- Gefangen im Freund-Feind-System
Dreißig Jahre nach dem "Deutschen Herbst" ist die RAF Geschichte. Doch sie führt ein eigenartiges Nachleben: Mancher Täter wähnt sich immer noch im Recht. Und der Anti-Terror-Kampf von heute lernt aus Erfahrungen von damals.
Ein Star-Produzent und ein Erfolgsregisseur: Bernd Eichinger und Uli Edel. Nina Hoss spielt Gudrun Ensslin, Martina Gedeck Ulrike Meinhof, Moritz Bleibtreu Andreas Baader. «Top-Darsteller» verwandeln den «Deutschen Herbst» bei den aktuellen Dreharbeiten zu Stefan Austs Bestseller «Der Baader-Meinhof-Komplex» in einen Blockbuster; so sieht es die «Bild»-Zeitung voraus. Und da das Springer-Blatt noch nie etwas gegen tote Terroristen hatte, wünschte es schon im Frühjahr allen freundlich viel Erfolg: «Es könnte die Rolle ihres Lebens werden!» Von den notorischen «Prada-Meinhof»-Produkten aus dem Design-Shop «Maegde & Knechte» bis zu Stefan Raabs TV-totalem Scherz, Max Buskohl als Schleyer vorzuführen («Seit 196 Tagen Gefangener von RTL»), ließen sich eine Unzahl von Belegen für die These des Zeithistorikers Wolfgang Kraushaar anführen, dass es sich bei der RAF um ein «inzwischen als abgeschlossen geltendes Kapitel aus der Geschichte des Terrorismus» handle.
Andererseits: die aufgeregten Debatten um die mögliche Begnadigung des Ex-Terroristen Christian Klar oder jüngst um wiederaufgetauchte Tonbänder aus den RAF-Prozessen in Stammheim haben gezeigt, dass das Thema immer noch geeignet ist, die Bundesrepublik zu erschüttern. Alle Versuche sind gescheitert, die Terroristen als normale Verbrecher zu behandeln, als Mitglieder einer Bande, die wie andere Kriminelle mordet, raubt und erpresst. Walter Scheel, der Bundespräsident des Jahres 1977, war nicht der Einzige, der in der RAF «Feinde jeder menschlichen Ordnung» schlechthin ausgemacht hat, deren «Flächenbrand» die ganze Welt und ihre Kultur zu zerstören drohe, wenn man ihn nicht rechtzeitig ersticke. Apocalypse Now! Die RAF war, so Scheel, «böse», und dieses Böse lässt sich weder als «Bonnie & Clyde»-Geschichte verpoppen noch normalisieren. Der Kampf zwischen Gut und Böse lässt sich nicht mit den Begriffen des Strafrechts fassen. Dies haben vor allem die Terroristen selbst von Anfang an so sehen wollen. Es ging darum – so zitieren Andreas Baader 1976 und Karl-Heinz Dellwo 2006 Walter Benjamin –, «das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen»; also nicht um die Reform der Gesellschaft, sondern um die Einsetzung eines «neuen Kalenders», den Übergang in eine neue Zeit. Walter Scheel zog das gleiche Register, wenn er dem Staat die Rolle zuwies, einmal mehr das Ende der Welt aufzuhalten. Theologische Denkfiguren Benjamins und Carl Schmitts prägen die Selbst- und Fremdbeschreibungen der RAF-Mitglieder bis heute. Solange dies aber der Fall ist, bleiben die Gefangenen aus der RAF ungewöhnliche Straftäter – und das historische Kapitel offen.
Die Welt, eine Matrjoschka-Puppe
Die Revolution sei «kein Osterspaziergang», und die «Baader-Befreiungs-Aktion war auch kein Deckchenstricken» – zumal die deutsche Polizei umstandslos zur Dienstpistole greife, «zu Tränengas, Handgranaten und MPs», und die «GIs in Vietnam auf Guerilla-Taktik umgeschult» und die «Green Berets auf Folterkurs gebracht» worden seien. Deshalb, so heißt es in der anarchistischen «Agit 883» vom 5. Juni 1970, «bauen wir die Rote Armee auf».
Andreas Baader hat sich zuvor seiner Strafe für die Frankfurter Kaufhausbrandstiftungen von 1968 in einen Urlaub nach Frankreich und Italien entzogen. Am 4. April 1970 wird er in Berlin verhaftet. Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof fassen den Plan, ihn aus der Haft herauszuholen. Im Gefängnis Tegel erreicht ihn ein Vertrag des Verlegers Klaus Wagenbach, die prominente Journalistin Meinhof fungiert als Ko-Autorin. Um ihr Buch über randständige Jugendliche zu verfassen, sei es unabdingbar, dass Baader im «Deutschen Zentralinstitut für Soziale Fragen» recherchiere. Baaders Anwalt Horst Mahler bringt den Leiter der Tegeler JVA dazu, den Besuch im Institut zu gestatten. Meinhof und Ensslin kaufen Pistolen mit Schalldämpfer. Am 14. Mai wird Baader aus dem Instituts-Lesesaal befreit. Der Bibliotheksangestellte Georg Linke wird durch einen Lebersteckschuss schwer verletzt. Die Täter verbreiten später die Legende, in der Gestalt des 62-Jährigen habe sich die totalitäre Staatsmacht den Revolutionären in den Weg gestellt. Baader und Meinhof springen aus dem Fenster in den Untergrund.
Dieser faustische
Schritt vom «Wort» durch die «Kraft» der Entschlossenheit zur «Tat»
mag aus Sicht der hochgebildeten wie hochbegabten Germanistinnen
und Studienstiftlerinnen Ensslin und Meinhof kein Osterspaziergang
gewesen sein, wie Goethe ihn beschreibt. Aber in einen Zusammenhang
mit folternden Spezialkräften in Vietnam lässt er sich nur bringen,
wenn man die Welt für eine Matrjoschka-Puppe hält: Hinter dem
Hauswart steht dann die Verwaltung, hinter dieser die Hausbesitzer,
dahinter die Gerichtsvollzieher, dahinter die Polizei, und hinter
all dem der US-Stabschef Westmoreland und letztlich der
Imperialismus. So lässt sich die Befreiung eines Häftlings – der
schwach bewacht in einer Bibliothek in Dahlem Randgruppenforschung
betreibt – zu einer Aktion hochschreiben, die kein Deckchenstricken
gewesen sei. «Was hier losgeht», sei «in Vietnam schon
losgegangen», teilt die künftige RAF allen «Hosenscheißern» mit,
die Mitleid mit Georg Linke zu haben wagen, statt in den
Untergrund zu gehen. Was ist denn schon «’ne Kugel im Bauch», wenn
es Napalm regnet? Alles relativiert sich, wenn der Maßstab die
Erlösung der Welt ist. Zum Sprung aus dem Institutsfenster muss man
sich den Lärm des Maschinengewehrfeuers und den Hauch eines Engels
der Geschichte hinzudenken, der alles in Trümmer legt, um durch sie
hindurch eine Schneise ins Paradies zu schlagen.
Die Armee kämpft, sie diskutiert nicht mehr
Neben der Selbstheroisierung zum «Kämpfer» lässt sich bereits damals die typische Rechtfertigungsstrategie der RAF ausmachen: Was immer man Grausames tut, ist legitimiert durch die Matrjoschka-Theorie, die im 20-jährigen Soldaten, im Fahrer oder Diplomaten todsicher einen faschistischen Kern erkennt und in völliger moralischer Überlegenheit zur Exekution schreitet. In diesem «politischen Raum» – um eine Formulierung Christian Klars vom 22. November 2001 zu übernehmen – haben bürgerliche Moralbegriffe keinen Platz. Beinahe alle Zutaten des RAF-Diskurses sind in der ersten Broschüre schon enthalten: Die Legitimierung der eigenen Taten durch die verbrecherische Gewalt der «Schweine»; die größenwahnsinnige Stilisierung der eigenen Aktionen zum Teil einer globalen und epochalen Umwälzung; die Abdichtung der eigenen Weltsicht gegen jeden Einwand von außen: «Es hat keinen Zweck, den falschen Leuten das Richtige erklären zu wollen.» Was nach der schnellen Verhaftung der ersten Generation der RAF im Sommer 1972 hinzutritt, ist die öffentliche Selbstinszenierung als «Opfer einer faschistoiden Staatsmaschine», die in der «Vernichtungshaft» jeden unangepassten Menschen vorsätzlich zerstöre.
Der Gang in den Untergrund macht die Lage schwierig, aber auch
einfach: Die Rote Armee kämpft, sie diskutiert nicht mehr. Man ist
Teil des Problems oder Teil der Lösung. Bereits 1988, in seiner
luziden «Geschichte des Jahres 1977», beschreibt Rainald Goetz
diesen Zusammenhang von Dezisionismus, Intensität und
Komplexitätsreduktion: «Auch der schönste Anfang fängt sich nicht
aus dem nichts heraus von selbst an, sondern wird gemacht, gesetzt
gegen den Feind. Einen einmal als Feind erkannten Feind so lange zu
verfolgen, wie die Kraft reicht, ist richtiger, als sich mit ihm
abzufinden oder zu versöhnen.»
Über diesen Dezisionismus der RAF, über die Motive und Register ihrer Selbststilisierung, über die Funktionen terroristischer «Komplexitätsreduktion mit der Waffe» (Herfried Münkler), über die imaginäre und faktische Vernetzung mit der internationalen Guerilla, über die psychischen Dispositionen und politischen Motive der Akteure erfährt man alles, was man wissen kann, in dem von Wolfgang Kraushaar herausgegebenen, zweibändigen, 1400-seitigen Sammelband «Die RAF und der linke Terrorismus». Der Band erschließt den historischen Komplex in vielen hervorragenden Beiträgen. Wolfgang Kraushaar wendet sich ausdrücklich gegen die Fixierung der Forschung auf einige wenige Akteure: Entstehung und Entwicklung terroristischer Gruppen ließen sich nicht als «Addition weniger Einzelbiografien» begreifen.
Um die Besonderheit der RAF zu erschließen, werden hier daher ihre Organisation, ihre Selbstbeschreibungen, ihre Operationen und Kooperationen umfassend gesichtet und in einen breiten Kontext gestellt – von den Guerilla-Taktiken Maos und Che Guevaras, dem neuen Terrorismus der al-Qaida, den Theorien Walter Benjamins und Carl Schmitts, Frantz Fanons und Régis Debrays bis zu vergleichbaren Bewegungen wie den «Tupamaros», dem «2. Juni», den «Black Panthers» oder «Roten Brigaden». Untersucht werden die transnationalen Verflechtungen der RAF, ihre militärische Ausbildung im Nahen Osten und die hilfreiche Rolle der Stasi, die ambivalente Rolle der staatlichen Institutionen beim Kampf gegen den Terrorismus und die Problematik des «Ausnahmezustandes» im «Deutschen Herbst» wie im deutschen Denken; auch die Medien und die Künste spielen eine Rolle – bis hin zu den jüngsten Verarbeitungen der RAF als Pop. Nichts fehlt, außer einem Index, der die Orientierung in diesem Werk erlauben und es zu einer Enzyklopädie machen würde.
Nach der «sogenannten Baader-Befreiung», berichtet Hans Magnus Enzensberger hier seinen Gesprächspartnern Kraushaar und Jan Philipp Reemtsma, hätten ihn die vier Flüchtigen aufgesucht, um sich beherbergen zu lassen. Nichts sei vorbereitet gewesen, alles sei mehr oder minder «aus Versehen» so passiert. Enzensberger hält es für symptomatisch, dass es bei dieser «Aktion» auch nicht um «eine politische Forderung» gegangen sei, sondern nur um Baader – der nach Auskunft seiner Biografen Klaus Stern und Jörg Hermann «keinen Tag länger» einsitzen wollte. Mit dieser Tat habe die noch namenlose Gruppe ihren Hauptprogrammpunkt entwickelt, nämlich die Befreiung ihrer eingesperrten Mitglieder. Schon 1978 habe man in linken Kreisen über die «Befreit-die-Kader-Guerilla» gespottet. Enzensberger erklärt die «Selbstbezüglichkeit» zum Charakteristikum der RAF: «Es ging immer nur um sie selbst, d. h. um den Austausch von Gefangenen, um ihre Freipressung.» Das Projekt der RAF basiere nicht auf einer «Analyse der gesellschaftlichen Situation», vielmehr sei aus einer autistischen Binnenwelt eine ideologische Rhetorik hervorgegangen, die allein der pompösen Rechtfertigung ihrer Befreiungsaktionen gedient habe.
Für diese Autismus-These liefert nun das ehemalige RAF-Mitglied Karl-Heinz Dellwo einen schlagenden Beweis. Dellwo hat seine Erfahrungen mit einer Gruppentherapie veröffentlicht, in dem aufschlussreichen Gesprächsband «Nach dem bewaffneten Kampf. Ehemalige Mitglieder der RAF und der Bewegung 2. Juni sprechen mit Therapeuten über ihre Vergangenheit». Sein Resümee nach jahrelanger Therapie, in der die Gruppe, wie der Psychologe David Becker formuliert, «schmerzhaft» gelernt habe, «das Schweigen – ihr eigenes, wie das der Gesellschaft – zu durchbrechen», lautet: «Unser Aufbruch war richtig.» Dellwos «Kommando Holger Meins» hat im Verlauf der Botschaftsbesetzung in Stockholm zwei Diplomaten exekutiert; noch 2003 posiert Dellwo im Film «Stockholm ‘75» unter dem Logo der RAF. Dass der Sohn des ermordeten Attachés Andreas von Mirbach ein Gespräch mit Dellwo für sinnlos hält, weil dieser sich selbst für ein Opfer halte («Isolationsfolter»), kann man verstehen. Dass Psychotherapeuten den Terroristen dabei helfen wollen, ausgerechnet «ihr Opfertum zu reflektieren» statt ihre Taten, dagegen nicht.
Eine wahnsinng gewordene Gruppentherapie
Die zweite und dritte Generation der RAF wurden weitgehend aus dem Umfeld der Gefangenen-Komitees wie der «Roten Hilfe» rekrutiert. In Anne Siemens’ Buch «Für die RAF war er das System, für mich der Vater» heißt Viveka Hillegaart es gut – sie ist die Tochter des in Stockholm erschossenen Botschaftsrats Heinz Hillegaart –, «dass die Täter in den neunziger Jahren aus der Haft entlassen wurden». Denn damit habe man der Praxis der RAF, mit dem Verweis auf die «angeblich unmenschlichen Haftbedingungen» Mitglieder zu rekrutieren, den Boden entzogen. Den gleichen Tätern wünscht Clais von Mirbach einen Neuanfang. Doch diese Chance scheinen die «ehemals bewaffnet Kämpfenden», wie ihre Therapeuten die Terroristen beschönigend nennen, verpasst zu haben. Wie um Wolfgang Kraushaars These zum Dezisionismus in den Texten der RAF zu bestätigen, feiert Dellwo am Ende unzähliger Gruppensitzungen die Entschlossenheit von «uns», der «nicht-integrationswilligen Linken»: Die RAF habe sich nie «kaufen lassen», sie sei nie «vom Grundsätzlichen» abgewichen. Zwar sei die RAF 1977 gescheitert; doch habe sie sich nie «unterworfen». Dies, so Dellwo, «vereint uns»: Tempus Präsens, man ist immer noch vereint.
Langatmig
rechtfertigt Dellwo die Entscheidung für den «bewaffneten Kampf»
gegen den internationalen Imperialismus im Allgemeinen und den
«Nach-Nazi-Staat», seine «nationalsozialistischen Eliten» und die
«bürgerlichen Strukturelemente des Faschismus» im Besonderen. Die
RAF habe aus bloßen «Revolutionsfantasien» Taten werden lassen,
doch leider habe sie «ihre internationalen Bezugspunkte verloren»
und ihr Ziel daher nicht erreichen können. Man habe die
weltpolitische Lage falsch eingeschätzt, die Zeitenwende war noch
nicht gekommen, doch habe man niemals «die Selbstlüge der Massen»
akzeptiert und sich auf eine «Normalisierung der kapitalistischen
Verhältnisse» eingelassen. Dies sei dagegen der Weg der
«opportunistischen Hosenscheißer» gewesen. Denen konnte man, wie
einst Enzensberger, vorwerfen, «sich nicht zu trauen». Besonderen
Ärger zieht Jan Philipp Reemtsma vom Hamburger Institut für
Sozialforschung auf sich. Dieser habe, so erregt sich Dellwo, in
seinen Analysen den «bewaffneten Kampf», der sich der
existenziellen Frage «Sozialismus oder Barbarei» wirklich gestellt
habe, als «Ausdruck eines unpolitischen Machtrausches letztlich
kranker Individuen verächtlich» gemacht. Und David Becker meint in
seinem Vorwort zu den Therapeutengesprächen, Reemtsma habe der «RAF
jede politische Motivation abgesprochen» und damit die «RAF-Leute
gekränkt und verletzt». Sie haben es doch gut gemeint! Reemtsmas
Wort «einer wahnsinnig gewordenen Gruppentherapie» ist auch hier
schlagend.
Selbstverständlich ist das gesellschaftliche Phänomen des Terrorismus viel zu komplex, um auf den Seelenhaushalt von Pastorentöchtern wie Ensslin und Heimkindern wie Peter-Jürgen Boock zurückgeführt zu werden. Ein höchst interessantes Interview mit dem beinahe 82-jährigen Horst Herold, dem ehemaligen Präsidenten des Bundeskriminalamts, beschließt Kraushaars Band. Horst Herold vertritt eine Position, die nicht weiter entfernt sein könnte von aller Psychologisierung und Biografisierung der RAF. Herold erinnert daran, wie er damals ein kybernetisches Modell einführte: Die Bevölkerung sollte statistisch umfassend erfasst werden können, die Wechselwirkungen «zwischen räumlichen und zeitlichen Kriminalitätsschwerpunkten und den wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und städtebaulichen Raumfaktoren» aufgenommen und Prognosen ermöglicht werden. Bereits 1968 erschließt Herold die Möglichkeiten der elektronischen Datenverarbeitung, um «Büroflächendichte, Schaufensterdichte, Angebot an abendlichen Treffpunkten, Beleuchtungsdichte» in «mathematisch verwertbare Meßgrößen» zu verwandeln. Kriminalität vorherzusehen und präventive Maßnahmen zu ergreifen, war das Ziel. Als Chef des BKA hat Herold diese Erfassung und Auswertung gesellschaftlicher Daten ausgeweitet und beschleunigt. So kann er heute sagen, dass er 1976 die «informatorische Überlegenheit» über die RAF erreichte; dass er «mehr über die Terroristen wußte als diese selbst. Ende 1976 kannten wir die Personen, die dann 1977 zu Tätern wurden.»
So beschreibt Herold eine Kontrollgesellschaft, deren allumfassende Datenerfassung dazu dient, etwaige Abweichungen von der Norm durch flexible Interventionen zu verhindern: Wo sich Gefährdungen statistisch verdichten, wird vorsorglich eingegriffen. Nicht der «Bulle mit MP», sondern der Statistiker gibt der Macht ihr dezentes Gesicht. «Risiken», so legt Rainald Goetz in «Kontrolliert» dem BKA-Beamten Stein in den Mund, lassen sich nicht «erschießen», sondern «kalkulieren»: managen. Neben die gewaltige Inszenierung des Ausnahmezustandes auf der Staatstheater-Bühne, die gemeinsam von Regierung, Opposition, Medien und RAF gestaltet wurde, tritt die unauffällige Macht der Kontrollgesellschaft. Das BKA nach Horst Herold denkt den Normalfall eben nicht mit Carl Schmitt und Helmut Schmidt vom Ausnahmefall her, sondern es denkt die Ausnahme eher so, wie die Statistiker und Techniker sie beschreiben: als erwartbare Abweichung, auf die mit neuer Justierung reagiert wird – um wiederum nachzumessen, die Ergebnisse zu kontrollieren und gegebenenfalls nachzujustieren. In den Worten von Rainald Goetz’ Referenten Stein: «Neuvermessung, Eichung, Bestimmung des Meßfehlers der Apparatur, Bilanz», dann Wiederholung, «hochsensibel», irritationsbereit, das ist die tägliche Arbeitsroutine im BKA.
Heute arbeiten solche Leute bei «Google» oder «Amazon», um Nutzerprofile und Such-Algorithmen zu erstellen. Von deren prognostischer Qualität und Flächendeckung mag Horst Herold 1977 geträumt haben. Während die Volkszählung von 1987 noch in weiten Kreisen der Bevölkerung boykottiert wurde, gibt heute jeder Internet-Nutzer ganz unvermeidlich intimstes Wissen preis, ohne dass jemand auf die Idee käme, in den Datenverarbeitern den zu vernichtenden Feind auszumachen. Der so genannte Cyber-Terrorismus ist mehr ein Versicherungsrisiko als eine Gefahr für die Menschheit.
Ein Datensatz namens Terrorismus
Horst Herold hat im Terrorismus keine Herausforderung des Staates gesehen, der nur im Ausnahmezustand souveräner Gewalt zu begegnen sei, sondern ein Problem der Datensammlung und -auswertung. Er vertritt konsequent die Auffassung, die RAF sei ein «Signal für nachfolgende tiefgreifende Umbrüche der Gesellschaft und der politischen Ordnung gewesen». Der Terrorismus, welcher bereits der Rasterfahndung die «Daten seiner Überwindung lieferte», hätte daher prognostisch aufgefasst werden müssen. In der aktuellen Globalisierung eines fessellosen Kapitalismus sei das Positiv jener «Negativbilder» zu erkennen, die Ulrike Meinhof Jahrzehnte vorher unter dem Titel des Imperialismus beschrieben habe. Die kybernetische, normalistische, präventive Sozialtechnik Herolds wollte bereits 1977 den Datensatz namens Terrorismus als weltgesellschaftliches «Frühwarnsystem» nutzen. Bundeskanzler Helmut Schmidt habe dafür in der Ausnahmesituation des «Deutschen Herbstes» freilich kein Verständnis gehabt.
Selbst die Interviewer des Jahres 2005 fragen noch einmal überrascht nach. Neben den Dezisionismus, der die RAF wie den Staat im Ausnahmezustand geprägt hat, tritt hier eine gouvernementale Steuerungstechnik, die nicht auf Entscheidung setzt, sondern auf Feedback und Fein-Tuning. Millionen von Ermittlungs- und Kriminalakten, die in riesigen Archiven schlummern, harren ihrer Diskurs-Analyse. Bis dahin, so formuliert Horst Herold, «wissen wir nicht, was wir wissen». Dies war exakt das Problem des 11. September 2001. Der gegenwärtige War on Terror wäre nach Herold nicht mit Luftschlägen, Armee-Einsätzen oder Flottenbewegungen zu führen, sondern mit Datenerhebungen und Hochrechnungen. Diese Daten sind ohnehin alle schon erhoben, schlummern aber womöglich noch. Die Konsequenzen daraus sind tatsächlich längst gezogen. Aber nicht von den Falken, auch nicht von Tauben, sondern von Experten, deren Wappentiere Maulwurf oder Fledermaus sein könnten.
Niels Werber ist Literatur- und Medienwissenschaftler. Soeben ist seine Studie «Die Geopolitik der Literatur. Eine Vermessung der medialen Weltraumordnung» erschienen.
Der Deutsche Herbst 1977… 5. September Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer wird in Köln entführt. Die RAF fordert die Freilassung von Häftlingen, doch die Bundesregierung verhandelt nicht
… 12. September «Bild» veröffentlicht den Aufruf Waltrude Schleyers an die Bundesregierung: «Lasst meinen Mann leben – tauscht ihn aus!»
… 22. September Der RAF-Terrorist Knut Folkerts wird in Utrecht bei einer Schießerei festgenommen und tötet dabei einen niederländischen Polizisten
… 13. Oktober Die Lufthansa-Maschine «Landshut» wird von palästinensischen Terroristen entführt und landet am 17. Oktober auf dem Flughafen Mogadischu
… 16. Oktober Die «Landshut»-Entführer erschießen den Flugkapitän Jürgen Schumann
… 18. Oktober Die «Landshut» wird von der GSG 9 gestürmt, als Reaktion erschießen die Terroristen Hanns Martin Schleyer. In derselben Nacht begehen die in Stammheim inhaftieren RAF-Terroristen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe Selbstmord
… 19. Oktober Im elsässischen Mülhausen findet die Polizei die Leiche des Arbeitgeberpräsidenten Schleyer
Willi Winkler
Die Geschichte der RAF
Rowohlt Berlin, Berlin 2007. 528 S. 22,90 €
Wolfgang Kraushaar
Die RAF und der linke Terrorismus
Hamburger Edition, Hamburg 2007. 2 Bde., 1415 S., 78 €
Angelika Holderberg (Hg.)
Nach dem bewaffneten Kampf. Ehemalige Mitglieder der RAF
und der Bewegung 2. Juni sprechen mit Therapeuten über ihre
Vergangenheit
Mit Beiträgen von Monika Berberich, Karl-Heinz Dellwo, Knut
Folkerts, Roland Mayer, einem Vorwort von David Becker.
Psychosozial-Verlag, Gießen 2007. 216 S., 19,90 €
Karl-Heinz Dellwo
Das Projektil sind wir. Der Aufbruch einer Generation, die
RAF und die Kritik der Waffen
Gespräche mit Tina Petersen und Christoph Twickel.
Edition Nautilus, Hamburg 2007. 192 S., 13,90 €
Jörg Herrmann, Klaus Stern
Andreas Baader. Das Leben eines Staatsfeindes
dtv, München 2007. 360 S., 15 €
Anne Siemens
Für die RAF war er das System, für mich der Vater. Die
andere Geschichte des deutschen Terrorismus
Piper, München, Zürich 2007. 287 S., 19,90 €
Ulf G. Stuberger
Die Tage von Stammheim. Als Augenzeuge beim
RAF-Prozess
Herbig, München 2007. 319 S., 19,90 €
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