Dieses Bild ist leider nicht mehr verfügbar
picture alliance

Pippi Langstrumpf - „Sie las los. Las ohne Ende. Las laut.“

Schriftstellerin Kathrin Schmidt war schon Mutter, als sie Pippi Langstrumpf kennenlernte. Schmidts Mutter fand Pippi unappetitlich

Autoreninfo

Kathrin Schmidt ist Romanautorin. Für ihr Werk "Du stirbst nicht" erhielt sie den Deutschen Buchpreis.

So erreichen Sie Kathrin Schmidt:

[[{"fid":"55047","view_mode":"full","type":"media","attributes":{"height":991,"width":750,"style":"width: 120px; height: 159px; margin: 5px; float: left;","class":"media-element file-full"}}]]Fünf Schriftstellerinnen erinnern sich an Pippi Langstrumpf. Heute: Kathrin Schmidt. 1958 in Gotha geboren, gewann sie 2009 mit ihrem Roman «Du stirbst nicht» (Kiepenheuer & Witsch) den Deutschen Buchpreis

 

 

Als Pippi Langstrumpf zum ersten Mal offiziell in die DDR einreisen durfte, schrieb man das Jahr 1975. Einige Gepäckstücke wurden beim Grenzübertritt konfisziert und zurückgehalten, so dass sie nicht ganz so anarchistisch auftrumpfen konnte wie in ihrer Heimat oder in der Bundesrepublik. Ich selbst war damals 16 Jahre alt und bevorzugte seit Langem die Erwachsenenabteilung der Bibliothek, lernte Pippi also erst einmal nicht kennen. Jedoch erinnere ich mich einer angeekelten Tirade meiner Mutter, einer Unterstufenlehrerin, der sie wohl untergekommen war: Pippi klang im Thüringischen haargenau so wie «Pipi», und «Pipi machen» war deckelnde, gerade noch in der Öffentlichkeit zu gebrauchende Bezeichnung für «pinkeln» oder «pissen». Letzteres durfte man nicht sagen, «Pipi» aber schon, wenn man klein genug dafür war. Und wenn ein Kind nun Pippi hieß, so war das für meine Mutter der Schlag, der dem Fass den Boden nimmt. Nein, so etwas abgrundtief Unappetitliches kam ihr nicht auf die Schulbank …

Ich musste 32 Jahre alt werden für Pippi und Herrn Nilsson, den Kleinen Onkel, Annika und Tommi. Meine zweite Tochter bekam das Buch 1990 zum achten Geburtstag geschenkt, und die größere, elfjährige, nahm es sofort an sich und las los. Las ohne Ende. Las laut. Las zum Vergnügen der Geburtstagsgesellschaft eine Geschichte nach der anderen vor, so dass Preise für Topfschlagen, Eierlaufen und Kofferpacken unbeachtet liegen blieben und wir als Eltern uns eigentlich einen netten Nachmittag hätten machen können. Aber wir hörten zu. Pippi hatte viel Ähnlichkeit mit der Ältesten, die das Buch nicht geschenkt bekommen hatte, aber zeitlebens zuckersüß, eigensinnig, trotzig und rotzig frech gewesen war.

[[nid:54871]]

Die Bucheignerin hingegen bezauberte durch große Kulleraugen, Schüchternheit und Rockzipfeltum. Ich war froh, dass die Große ihr vorlas, und ich wünschte ihr so viel von den Eigenschaften der Buchheldin, dass ich darüber beinahe vergessen hätte, ihr Lieblingsgericht in mehrfacher Ausfertigung in den Ofen zu schieben: Pizza. Als es mir einfiel, hätten wir die anderen Kinder eigentlich, laut Ankündigung auf der Einladung, mit einem kleinen Lampionumzug nach Hause bringen wollen. Mein Mann setzte sich aufs Fahrrad und fuhr die Nachbarschaft ab, um Bescheid zu sagen. Die Geburtstagsfeier dauerte schließlich zwei ganze Stunden länger.

Als wir die Gäste endlich nach Hause brachten, verabschiedeten sie sich jeweils laut lärmend von uns, und wir waren glücklich, dass Pippi es geschafft hatte, die Meute derart aufzuheizen. War dieser achte Geburtstag der Beginn einer sehr lang anhaltenden seelischen Pubertät? Jedenfalls schrie meine kleine Tochter, als sie kurz darauf einmal ihre Geldbörse nicht fand: «Seht ihr: Wenn ich nicht aufgeräumt hätte, dann wüsste ich heute wenigstens, wo ich suchen soll!!» Ich freute mich nicht etwa heimlich, sondern unheimlich.

Das kleine Schwedenfräuleinwurde alsbald zum Stern am Familienhimmel. Es war übrigens meine Mutter gewesen, die das Buch mitgebracht hatte. Tja, mit Zeiten ändern sich halt auch die Kleider, die man trägt …

Lesen Sie auch Erinnerungen an Pippi von

Felicitas Hoppe - "Rebellin in Ringelstrümpfen"

____________________________________________________

[[{"fid":"55051","view_mode":"full","type":"media","attributes":{"height":847,"width":616,"style":"width: 140px; height: 193px; margin: 5px; float: left;","class":"media-element file-full"}}]]Den kompletten Beitrag zum Thema finden Sie im neuen Literaturen-Heft:

Post für Pippi L. – Schriftstellerinnen von heute erinnern sich an das Idol ihrer Kindheit.

Sommer-Ausgabe von Literaturen – am Kiosk und im Online-Shop erhältlich.

________________________________________________

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.