Martin Walser 2018 bei der Vorstellung seines Buches „Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte“ / dpa

Zum Tod von Martin Walser - Kartograf einer deutschen Seelenlandschaft

Mit Martin Walser starb eine der letzten wortgewaltigen Stimmen der bundesrepublikanischen Nachkriegsära. Das Politische trieb ihn stets an, doch schrieb er nie aus der Perspektive urbaner Intellektuellenzirkel.

Autoreninfo

Björn Hayer ist habilitierter Germanist und arbeitet neben seiner Tätigkeit als Privatdozent für Literaturwissenschaft als Kritiker, Essayist und Autor.

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Eine „Geschichtsschreibung des Alltags“ wollte er betreiben. Die soziologischen Theorien über die Makrogesellschaft überließ er den anderen. In diesem Grundsatz blieb sich der soeben im Alter von 96 Jahren gestorbene Martin Walser, eine der letzten wortgewaltigen Stimmen der bundesrepublikanischen Nachkriegsära, in fast all seinen Werken treu. Statt sich an den berühmten Philosophien und Schulen abzuarbeiten, schreibt er über die Abgründe und Aporien der kleinen Leute.

„Was mich zum Kleinbürger hinzieht, ist sein schlechter Ruf, geschmacklich, intellektuell, politisch, vielleicht erotisch“, sagte er einmal, „mich zieht er an, ja es macht mir sogar eine gewisse Lust, also auch ein Kleinbürger zu sein.“ Wahrscheinlich auch, weil dieser Typus am ehesten zu spüren bekommt, wenn sich Risse im Fundament des Zusammenlebens auftun. Am Dasein des verkrachten Immobilienmaklers, des verquatschten Handlungsreisenden oder des einfachen Gabelstaplerfahrers, die alle zum Ensemble seiner Figuren gehören, bemisst sich mithin der moralische und ökonomische Zustand einer Gesellschaft. 

Die klagt der frühe Walser, geboren am 24. März 1927 in Wasserburg als Sohn eines Gaststättenbetreibers, zumindest noch in seinen frühen Werken mit rebellischem Gestus an. Sowohl sein Romandebüt „Ehen in Philipsburg“ (1957) als auch seine Kristlein-Trilogie (1960-1973) zeugen noch von einem unverbesserlichen Anarchokämpfer.

Ohnmacht ob der unveränderlichen politischen Verhältnisse

Spätestens mit seinem vielleicht bekanntesten Text, der Novelle „Ein fliehendes Pferd“ (1978), findet er allerdings seinen ganz eigenen Ton, sein Temperament, das leichtfüßiges Parlando mit Witz und dem Zynismus der Ohnmacht ob der unveränderlichen politischen Verhältnisse verbindet. Im Zentrum stehen zwei Antihelden, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten: Hier der introvertierte, pensionierte Studienrat Helmut Halm, der sich perfekt auf die Kunst der Verdrängung versteht, dort der Hans-Dampf-in-allen-Gassen Klaus Buch, der Frauen wie Trophäen präsentiert. Wie in einer Spielanordnung lässt er die konträren Weltbilder beider Protagonisten miteinander kollidieren und zieht darin überdies eine Bilanz der Liberalisierung infolge der 68er-Generation

 

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Das Politische trieb ihn stets an, insbesondere der von ihm selbst einmal als Triebfeder seines Schaffens bezeichnete Mangel. Ihn hat Walser – mit Ausnahme seines Austausches in der Gruppe 47 – nie aus der Perspektive urbaner Intellektuellenzirkel geschrieben. Nein, nach seinem Studium und der Dissertation über Franz Kafka, von dem er vieles über die groteske Reflexion des so kläglichen wie neurotischen Angestellten gelernt haben dürfte, kehrt er an den Bodensee zurück und avanciert, nicht ohne Ironie, zum prominentesten und kontroversesten Regionalautor Deutschlands.  

Nicht zu vergessen der bestialisch nachtragende Racheautor

Denn auch das war der Bestsellerautor und Vielschreiber: der Mahner, der 1998 in der Paulskirche von der „Moralkeule“ Auschwitz sprach und eine neue Gedenkkultur gegenüber der NS-Vergangenheit forderte, der streitbare Denker, der über fehlenden Nationalgeist sinnierte, der Provokateur, der den Protagonisten seines späten Textes „Gar alles oder Briefe an eine unbekannte Geliebte“ (2018) (inmitten einer identitätspolitisch überhitzten Gegenwart) über „steile Brüste“ bzw. die unterhalb eines „Rümpfchens“ „wippen[den]“ „Titten“ faseln lässt.

Und nicht zu vergessen der bestialisch nachtragende Racheautor. Kein anderer Romancier gab sich je eine derart erbitterte Fernschlacht mit dem einstigen Großinquisitor des Feuilletons Marcel Reich-Ranicki. Auf dessen Verrisse hin legte Walser 2002 den Roman „Tod eines Kritikers“ vor, eine in jeder Hinsicht verbitterte, symbolische Hinrichtung des gefürchteten Rezensenten.  

Was bleibt nun von den zahlreichen Prosaschriften, Essays und oft zu Unrecht etwas stiefmütterlich behandelten Theaterstücken? Gewiss eine Kartografie der deutschen Seele des 20. und frühen 21. Jahrhunderts. Genauso werden wir uns an diesen eigenwilligen Charakter erinnern. An seine Souveränität und Standhaftigkeit, an seine Überzeugungskraft und nicht zuletzt seine grenzenlose Liebe für den menschlichen Makel. 

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Peter Rosenstein | Sa., 29. Juli 2023 - 09:15

Ehen in Philipsburg, nicht von… Gerade in Nachrufen sollte man aufmerksam sein.

Christa Wallau | Sa., 29. Juli 2023 - 10:51

vor allem als M e n s c h ein sympathischer Zeitgenosse - authentisch, ehrlich, mutig.

Sein Stehen-zu-sich-selbst haben ihn oft anecken bzw. in Fettnäpfchen treten lassen. Das hat ihn in meinen Augen aber nicht kleiner gemacht, sondern besonders ausgezeichnet.

Ich habe seine Bücher mit Gewinn gelesen (bei weitem nicht alle) und ihm auch gern zugehört, wenn er Lesungen abhielt oder Interviews gab. Seine Sprache gefällt mir, und seine kritische Sicht auf die Welt mit ihrem verwirrenden Treiben kann ich nachvollziehen.

Bis ins hohe Alter von 96 Jahren war Martin Walser ein von ambivalenten Gefühlen, Zweifeln und stets neuen Fragen Getriebener. Möge er nun gefunden haben, was er suchte und was wir uns wohl alle wünschen: den Zustand der beruhigend - beglückenden Erkenntnis, endlich dort angekommen zu sein, wohin unsere Seele ein Leben lang gestrebt hat.

Dorothee Sehrt-Irrek | Sa., 29. Juli 2023 - 11:57

auch nur ein bisschen mit Martin Walser befasst.
Wie kam er mir vor?
Wie ein Goethe in bundesrepublikanischen Zeiten, aber einer, der wenigstens nicht mehr riesige Götterköpfe in seinem Haus aufstellte?
Mikrokosmos trifft es ganz gut, jedenfalls trifft sein (Klein)Bürger m.E. eher die Deutschen als Heinrich Manns "Der Untertan".
Wohlig, wenn vlt. auch nicht überragend erfolgreich in seinem Zusammenleben und darin, damit selbstbewußt; der Igel mit seiner Frau, statt einem hastenden Hasen.
Die Großen konnte er aber lesen und verstehen; er hatte auch keine Angst vor ihnen. Aber gab es die Großen nach ´45 noch?
Im Denken und Schreiben sein eigener Herr!
War Goethe denn soviel mehr?
Vielleicht muss man Walser noch einmal auf dem Goethe-Hintergrund lesen, also nicht zu klein, "nur" menschlich? Darin MENSCH.
Sah und hörte ihn in der Urania; ein unglaublich reflektierter und (auch mich?)durchschauender (Be-)Schreiber.
Ich hätte mich nicht mit ihm angelegt.
War aber auch nicht nötig.
RIP

Klaus Funke | Sa., 29. Juli 2023 - 13:21

Walser ist ein Hochgelobter und ein Hochgeschriebener. Reich-Ranitzki hat ihm zu Ruhm verholfen. Er ist ein Ehemaliger in jeder Beziehung. Warum werden DDR-Schriftsteller nicht ähnlich gewürdigt? Sie beherrschten ihr Fach, die Sprache, ebenso gut. Herrmann Kant, Stefan Hermlin, Strittmatter, Thürk, Schreyer und viele andere. Das Beste an Walser ist seine Tochter Franziska...

"RR hat ihm zu Ruhm verholfen", das halte ich für etwas gewagt. Der enthemmte Hass, den er aus verletzter Ehre in "Tod eines Kritikers" zeigte, erinnert mich immer noch an Michael Kohlhaas. Damit steht er für mich auf einer Stufe mit GG, der gegen politisch Unbequeme austeilte, aber seine SS-Vergangenheit "vergessen" hatte.

Holzmann, Werner | Sa., 29. Juli 2023 - 16:03

Wenn schon Walser, dann Robert und wenn schon Martin, dann Mosebach.

Klaus Funke | Sa., 29. Juli 2023 - 20:07

Antwort auf von Holzmann, Werner

Da zeigt sich, dass es noch CICERO-Leser gibt, die einen weiteren Horizont haben. Danke. Auch ich verehre Robert Walser sehr, bei Martin Mosebach bin ich nicht ganz bei Ihnen, aber trotzdem ist der ein beachtlicher Autor.