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Wirtschaftshistoriker - „Thatcher statt Merkel“

Der Wirtschaftshistoriker Niall Ferguson warnt vor der Selbstzufriedenheit der Deutschen, empfiehlt uns, mehr Angst zu haben, und plädiert für eine Deregulierung der Banken

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Neumann Brigitte

So erreichen Sie Neumann Brigitte:

Herr Ferguson, in Ihrem aktuellen Buch „Der Niedergang des Westens“ setzen Sie sich mit der Theorie des Ökonomen Mancur Olson auseinander, wonach alle politischen Systeme irgendwann einer Art Sklerose zum Opfer fallen. Der Grund: Organisierte Interessengruppen wissen zu gut, wie sie ihre Besitzstände wahren können. Sind wir an diesem Punkt angekommen?
Es gibt keinen Zweifel, dass das in den Vereinigten Staaten ein ernstes Problem ist. In Deutschland noch nicht so sehr, aber in Südeuropa grassiert die Korruption: in Ländern wie Italien oder Griechenland, wo die politische und wirtschaftliche Elite meint, über dem Recht zu stehen. Und das sollte uns allen Sorgen bereiten, weil ehemals nützliche Institutionen von den Eliten ausgehöhlt werden.

Welches Rezept gibt es gegen diese Art der Sklerose?
Olsons Beispiele von Nachkriegs-Westdeutschland und Nachkriegs-Japan sind nicht sehr ermutigend, weil es in beiden Fällen einer externen Intervention bedurfte, um die Dinge wieder ins Lot zu bringen. Aber es gibt auch andere Wege, um dysfunktionale Institutionen wieder in den Griff zu bekommen.

Können Sie ein Beispiel nennen?
Großbritannien litt in den siebziger Jahren unter vielen Problemen, über die wir auch heute reden: Die Lobbys, die zu mächtig geworden waren, das waren damals die Gewerkschaften; die Wirtschaft lag am Boden; Margaret Thatcher entschied sich für einen radikalen Wechsel in der Wirtschaftspolitik. Es ist schwierig, heute Politiker zu finden, die dieses Risiko auf sich nehmen und eine „Blut, Schweiß und Tränen“-Reform durchziehen. Aber es ist genau das, was wir jetzt brauchen: mehr Thatcher als Merkel.

Sie schreiben, jeder Politiker, der versucht zu sparen, um die Staatsfinanzen zu konsolidieren, wird abgewählt. Ist die Demokratie für eine derartige Krise also das falsche System?
Nein, ich lebe auf jeden Fall lieber in einem demokratisch regierten Land als in einem Ein-Parteien-Staat. Wir sollten daher diskutieren: Wie bringen wir es fertig, dass unsere Demokratien besser funktionieren? Statt uns zu fragen: Sollten wir die Demokratie abschaffen? Es stimmt auch nicht, dass Ein-Parteien-Staaten wie China unseren Mehrparteien-Demokratien überlegen sind. Das denken nicht einmal die Chinesen. Wenn Sie in Peking einer Diskussion über Regierungsformen beiwohnen, sind die Chinesen die Ersten, die Reformen wollen, damit China zu einem Rechtsstaat wird.

Aber wenn Sie jetzt den Niedergang des Westens prophezeien, denken gerade in Deutschland viele: „Ach, so schlimm wird es schon nicht kommen.“
Deutschland hat zurzeit ein ungewöhnliches Problem: Es sieht so aus, als wäre alles in Ordnung. Wer durch Berlin, München oder Hamburg fährt, hat den Eindruck, es herrsche Wohlstand und Stabilität. Das ist aber eine Illusion, weil es der EU schlecht geht. Griechenland, Portugal, Spanien, zunehmend auch Italien befinden sich in einer andauernden Rezession. Wenn die deutsche Öffentlichkeit sich der Probleme der Peripheriestaaten nicht richtig bewusst ist, halte ich das für sehr gefährlich.

Was ist daran so gefährlich?
Der größte Feind der westlichen Zivilisationen ist ihre Selbstzufriedenheit. Die Amerikaner sind das beste Beispiel dafür. Sie denken, ihr politisches System sei das beste der Welt, ihr Rechtssystem sei das beste in der Welt, ihre Wirtschaft sei die beste der Welt. Dabei stimmt es gar nicht mehr. Ich glaube, in Deutschland gibt es eine ähnlich stark ausgeprägte Selbstzufriedenheit. Ich empfehle als Medizin dagegen ein wenig mehr Angst.

Sie empfehlen ausgerechnet den Deutschen, mehr Angst zu haben?
Ja, sie sollten sich weitaus mehr vor der Instabilität des europäischen Südens fürchten. Im Moment herrscht hier ein fauler Friede, die Ruhe vor der nächsten Krise. Europa hat kaum eine Wahl: Es wird entweder zur „Bundesrepublik Europa“, wobei die Deutschen dann immense Transferzahlungen zu leisten hätten, oder der Laden fliegt auseinander und die nationalen Währungen kommen zurück.

Wie viel Zeit geben Sie uns noch?
Man sieht sehr deutlich, dass die Regierung in Berlin jedwede gewichtige Entscheidung, sei es über die Bankenunion oder die Vergemeinschaftung von Schulden, auf die Zeit nach den Wahlen im September verschieben möchte. Die Gefahr aber ist, dass eine neue Krise in den Peripheriestaaten die Bundesregierung zwingen wird, vorher Entscheidungen zu treffen. Ich mache mir Sorgen um die spanischen Banken, die immer noch der größte Schwachpunkt im europäischen Finanzsystem sind. Ich mache mir auch Sorgen um Frankreich, dessen Wirtschaft weitaus schwächer ist, als die meisten Menschen wahrhaben wollen. Angela Merkels größter Albtraum ist, dass sich vor der Bundestagswahl am 22. September irgendwo im Süden Europas die Krise verschlimmert.

 

Was könnten wir als Bürger denn anstellen, um den Niedergang aufzuhalten?
Als ich in den achtziger Jahren in Deutschland lebte, war ich beeindruckt von der Vitalität der Zivilgesellschaft. Was die damalige Umweltbewegung so dynamisch machte, war die Tatsache, dass die Initiative von den Bürgern ausging. Solche Initiativen illustrieren genau das, was ich meine. Wenn Umweltprobleme auftauchen, sind lokale Initiativen von Bürgern die beste Reaktion. Unsere Haltung sollte grundsätzlich sein: Das ist ein Problem. Lasst uns versuchen, damit selbst zurande zu kommen.

Lassen sich wirklich alle Probleme besser auf lokaler Ebene lösen?
Nein, nicht alle. Aber ich habe die Erfahrung in Südwales gemacht, als ich dort ein Haus kaufte und feststellen musste, dass die Strände voller Plastikmüll waren, der vom Meer angeschwemmt wurde. Wir schafften es, den Müll ohne Hilfe der regionalen Verwaltung zu beseitigen – nur durch die Arbeit von Freiwilligen. Schon Alexis de Tocqueville hat gesagt, dass die Demokratie dann am besten funktioniert, wenn die Zivilgesellschaft aktiv ist. Deshalb sollten wir in Europa und in Nordamerika mehr dafür tun, diese zivilgesellschaftliche Kultur wiederzubeleben.

Ist der Niedergang des Westens nicht einfach die Kehrseite zum Aufstieg Asiens?
Nein, es ist gut, dass Länder wie China, Indien oder Brasilien ihre Produktion von Gütern verbessern, dass sie funktionsfähigere Institutionen schaffen und die kreative Energie ihrer Bürger freisetzen, sodass Hunderte von Millionen Menschen der Armut entkommen können. Die Globalisierung ist kein Spiel, wo der eine verliert, weil der andere gewinnt. Vom Wachstum in Asien und in Südamerika hat der Westen profitiert. Wenn China während der Krise nicht weitergewachsen wäre, wäre es uns allen schlechter ergangen, speziell Deutschland, das enorme Mengen an Gütern in die dynamische asiatische Wirtschaft exportiert hat.

Die größten Sorgen machen Sie sich aber um das Weltfinanzsystem. Warum sind unsere Politiker eigentlich nicht in der Lage, die richtigen Gesetze und Kontrollen dafür zu etablieren?
Es wurde eine Menge neuer Regeln eingeführt. Wir haben Basel 3, das die Banken zu höheren Eigenkapitalquoten verpflichtet. Wir haben den Dodd-Frank-Act in den USA, der den Eigenhandel der Banken einschränkt und entsprechende Gesetze in vielen anderen Ländern des Westens. Dadurch wird aber das System nicht stabiler. Die Theorie, die Krise sei eine Folge der Deregulierung der Banken, ist schlicht falsch. Dafür gibt es keinerlei empirische Beweise. Die Banken wurden vielleicht nicht gut kontrolliert, aber es gab schon immer eine Menge Vorschriften. Die neuen Gesetze werden das System noch fragiler machen, indem sie eine weitere Ebene an Komplexität hinzufügen. Die Schlussfolgerung ist: Wir müssen die Regeln vereinfachen.

Vielleicht wohnt dem Kapitalismus aber doch eine Art Selbstzerstörungsmechanismus inne. Große Konzerne zahlen fast keine Steuern mehr, weil sie jedes Schlupfloch gnadenlos ausnutzen, die Bürger bringen Banken, Sozialversicherungssystemen und dem Staat kaum noch Vertrauen entgegen: Können wir das immer noch unter kreativer Zerstörung nach Joseph Schumpeter subsumieren?
Die Vorstellung systemimmanenter Krisen des Kapitalismus, die irgendwann zu seinem endgültigen Untergang führen, ist offenbar sehr verführerisch. Besonders hier in Deutschland, wo der Einfluss der Lehren von Marx an den Hochschulen weiterbesteht. Auch Schumpeter sagte, dass jeder Zerstörung etwas Kreatives anhaftet. Das sind falsche Denkmodelle.

Wie erklären Sie die sich häufenden Krisen?
Wir sollten uns die Wirtschaft viel mehr als ein evolutionäres System vorstellen. Es gibt Mutationen, es gibt die natürliche Auslese, zu gewissen Zeiten sterben Arten aus. Der Unterschied zur Biologie ist: Die Politik greift wie eine göttliche Oberbehörde von Zeit zu Zeit korrigierend ein. Und das muss nicht schlecht sein: Ohne die Eingriffe der Regierungen hätten wir in den vergangenen Jahren einen noch gewaltigeren wirtschaftlichen Einbruch erlebt. 

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