- Welt aus Glas
Kolumne: Morgens um halb sechs. Demokratie, Musik und Glas haben eine ähnlich zerbrechliche Geschichte. Das Spektrum der Klänge reicht von komplexer Polyphonie bis hinein in einen stechenden Scherbenhaufen. Nicht jeder hat das Fingerspitzengefühl, Gläser zum Klingen zu bringen
Auf einer Brücke der Berliner Museumsinsel steht dann und wann ein Glasharfenspieler. Er steht dort und lässt die Gläser singen und ist selbst ganz stumm. Passanten werfen ihm Geldstücke zu, Kinder bleiben staunend vor ihm stehen. Während er spielt, fallen Regentropfen in die Gläser und klingen mit. Sie fallen vom Himmel direkt auf seinen Handrücken, rinnen über die Fingerspitzen, rutschen an den Rand und perlen ab.
Der Mann hat nicht viel. Einen ausgewaschenen Anzug, einen Klapptisch und einen festen Stehplatz an der Spree. Morgens baut er die Glasharfe auf, abends räumt er sie zusammen. Bricht ein Glas, ist es wie ein Atemstillstand. Etwas zuckt kurz, als ginge einer davon.
Es ist nicht einfach, einen ausgewogenen Klang hinzubekommen. An manchen Tagen schreien ihn die Gläser regelrecht an. Sind sie träge, stupst er sie an, sind sie aufgebracht, beruhigt er sie mit einem Fingerstrich. Zuviel Druck lässt die Gläser scharf klingen. Zu wenig Druck erzeugt einen fahlen Klang. Jeder Tag mit der Glasharfe gleicht einem Balanceakt. Wird die Mitte zu matt, gewinnen die Extreme. Übernehmen Extreme die Mitte, stirbt der Zusammenklang.
Der Klang der Demokratie
Einen Spreeweg entfernt, unter der gläsernen Kuppel, geht es ähnlich zu. Stimmenvielfalt prägt das tägliche Geschehen. Während der Mann auf der Museumsinsel bei jedem Wetter mit den Fingerkuppen Klänge ertastet, entsteht unter der gläsernen Kuppel des Reichstags der tägliche Balanceakt Politik. Unter der Kuppel teilen sich Stimmen und schließen sich zusammen, wettern gegeneinander, halten zueinander und drehen sich blitzschnell ins Gegenteil. Dabei sind sie geschützt, modernste Technik sorgt für sanftes Tageslicht und optimale Luftzufuhr.
Dass die Demokratie wie ein vielstimmig klingendes Glas sein kann und unter einer schützenden Kuppel bewahrt wird, ist nach wie vor ein hoffnungsvolles architektonisches Zeichen. Zerbrechlich ist das Gefüge der Stimmen. Herrscht im Saal ein gegenseitiges Hauen und Stechen oder kann eine vielstimmige Harmonie erklingen?
Das Glasharmonikafieber
Musik, Politik und Glas haben eine gemeinsame zerbrechliche Geschichte. Einer der Gründerväter der amerikanischen Verfassung, Benjamin Franklin, erfand 1761 neben einem nichtrußenden Ofen und dem Blitzableiter auch die große Schwester der Glasharfe – die Glasharmonika. Er nannte sie schlicht „Harmonika“. Franklin hatte den verrückten Iren Richard Pockrich als Wegbereiter, der neben einer Gänsezucht und einer pleite gegangenen Brauerei zwei Mal erfolglos für das Parlament kandidierte und 1741, während er an einem Patent für unsinkbare eiserne Schiffe arbeitete, die „Angelic Glasses“ erfand. Richard Pockrich unterrichtete das Spiel auf Gläsern und hatte viele Nachahmer, unter anderem Christoph Willibald Gluck, der 1745 eine Komposition für 26 wasserabgestimmte Gläser im Londoner Little Haymarket Theatre uraufführte. Mit Glucks Komposition reisten die singenden Gläser bis an den Kopenhagener Königshof.
Komponisten und Virtuosen wurden im 18. Jahrhundert vom Glasharmonikafieber erfasst. Mozart war von der Glasharmonika sofort begeistert und hätte sich das Instrument am liebsten gekauft, konnte es sich jedoch nicht leisten. Sein letztes Kammermusikwerk schrieb er für Glasharmonika. Beethoven soll sich am Bleigehalt einer Glasharmonika vergiftet haben. Der Wiener Arzt Anton Mesmer nutzte das Instrument für seine berüchtigten hypnotischen Sitzungen. Benjamin Franklin wiederum hörte Mesmers Spiel in Paris, lehnte jedoch dessen Lehren ab, während George Washington Mesmer Anerkennung zusprach. Die Glasharmonikawelt war klein und kannte sich.
Nach dem 18. Jahrhundert verschwand die Glasharmonika für ein Jahrhundert. Sie war zu leise für die großen romantischen Orchesterapparate. Erst das 20. Jahrhundert entdeckte sie wieder. Von Carl Orff und Richard Strauss bis zu Hans Werner Henze und Karlheinz Stockhausen, im 21. Jahrhundert von Arvo Pärt bis zu Jörg Widmann, schrieben zahlreiche zeitgenössische Komponisten Werke für Glasharmonika.
Mut zur Virtuosität jenseits professioneller Politik
Dass sich Politiker und Musiker heutzutage noch anlässlich eines Musikinstruments treffen und sich etwa über eigene Spielerfahrungen austauschen, klingt unvorstellbar. Während für die Spieltheorie Nobelpreise verliehen werden, rückt das gemeinsame Spielen in den Hintergrund. Alles Handeln ist auf persönliche Vorteile ausgerichtet. Spielerische Herangehensweisen, Neugier und Erfindergeist gehen in einer rein realpolitisch geprägten Atmosphäre unter. Überhaupt gibt es nur wenige Politiker, die ein Instrument spielen können. Emmanuel Macron gehört zu ihnen.
Politik, Musik und Glas haben immer wieder eine gemeinsame Geschichte. Nicht jeder hat das Fingerspitzengefühl, Gläser zum Klingen zu bringen. Dann und wann hilft vielleicht ein Spaziergang an der Spree. An der Brücke zur Museumsinsel steht gelegentlich ein Mann mit Klapptisch und ein paar Gläsern.
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"Die Glasharmonika-Welt war klein und kannte sich."
In Ihrem Essay sprechen Sie ein Thema an, Frau Bergk, über das intensiver nachzudenken sich nicht nur lohnt, sondern m. E. auch dringend geboten ist:
Wie wichtig ist ein gemeinsamer Bildungshorizont von Politikern und - ganz allgemein - von Menschen, welche zur sog. Elite einer Gesellschaft zählen?
Gehören dazu auch Beschäftigung mit Kunst und Musik, also ein gewisses Maß an Sensibilität und Disziplin, wie sie z. B. für das Erlernen des Spielens eines Instrumentes benötigt werden, selbst wenn es nicht gerade die Geige ist?
Die sog. Allgemeinbildung, wie man sie noch bis in die 60er-Jahre des verg. Jahrhunderts in den Lehrplänen der Gymnasien abgebildet finden konnte, ist inzwischen völlig verschwunden.
Diese Tatsche ist a u c h ein Grund dafür, daß Verständigung auf allen Ebenen immer schwieriger wird: Die Individualisierung der
Denk- und Empfindungswelten ist heute total.
Sehr schade und wenig hilfreich für eine Gesellschaft!
Ich weiß nicht, welches Instrument Macron spielen kann und gehe davon aus, dass er es gut spielt. Im Bereich der Politik aber spielt er eher weniger gut. Seine Vorschläge laufen genau auf das hinaus, was die europäischen Völker nicht wollen, nämlich den europäischen Zentralstaat, gelenkt aus Brüssel. Vor allem der Zugriff auf fremde Steuern und Sozialkassen ist ihm wichtig. Er braucht Geld, um seine Reformvorschläge durchsetzen zu können, die ich ansonsten für richtig halte. Sollen sie doch zu einem starken, wirtschaftlich autarken Frankreich führen. Ein Ziel, dessen Erreichung uns Deutschen nur recht sein kann. Nur, an der Finanzierung sollten wir uns nicht beteiligen. Wir haben unsere eigenen Riesenbaustellen, für die alle Kräfte und Mittel benötigt werden.
Im Moment scheint mir das Gegenteil des Artikels notwendig. Wir haben (denke ich) in Deutschland ein harmonisches Bild der Demokratie, das alle gemeinsam zur einen Wahrheit bringt, überzüchtet. Der Mensch ist aber evolutionär weder auf 100% Harmonie getrimmt, noch auf das Leben in abstrakten Gruppen von Millionen (und jetzt gar Milliarden = OneWorld). Es gibt keine Wahrheit aber scharf konkurrierende Interessen.
Die Demokratie ist ein Versuch die menschlichen Uranlagen zum Besseren zu überwinden. Mit geregeltem Streit zur Findung eines akzeptierten Kompromisses - nicht der Wahrheit. So sollte man es auch wieder mehr handhaben, wenn man nicht Schiffbruch erleiden will.
Aber vielleicht ist es auch anders und im Herzen doch alles Harmonie.
das stimmt. Aber ob deshalb seine Politik erfolgreich sein wird, steht auf einem andern, nicht Notenblatt. In Sachen Europa etwa ist er ziemlich naiv, oder liebevoller ausgedrückt: etwas zu optimistisch. Musik ist ein grossartiger Faktor zur Persönlichkeitsentwicklung, aber zur heutigen Politwelt passt sie nicht. Da zählen andere (Un)werte.
Tja, Demokratie wird heute nicht mehr live an der Spree gespielt, sondern Playback in Hinterzimmern.
Schon Goethe wusste, dass Architektur sehr viel mit Musik zu tun hat. Eine gläserne und begehbare Kuppel, die zum offenen Himmel über Berlin die direkte Verbindung herstellt. Der ständige Lichtwechsel wird durch den mittigen verspiegelten Konus (gleichsam einer Glasharmonika) reflektiert und ins Innere umgelenkt. Ein Entwurf des britischen Architekten Sir Norman Foster. Vielleicht stand für den Entwurf auch das Pantheon in Rom Pate. Ebenfalls eine Kuppelbau-Architektur, die auch wegen seiner Akustik als Werk der Engel bezeichnet wurde, jedoch damals nur den Göttern vorbehalten.
Es waren wohl lernfähige Engel der Geschichte, denn die moderne Kuppel in Berlin ist für jeden begehbar und nicht nur den Göttern vorbehalten. Es ist ein Symbol für das demokratische Deutschland. Eine zeitgemäße Verwandlung eines Gebäudes mit einer auch unrühmlichen Vergangenheit, da wo 1933 die Grundrechte der Weimarer Verfassung außer Kraft gesetzt wurde und der Weg frei war für die Verfolgung der politischen Gegner durch die NSDAP und SA. Und man kann diesen stechenden Sound von Adolf Nazi noch heute hören: „Es gibt jetzt kein Erbarmen; wer sich uns in den Weg stellt, wird niedergemacht!“ Es war der Auftakt für die nationalsozialistische Diktatur und das Menschheitsverbrechen- die Vernichtung der europäischen Juden.
Wehret den Anfängen, denn eine Glasharmonika ist ein zerbrechliches Instrument.
Das durch die Berliner Glaskuppel noch Licht dringt wage ich zu bezweifeln. Ich denke eher man tappt schon lange im Dunkeln und für die Glas-Kuppel braucht man eine Putzkolonne, damit Licht in das verstaubte Parlament dringt. Um in ihrer blumigen Sprache zu bleiben Frau Bergk.