführt. In Gevgelija seien sie in Tränen ausgebrochen, als sie erfuhren, dass der Islamische Staat Ende August den Baaltempel in die Luft sprengte.
Die akademisch gebildeten Syrer versuchen, zwischen dem Dreck ihre Würde zu bewahren. Sie schöpfen Wasser aus einem Brunnen, spülen sich mit Eimern ab, waschen notdürftig ihre Kleidung. Ihre Gefühle lassen sie sich nicht anmerken.
Aber sie fürchten sich vor den anderen Gruppen. Es gebe Probleme mit den Afghanen, sagt einer. Den griechischen Grenzbeamten würde im Zweifelsfall nichts anderes einfallen, als Streitigkeiten mit dem Knüppel zu lösen.
Ganz im Norden des Landes kommt der Zug nach Tabanovtse endgültig zum Stehen. Ein mazedonischer Schaffner ruft: „Serbia, Serbia“. Die Menschen drängen aus dem Zug, frische Luft füllt die Lungen.
Wasser für einen Euro: echter Wucher
Wieder müssen die Flüchtlinge einen Pfad entlang. An dessen Rand stehen schon die Kamerateams spanischer, französischer und türkischer Sender. Es ist ein surreales Aufeinandertreffen erschöpfter Flüchtlinge, die bloß weiter wollen, und Reportern, die das perfekte Bild vom Elend suchen. Ist es der Vater, der mit gebeugtem Rücken seinen behinderten Sohn trägt, wer weiß schon für wie lange? Oder der Sohn, der seinen alten Vater stützt? Der Mann vielleicht, der seine Frau im Rollstuhl vor sich herschiebt?
Die Händler in Tabanovtse bieten den Flüchtlingen Wasser für einen Euro an. In Mazedonien kostet das nur ein Bruchteil. Die Einheimischen machen das Geschäft ihres Lebens. Doch entlang des Weges drücken ihnen Mazedonier auch kostenlos Getränke und Essen in die Hand.
Die Menschenrechtsorganisation Legis hat ein Zelt aufgeschlagen, in dem es kostenlose Versorgung gibt. Mersiha Smailovic hat Legis mit ihrem Mann 2009 gegründet. Jetzt macht sie sich Sorgen: Was passiert, wenn der Flüchtlingsstrom nicht abebbt?
„Unser Ministerpräsident tickt wie Viktor Orbán“, sagt Mersiha Smailovic. Die Regierung Nikola Gruevski und die Staatsmedien würden Schreckensszenarien verbreiten, was passiere, wenn die Syrer auf dem Balkan blieben. „Syrer sind Muslime, Albaner sind es auch“, sagt Smailovic.
Serbien beginnt hinter zwei Pfosten
Im Mai gab es Kämpfe mit Dutzenden Toten in den Albanervierteln der mazedonischen Stadt Kumanovo. Der Protest der Opposition gegen den autoritären Kurs der Regierung ist vorläufig beendet. Aber Smailovic fürchtet den Herbst. „Wenn nach Ungarn auch Serbien die Grenzen dichtmacht, gehen die Flüchtlinge eben durch Albanien und dann mit dem Boot nach Italien. Sie bleiben hier auf keinen Fall“, sagt sie.
Die mazedonische Regierung tue nichts, um die Flüchtlinge menschenwürdig unterzubringen. „Deshalb lassen sie die Weltpresse nach Gevgelija. Damit die Europäer aus Mitleid für die Flüchtlinge bezahlen“, sagt Mersiha Smailovic.
Serbien beginnt hinter zwei Pfosten, die rechts und links vom Trampelpfad im Boden stecken. Jean-Marie Schmöller steht daneben und überbringt den Flüchtlingen die frohe Botschaft, dass sie eine weitere Etappe auf ihrer Reise geschafft haben. Der Deutsche war mit dem Rucksack auf dem Balkan unterwegs, als er von der Krise in Mazedonien erfuhr. Über Facebook hat er Legis ausfindig gemacht und unterstützt nun die Arbeit der Freiwilligen. Pro Tag, schätzt er, habe er 5000 bis 6000 Flüchtlinge vorbeiziehen sehen. Es würden eher mehr als weniger, sagt er.
Eine Gruppe zieht an ihm vorbei und ein Flüchtling ruft auf Englisch: „Sie sind ein wahrer Gentleman!“ Schmöller antwortet so wie Tausende Mal zuvor: „Good luck, guys. Have a safe trip!“. Viel Glück, Freunde. Kommt gut an!
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