Ruth Klüger / dpa

Zum Tod von Ruth Klüger - Gegen den Kitsch

„KZ-Kitsch“ nannte die Schriftstellerin und Auschwitz-Überlebende Ruth Klüger den betroffenheitsschwangeren Umgang der Deutschen mit dem Holocaust. Am Dienstag ist sie im Alter von 88 Jahren verstorben. Ein Nachruf von Alexander Grau.

Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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„Wir Überlebenden sind nicht zuständig für Verzeihung“, äußerte Ruth Klüger einmal gegenüber der österreichischen Nachrichtenagentur APA und störte damit ebenso barsch wie unnachgiebig die kuschelige Erinnerungskultur, in die sich das schuldbewusste Latte-Macchiato-Deutschland so heimelig eingerichtet hatte. Dem betroffenheitsschwangeren Duktus, den betretenen Mienen, den wohlfeilen Ansprachen und dem verklemmten Streberstolz eifriger Vergangenheitsbewältiger stand die Germanistin und Schriftstellerin immer mit großer Skepsis gegenüber.

„KZ-Kitsch“ nannte sie das mit jener Unerbittlichkeit, die vielleicht nur aus dem Mund und der Feder einer Überlebenden legitim ist. Die gängigen Formeln von der Einzigartigkeit und Unvergleichbarkeit des Holocaust waren für sie „Kitsch-Wörter, sentimentale Flucht aus der Realität“. Denn sie seien der offene Beleg dafür, dass man sich das grauenvolle Geschehen gar nicht vorstellen wolle, sondern lieber „durch den Heiligenschein seiner Unsagbarkeit, also durch eine Kitsch-Aura, verklärt“.

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Rainer Mrochen | Sa., 10. Oktober 2020 - 10:51

bisher, überhaupt nicht bekannt. Es erfordert Mut unbequem zu sein. Jedenfalls in der Kategorie,- eigene Sichtweisen zu entwickeln und zu formulieren. Danke für die Erinnerung an den Cicero.

Christoph Kuhlmann | Sa., 10. Oktober 2020 - 11:06

und eine gesunde Einstellung zur Betroffenheitskultur. Man will es nicht wahr haben, dass der Mörder, der Mitläufer in den Menschen unter gewissen Umständen drin steckt und die Gesellschaft dies anerkennt, wenn die Umstände entsprechend sind.

Tomas Poth | Sa., 10. Oktober 2020 - 12:00

„Wir Überlebenden sind nicht zuständig für Verzeihung“
Verwirrende Worte.
In der Täter-Opfer Beziehung kann der Täter Reue zeigen und um Vergebung bitten, das Opfer Verzeihung gewähren.
Aber das geht wohl nur in der direkten Gegenüberstellung des konkreten Täters und des konkreten Opfers.
Ist so ihr Blick auf KZ-Kitsch/Schuldkult gedacht?

Jens Böhme | Sa., 10. Oktober 2020 - 16:06

Antwort auf von Tomas Poth

Ruth Klüger meint, die Verzeihung/Vergebung für die Millionen Toten können nicht die Überlebenden leisten.

Bernhard K. Kopp | Sa., 10. Oktober 2020 - 19:19

Antwort auf von Tomas Poth

Schuld ist immer spezifisch und persönlich. Die Schuldigen, sofern sie nicht verurteilt wurden, sind in den Jahrzehnten nach 1945 verstorben. Wir, die wir während des Krieges, oder gar später, geboren sind, sind nicht schuldig. Wir haben trotzdem Verantwortung gegenüber den Überlebenden und Nachkommen der Opfer. Die Verantwortung bedeutet respektvolle Erinnerung. Für mich persönlich gilt auch eine ideelle Verantwortung für Israel, als weltpolitisches Kind des Holocaust.

Christa Wallau | Sa., 10. Oktober 2020 - 13:01

- ob in der Politik, der Kultur oder in den Medien.

Jeglicher Kitsch, an dem sich die deutsche Seele so schrecklich gern ergötzt, ist weit entfernt von der Wahrheit.
Diese ist - im Gegensatz zur hübsch aufgemotzen u. durch Spezial-Brillen angeschauten Pseudo-Wirklichkeit - nie angenehm und lustvoll, sondern meist hart und unerbittlich. Deshalb findet sie viel weniger Liebhaber als die Verlogenheit.

Wenn ich mir nur kurz vorstelle, wir hätten eine
Bundespräsidentin wie Ruth Klüger, dann
sähe Frank Walter Steinmeier sehr mickrig daneben aus! Aber - auch das ist leider w a h r - die meisten Deutschen würden sie nicht mögen...

Schade, weit und breit ist niemand bei unseren allseits bekannten "Führungsgestalten" in Sicht, der auch nur annähernd den realistischen, unverkitschten Blick auf die Welt und die Menschen hat wie Ruth Klüger.

Kai Hügle | Sa., 10. Oktober 2020 - 15:47

Mit Formeln wie "kuschelige Erinnerungskultur", "schuldbewusstes Latte-Macchiato-Deutschland" oder "verklemmtem Streberstolz eifriger Vergangenheitsbewältiger" bedienen Sie zwar die Reflexe eines von AfD-Anhängern dominierten Kommentarbereichs, der sich ohnehin eine "erinnerungspolitische Wende" wünschen dürfte. Was jedoch eine "kitschige" Gedenkkultur sein soll oder wie eine nicht "kitschige" Gedenkkultur aussehen könnte, das wird in Ihrem Beitrag nicht deutlich. "Ein Haufen Kinderschuhe" mag Frau Klüger und Ihnen albern und "wohlfeil" vorkommen. Für Menschen, die den Holocaust nur aus dem Geschichtsunterricht kennen, und das sind inzwischen fast alle, sind solche Realien wichtig, um Abstraktes zumindest ein wenig konkreter werden zu lassen. Schade, dass Sie solche Erfahrungen in einem "Magazin für politische Kultur" einfach so wegbügeln...

Wojciech Kacpura | So., 11. Oktober 2020 - 21:28

Antwort auf von Kai Hügle

Beispiel gefällig: Ein Außenminister, der stolz damit hausiert, dass er "in die Politik wegen Ausschwitz gegangen ist". Da ich Jude, Pole und Deutsche bin, wird mir davon
dreifach übel. Raten Sie-warum? Auch deswegen weil er antiisraelische Politik betreibt.
Unter polnischen Juden fragt man sich, wie seine Aussage zu verstehen wäre?

gabriele bondzio | Sa., 10. Oktober 2020 - 20:54

in die sich das schuldbewusste Latte-Macchiato-Deutschland so heimelig eingerichtet hatte."...interessanter Satz, Herr Grau!
Es ist im Grunde auch schlecht vorstellbar, was sie erlebt hat. Der erste Schock, war wohl die Flucht des Vater 1938, beim Anschluß Österreich an das Deutsche Reich, ohne Frau und Kind mitzunehmen. Das soll sie ihr Leben lang beschäfftigt haben.
Dann Theresienstadt, Auschwitz. Demütigungen, Grausamkeit, Entrechtung und Vernichtung. Nur überlebt, weil sie mit der Mutter fliehen konnte. Auch ihre Ehe, mit dem Historiker Tom Angress in Amerika, war eine Enttäuschung...„Ich war neun Jahre lang verheiratet und am Ende der Ehe kam es mir vor, als falle ich aus dem Gefrierfach des Küchenkühlschranks heraus, um endlich aufzutauen.“ ...das sind Dinge, welche einen Menschen prägen und hart machen bzw. Sentimentalitäten ablegen lässt. Zumal auch ihr Leben in Amerika, nach der Scheidung, kein Leichtes war. Auch hier musste sie Anfeindungen über sich ergehen lassen.

Albert Schultheis | So., 11. Oktober 2020 - 13:52

Der Kitsch ist die pubertäre Aneignung, großer Gefühle, großen Leids, tiefer Einsichten Anderer durch saturierte Menschen, die nie mit solchen Gefühlen, solchem Leid, noch mit solchen Einsichten jemals persönlich konfrontiert wurden. Er ist der Bruder des Plagiats und des Diebstahls, der sich fremdes Eigentum, den sich andere durch harte Arbeit erschaffen oder erlitten haben, einzuverleiben versucht. Und er ist als Betroffenheitskitsch ein ganz markantes Element in den ideologischen Panikzonen der Rettung von "Flüchtlingen", der Rettung des Klimas, des Kampfes gegen Rassismus, der Genderisierung der Sprache und des Geistes sowie, ureigentlich, der Erinnerungskultur gegenüber der Nazi-Diktatur (interessanterweise und bezeichnender Weise gar nicht gegenüber der SED-Diktatur!). Er ist zentraler Bestandteil der Kampagne zur Infantilisierung der Gesellschaft. Verabscheuungswürdig! Weil er gerade die Jüngsten manipuliert und hinters Licht führt - wie eine andere Abart der Pädophilie.

Fritz Elvers | So., 11. Oktober 2020 - 16:08

sind nicht zuständig für Verzeihung“

Was für ein großartiger und treffender Satz. Zumal den Tätern eher vom Volke verziehen wurde.
Der Deal zwischen Ben-Gurion und Adenauer, seinen wichtigsten Mann Globke, der die Ausführungsbestimmungen zum Massenmord maßgeblich auf der Grundlage der Nürnberger Gesetze schrieb, zu verschonen, muss wohl noch zusätzlich für Verbitterung gesorgt haben.

Die offizielle Aufarbeitung kam viel zu spät, inwischen dürfen die "Andersdenkenden" wieder frech von einem "Schuldkult" sprechen.