- Leserpost, die Totalkultur und der Antisemitismus
Der Journalist und Wagner-Experte Axel Brüggemann berichtet für Cicero Online vom Grünen Hügel. Im siebten Eintrag seines Bayreuth-Tagebuchs schreibt er, warum er sich bei manchen Leserbriefen schon mal „in' Arsch vor Ärjer“ beißt und was er in der Ausstellung zur Judenverfolgung gelernt hat
Lesen Sie auch die weiteren Einträge aus Brüggemanns Bayreuther Tagebuch:
Teil 1: „Eine existenzielle Herausforderung“
Teil 2: Die Knackärsche haben gute Arbeit geleistet
Teil 3: Frank Castorf: Rheingold oder Wild at Ring
Teil 4: Wie Angela Merkel mit Wotan flirtet
Teil 5: Wagner ohne Hitler, das ist echte Kunst
Teil 6: Vom Vögeln, Ballern, Krokodil-Schnappen und Buh-Rufen
Teil 7: Leserpost, die Totalkultur und der Antisemitismus
Schon wieder spielfrei. Zeit, dass ich mich endlich mal um die Leserpost kümmere. Also da erreichen mich regelmäßig diese sehr amüsanten Postings von Mohlmann Wittig aus (offensichtlich Berlin, derzeitiger Wohnort wohl: Bischofsgrün?). Und leider kann ich Ihnen, Herr Wittig, nicht mit dieser perfekten Berliner Schnauze Antworten, die Sie so herrlich pflegen, da ich ja, wie Sie zu sagen pflegen „keene Konifee“ bin. Schaunse mal, det is ja och jarnich so einfach, da jeden Abend rinn, dann wieder raus, an diesem blöden Tablet-Computer, vor den kleinen Tasten, entscheiden zwischen „Rumpsteak Herrenart“, „Röstipfanne“ oder „Kalbsschnitzel“ und den ganzen Kladderadatsch, der einem da so durch den Kopf jagt in Buchstaben hintereinander zu hängen.
Und Mohlmann, Kumpel, der „Ring“ machts mirs da ooch nicht wirklich leicht, waß da wird dann ne Foster schon mal zur Forster - und wenn se ditt denn schreiben, lieber Mohlmann, beiß ik mir in' Arsch vor Ärjer. Aber ik habs verdient, wa? Nur was Sie da immer mit der Kohle haben, die ik hier anjeblich abkassiere, da müssen se noch mal rescherschiern, und auch was meinen Aufenthaltsort betrifft, irren Sie: „Kaiseralm“, da war ik mal, wohnt ja nun schon der Genscher, und „Waldhotel Stein“ die Merkel - ich bin an die Kirche gezogen, weil die Familie Puchtler - kennen Sie die? - formadible Gastfreundschaft pflegt. Und das Kalbsschnitzel, sage ich Ihnen, ein Traum!
Nur, wenn der Christian dann mit seinem Porsche von Goldkronach mit 60 auffer Landstraße vor mir herkriecht, krich ich in meinem „Megane Grand Tour“ einfach zu viel. Wann sehn wir uns dann beim Schreiner's, Freund Mohlmann? Würd mir wirklich mal freun, wa.
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Wie absurd ist es eigentlich, habe ich mich heute auf meinem Rennrad gefragt, als ich den Schneeberg hochgekrakselt bin, dass wir Kritiker (ich bin gar kein Kritiker, ich bin ja nur Tagebuchschreiber!) aus einer Vorstellung rennen, an der zwei Jahre getüftelt wurde und innerhalb weniger Stunden unseren Senf zum Besten geben? Ja, und wie kommt es, dass die Kritiken dieses Mal so zutiefst unterschiedlich ausfallen? Zuweilen sogar vom gleichen Kritiker, der das „Rheingold“ über den grünen Klee lobt, die „Walküre“ im wahrsten Sinne verreißt und fluchend aus dem „Siegfried“ stampft?
Muss die Kritik eigentlich immer Meinung haben? Oder reicht es, einfach zu beschreiben? Und was ist der Subtext einer Kritik? Der Abgleich von Bühnenleistungen mit den Fakten der Partitur und des Librettos? Oder ist sie am Ende doch ein Kampf um Deutungshoheit unter Feuilletonisten? Letztlich funktionieren Kritiker doch genau so wie Sänger. Ich glaube, Georg Kreisler hat das einmal in seinem „Musikkritiker“-Song geschrieben: „Und eure Kollegen geben mir immer ihren Segen, denn jedem Künstler ist es recht, spricht man von andern Künstlern schlecht!“ Glauben Sie mir, da sind wir von der schreibenden Zunft nicht besser: Zwar handelt es sich bei der Musikkritik um eine Nischenform des Journalismus, die nach modernen Umfragen gerade mal von vier Prozent der Leser überhaupt wahrgenommen wird. Aber wir tun so, als würden wir um die Weltherrschaft schreiben. Ein Hauen und Stechen, Intrigieren und Meucheln, det glooben se ja nich, Herr Mohlmann! Wir Musikkritiker wissen, dass wir in den Redaktionen die lächerlichsten Kreaturen mit den höchsten Spesensätzen sind - aber aus irgend einem Grund scheinen uns gerade die Künstler noch ernst zu nehmen. Ich finde, dass die Künstler viel mehr zu Worte kommen sollten.
Manchmal grüßen wir uns nicht einmal mehr, der eine wirft dem anderen vor, keine Ahnung zu haben, jeder von uns hat Künstler, denen er nahe steht, denen er auch mal Mist verzeiht, während bei anderem schon der kleinste Fehler ausgeweidet wird. Schreibt ein anderer von uns ein Buch, ist es schon mal grundsätzlich: doof. Und damit belästigen wir Sie auch noch Tag für Tag. Opernkritik, das ist ungefähr so, als würden Sie jeden Tag den Regionalteil der Wuppertaler Zeitung lesen, der behauptet, dass er ein Mikrokosmos der Welt sei.
Nun schreiben wir alle über den gleichen „Ring“. Und grundsätzlich ist genau das ja unsere Aufgabe: Um Interpretationen zu streiten, zu argumentieren, zu hören, zu sehen, zu vergleichen, einzuordnen. Kritik, finde ich, ist nur dann sinnvoll, wenn sie den Leser herausfordert, unter allen Meinungen seine Position zu finden. Letztlich verhält es sich wohl so wie mit dem Regieführen (siehe später): Nur eine Kritik, die offen bleibt, die dem Leser die Chance gibt, Teil von ihr zu werden, sich einzumischen, ist am Ende eine gute Rezension. Nur sie transportiert das, worum es geht: Die Kunst als Anlass zum ästhetischen Streit.
Aber wen interessiert das alles? Als die Kollegin gestern vor mir aus dem Opernhaus gegangen ist, stampfend, so dass es bloß jeder mitbekommt, habe ich mir gedacht: Sie ist der Drache, ich will der Siegfried sein. Und dann habe ich mich dafür geschämt.
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Außerdem erreichten mich noch die Schreiben von Bernhard Jasper, der offensichtlich im Internet wohnt. Danke zunächst für die Blumen, Herr Jasper. Dass der Trash („Massenkultur“) die sogenannte Hochkultur retten kann, halten Sie für eine steile These - und Sie haben natürlich Recht. Hier handelte es sich auch eher um eine Zuspitzung, und ich hatte heute ein langes Telefonat mit meiner Mutter, die sich am Trash in meinen Texten gestört hat, also an den „vulgären Ausdrücken“, wie sie es formulierte.
Wir haben uns dann ein bisschen unterhalten, und ich habe versucht, ihr zu erklären, dass ich natürlich Goethe und Schiller, Shakespeare und Wagner als Grundlagen des Kulturkanons verstehe, dass ich aber finde, dass Tarantino, Eisenstein und Lynch inzwischen ebenfalls dazugehören. Und dass wir uns, wenn wir einen „Totalkulturbegriff“ (das war ein schönes Wort von Ihnen) etablieren wollen, ungezwungener zwischen diesen Ausdrucksformen wechseln müssen, dass wir erkennen müssen, dass wir die Tiefe des Einen in der Handlung, die Tiefe des Anderen in der Archaik der Form finden.
Meine Mutter habe ich damit ebensowenig überzeugt, wie ich Sie jetzt überzeugen werde - aber die Freiheit und Offenheit in der Kunst können nur beflügeln, solange sie sich nicht an der Oberfläche ihrer Vorlagen aufhalten, sondern ihre eigenen Assoziationen aus der Annäherung an den inhaltlichen Kern der Vorlage entwickeln und gegenüber dem Publikum offen bleiben. Das bedeutet für mich, dass sich jeder Ring (oder Kreis) nur im Kopf des Zuschauers schließt.
Und um es noch ein bisschen komplizierter zu machen: Ich halte nichts von hermetischen Interpretationen, die eine in sich schlüssige, fertige Behauptung auf die Bühne stellen, die ich mir einfach nur anschauen kann. Ich mag Kunst, die etwas von mir erwartet, die Lücken lässt, um ihre Kreise für mich zu erschließen.
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Neben vielen anderen Zuschriften, für die ich mich an dieser Stelle gern bedanke, bekam ich heute auch eine Mail meines stellvertretenden Chefredakteurs. Alexander M. schickte mir kommentarlos die Karikatur einer kleinen Gesellschaft, in der ein Mann den Anwesenden erklärt, dass seine Frau und er erst über den Antisemitismus zu Wagner gekommen sein. Und auch, wenn Sie, Herr Mohlmann, nun wieder denken dass ik hier nur rumschleime, wegen die Monneten und so (sprechen se mal mitm Alexander wegen det!) - ich fand das sehr lustig. Gerade weil es im neuen „Ring“ so gar kein Thema ist.
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Ich war heute nicht nur auf dem Schneeberg, sondern auch in der Ausstellung über die Bayreuther Festspiele und die Judenverfolgung - sehenswert, fundiert, und zutiefst emotional. Besser aber noch sind die Gedenktafeln, die Arno Brekers (Hitlers Leib-und-Fratzen-Künstler) Wagner-Skulptur umstellen. Graue Platten, auf jeder eine Geschichte. Erinnert wird selbst an jene Musiker, die nie in Bayreuth waren, etwa an den Cellisten Lucian Horowitz, der nur auf der Ersatzliste von 1924 stand. Und auch, wenn Sie, Herr Mohlmann, nun finden, dass ich für dieses längere Zitat keine Kohle bekommen sollte (siehe mein Buch-Zitat am vorletzten Tag), schreibe ich hier einfach mal ab, was da steht: „Über die Anfänge der Karriere des in Wien geborenen Lucian Horowitz ist nur wenig bekannt. Als Mitglied der Berliner Philharmoniker trat er 1902 bei einem Konzertabend in der Wiener Toynbee Halle auf. Nach der Rückkehr in seine Heimatstadt wurde Horowitz zu einem berühmten Konzertcellisten. Um 1914 war er Mitglied des Wiener Tonkünstler-Orchesters, nach dem Ersten Weltkrieg gehörte er zum Ensemble des Wiener Sinfonie-Orchesters. Außerdem wirkte er in den 1920er Jahren als Solocellist.“
1924 findet sich der Name des 'jüdischen' Cellisten auf der Ersatzliste des Bayreuther Festspielorchesters. Der Dirigent Karl Muck, verantwortlich für die Zusammenstellung des Orchesters, markierte den Namen mit einem Hakenkreuz und einem Ausrufezeichen. Offensichtlich bedeutet das für Muck, Horowitz unter keinen Umständen zu besetzen. Dieser spielte nie in Bayreuth.
Mit der Annexion Österreichs durch das Deutsche Reich war Horowitz seit 1938 der nationalsozialistischen Verfolgung ausgesetzt: Er wurde am 24. September 1942 ins KZ Theresienstadt deportiert. Am 28. Oktober 1944 wurde er mit dem letzten Transport aus dem KZ Theresienstadt in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau verschleppt und dort ermordet. Sein genaues Todesdatum ist nicht bekannt.
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Ist Ihnen aufgefallen, dass in diesem Tagebucheintrag nicht einmal der Name - na Sie wissen schon von wem - gefallen ist? Das hebe ich mir für morgen auf. Dann gibt es, wie man hört, Plaste und Elaste, Dönerbuden und den Weltuntergang in der „Götterdämmerung“ ... Danach müssen wir dann Abschied nehmen, Herr Mohlmann und Herr Jasper und wir alle - dann erhole ich mich im Klangvakuum von Wagner. Bis morgen, Sie alle.
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