- Alte Krise in neuem Gewand
Deutschlands Politiker fürchten sich mal wieder vor der Inflation. Dabei sind die Risiken einer Deflation wesentlich gefährlicher. EZB-Präsident Mario Draghi wird im Kampf gegen die Nebenwirkungen trotzdem allein gelassen
Stellen Sie sich vor, Sie sähen als Arzt bei einem Patienten Anzeichen einer extrem schweren chronischen Krankheit im Anfangsstadium. Es gibt ein Medikament mit unschönen, aber nicht wirklich gefährlichen Nebenwirkungen. Die Wahrscheinlichkeit eines Ausbruchs liegt bei 30 Prozent. Würden Sie das Medikament verschreiben oder nichts tun und hoffen, dass der Patient zu den zwei Dritteln gehört, die von der Krankheit verschont bleiben?
Die europäische Volkswirtschaft kämpft mit den ersten Anzeichen einer Deflation. Aktuell steigt die Teuerungsrate im Euroraum mit 0,3 Prozent kaum noch. Die Chefin des Internationalen Währungsfonds Christine Lagarde beziffert die Wahrscheinlichkeit einer langwierigen Deflation in Europa mit 30 Prozent.
In Deutschland kümmert sich kaum jemand um dieses Risiko. Im Gegenteil: EZB-Präsident Mario Draghi muss Prügel dafür einstecken, dass er mit Notmaßnahmen wie Anleihekäufen oder negativen Zinsen die Deflationsgefahr einzudämmen versucht.
Legendär deutsch: Die Inflationsangst
Seine Kritiker verweisen auf die großen Risiken dieser Notmaßnahmen. Aber sollten sie nicht auch die Risiken des Nichthandelns betrachten? In der Medizin tun wir das ständig: Wir stellen Risiken und Nebenwirkungen einer Behandlung ins Verhältnis zum Risiko der Krankheit. Wer Medikamente komplett ablehnt, ist entweder in den Fängen einer Sekte gelandet oder aus anderen Gründen nicht mehr ganz bei Sinnen.
Bei der Debatte in Deutschland geht es fast immer nur um die Nebenwirkung Inflation, als vermeintlich gefährlichstes Übel. Überraschend ist das nicht. Die deutsche Inflationsangst ist legendär. „Bei den Italienern gehört Inflation zum Leben wie Tomatensoße zur Pasta!“, schrieb die Bild 2011 in einer Kampagne gegen Mario Draghi.
Es ist richtig, dass Inflation gefährlich ist. Und niemand wünscht sich, dass die EZB ihr Preisstabilitätsziel von knapp 2 Prozent aufgibt. Nur sind wir von diesem Wert weit entfernt. Und die drohende Krankheit Deflation kann deutlich gefährlicher sein als eine Inflation. Ist eine Deflationsspirale einmal in Gang gesetzt, lassen sich Preisverfall und konjunkturelle Stagnation kaum noch bremsen.
Abwarten bedeutet Geldgewinn
Ein Blick nach Japan reicht aus. Seit den frühen neunziger Jahren versucht das Land mit allen Kräften wieder Preisauftrieb zu erzeugen. Erfolglos. Ein Vierteljahrhundert Deflation hat die ehemals dynamischste Volkswirtschaft der Welt brutal zurückgestutzt.
Warum ist Deflation so gefährlich? Der Grund ist ihre sich selbst verstärkende Wirkung. Fallen die Preise kontinuierlich, schieben Verbraucher und Firmen ihre Käufe und Investitionen so lange wie möglich auf. Abwarten heißt Geldgewinn. Autos oder Maschinen werden erst ersetzt, wenn sie ersetzt werden müssen. Und eine Investition zu tätigen, ist in Zeiten fallender Preise mit deutlich größerem Risiko verbunden. Denn selbst bei Nullzinsen ist der Kauf einer Immobilie kein gutes Geschäft, wenn der Preis der Immobilie Jahr für Jahr sinkt. In Deflationszeiten ist die beste Geldanlage das Halten von Bargeld. Denn für 100 000 Euro Cash kann ich bei fallenden Preisen schon im kommenden Jahr mehr Güter kaufen als heute.
Leider ist das Immobilienbeispiel nicht nur eine gute Illustration der Deflationsgefahren. Es zeigt auch, warum kaum jemand in Deutschland diese Deflationsgefahr ernst nimmt. Steigen nicht gerade Mieten und Häuserpreise rasant an? Ist es nicht gerade die „Politik des billigen Geldes“, die Preisexplosion und Blasenbildung verursacht?
Wendepunkt in der Eurokrise
Die europäische Konjunktur befindet sich in einer widersprüchlichen Lage. Während die einen über das Ende der Krise jubeln, sehen andere Anzeichen einer langwierigen Stagnation. Während die Nullzinspolitik den einen hohe Rendite bringt, tun sich andere schwer, überhaupt noch Kredite für Investitionen zu bekommen.
In der Tat hat die Eurokrise einen Wendepunkt erreicht. Der Zerfall der Währungsunion ist keine direkte Bedrohung mehr. Zinsspreizungen sind zurückgegangen und der Teufelskreis zwischen Staaten und Banken hat für viele Beobachter einen Großteil seiner zerstörerischen Dynamik verloren. In Deutschland ist die konjunkturelle Arbeitslosigkeit kaum noch ein Problem. Die „schwarze Null“ ist der ganze Stolz des Bundesfinanzministers.
Doch auch die Bundesregierung hat ihre Wachstumszahlen nach unten korrigiert. Im zweiten Quartal dieses Jahres ist die deutsche Wirtschaft nicht mehr gewachsen. Und im Rest des Euroraums ist die Lage ohnehin deutlich angespannt.
Kein gutes Klima für Reformen
Zu den ökonomischen Risiken gesellen sich die politischen Risiken. Die meisten Wirtschaftskrisen folgen einer Drei-Schritte-Logik. Am Anfang steht die Finanzmarkt- und Bankenkrise. Dann folgt der Konjunktureinbruch mit finanz- und geldpolitischen Auswirkungen, die harte Einschnitte nach sich ziehen. Die dritte Phase der Krise ist die politische. Jede Krise bringt Verlierer hervor. In den europäischen Krisenländern geht es um komplette verlorene Generationen. Das Ergebnis ist in vielen Ländern eine Mischung aus Krisenerschöpfung, Austeritätsverdruss und politischer Radikalisierung. Die Folgen haben wir bei der Europawahl beobachten können.
Wirtschaftskrisen enden erst dann, wenn erste – oft isolierte – Wachstumsimpulse einen Schneeballeffekt erzeugen. Es gibt zwei zentrale Auslöser einer solchen Dynamik: Strukturreformen und Investitionen.
Beide Wege sind steinig: Dringend nötige Strukturreformen treiben Regierungen in Krisenländern an die Grenzen ihrer Handlungsfähigkeit, weil sie erst langfristig Wirkung zeigen werden. Im Jahr fünf der Eurokrise und Jahr sieben der Weltwirtschaftskrise ist die Bereitschaft, weitere Einschnitte hinzunehmen, in den Krisenländern deutlich gesunken. Aber auch die deutsche Bevölkerung weiß, dass hohe Arbeitslosigkeit und niedriges Wachstum kein leichtes Umfeld für Reformen sind. Dass die Reformen trotzdem notwendig sind, steht außer Frage. Aber sie werden das Wachstum erst in mehreren Jahren nach Europa zurückbringen.
Unterschätzte Gefahren der Deflation
Investitionsprogramme können eine sofortige Wirkung entfalten. Aber die Investitionsbereitschaft ist wegen der stagnierenden Konjunktur und der fallenden Preise gering. Wenigstens dieses Problem ist erkannt: Investition ist schon jetzt das Wirtschaftswort des Jahres 2014. Nur leider kann kein Politiker Investitionen herbeireden. Und die EZB, die Liquidität in den Markt pumpt, um Investitionen zu erleichtern, sieht, dass ein Großteil in Immobilien oder Aktien fließt, ohne den Produktionskreislauf nachhaltig zu stärken.
Was ist zu tun? Die schlechte Nachricht ist, dass es schon zu spät sein könnte, um Europa vor der Deflation zu schützen. Die gute Nachricht wäre, dass wir jetzt zumindest alles tun, was noch getan werden kann: Erstens muss sich die Kombination aus Schuldenabbau und Reformen in ganz Europa fortsetzen. Zweitens sollten sich die Akzente beim Schuldenabbau aber leicht verschieben und nicht mehr nur bei den kurzfristig verfügbaren Mitteln ansetzen – in der Regel Investitionen. Das Drei-Prozent-Kriterium der EU-Verträge könnte um einen „Zukunftsfaktor“ ergänzt werden, der Investitionen ausspart. Drittens sollte die Europäische Zentralbank den kompletten Spielraum ihres Mandats ausnutzen, um die Deflation zu bekämpfen, Nebenwirkungen inklusive. Wer die „Politik des billigen Geldes“ der Zentralbank kritisiert, muss erklären, wie ohne diese Politik überhaupt noch Investitionen erfolgen können, um das Deflationsrisiko zu begrenzen.
Denn die Gefahren der Deflation sollte niemand unterschätzen. In Japan verdoppelte sich in den ersten Jahren der Deflation der Wert des Yen – für die deutsche Exportwirtschaft wäre das Gift. Gleichzeitig stürzten die Aktienkurse ab und der Schuldenstand stieg bis auf Rekordwerte von über 200 Prozent der Jahreswirtschaftsleistung.
Wer solche Risiken bewusst in Kauf nimmt, handelt grob fahrlässig.
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