Kurz und Bündig - Dieter Richter: Neapel. Biographie einer Stadt

Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt, hat sich der moderne Neapel-Reisende ein Bild von der Stadt gemacht, das dem vergangener Epochen in vielem gleicht: Anders als das gemäßigte Rom galt Neapel nämlich immer schon als Metropole südlicher Exzesse, die mit katholischen Blutwundern ebenso aufwarten kann wie mit Naturspektakeln, gruse­ligen Altstadtgassen und provozierend entspannten Bewohnern.

Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt, hat sich der moderne Neapel-Reisende ein Bild von der Stadt gemacht, das dem vergangener Epochen in vielem gleicht: Anders als das gemäßigte Rom galt Neapel nämlich immer schon als Metropole südlicher Exzesse, die mit katholischen Blutwundern ebenso aufwarten kann wie mit Naturspektakeln, gruse­ligen Altstadtgassen und provozierend entspannten Bewohnern. Neapel, das zeigt Dieter Richters «Biographie einer Stadt», war von Beginn an ein Ort der gemischten Gefühle. In der Antike warnt Seneca die reichen Römer davor, dass die Thermen die Sinne ver­weich­lichen, Petrarca schwärmt für das Nebeneinander von Heilsamem und Giftigem in dieser Gegend, und in den barocken Reiseführern blüht das Klischee vom Paradies, das lauter Teufel bewohnen. Um 1800 fühlt sich August von Kotzebue bei den Neapolitanern an Irokesen erinnert und nennt sie «die Wilden von Europa» – diese Vorstellung vom mehr oder minder edlen Naturkind wird in der Folgezeit noch weiter getrieben. Neben dem Blick auf den historischen Wandel, den Neapel unter der Herrschaft der Bourbonen, Österreicher, Fran­zosen und mit der Grün­dung des Königreichs Italien erlebt hat – sozusagen dem klassisch-lehrreichen Part jeder Stadtgeschichte – pflegt Dieter Richter vor allem die fremde Perspektive auf eine Großstadt, die nie so richtig in der Moderne ankommen wollte. Was er hervorragend aus den
Dokumenten herauspräpariert, sind die Wahrnehmungsverschiebungen bei den Ausländern, die sich länger oder kürzer in der Stadt aufhielten: In den Gästebüchern der Grandhotels, den Kirchen-Archiven der protestantischen Gemeinden und den Beschreibungen von Goethe, Herder, Gregorovius oder Fontane zeigt sich, wo die gefühlte Trennlinie zwischen Nord und Süd, Evangelisch und Katholisch, Ratio und Sinnlichkeit jeweils verläuft. Vor allem vom 18. zum 19. Jahrhundert vollzieht sich ein Wandel, der die bedrohlichen Seiten stärker hervortreten lässt. «Vor das klassisch-antiquarische Bild der ‹Stadt Vergils› schiebt sich deut­licher als zuvor das Bild der ‹Stadt der Lazzaroni›, der groß­städtischen Massen», schreibt Richter und verweist auf den «ethnologischen Blick» des 19. Jahrhunderts, der die kollek­tive Mentalität eines Volkes untersucht und sich dabei eben an Städten wie Neapel schult. (Die Camorra, die zur gleichen Zeit entsteht und ebenfalls von zeitgenössischen Volks­kund­lern beschrieben wird, lässt das Buch leider aus.) Nicht
zuletzt sorgen Vesuv-Ausbrüche und die Nähe von Toten­städten wie Herkulaneum und Pompeji für eine ordentliche Dosis Düsternis über der lieblichen Kulisse. Dieser morbide Charme, das liest Richter den Touristenströmen der Jahrhunderte ab, verwirrt auch dem Bildungseifrigsten die Sinne. Da muss selbst Goethe passen: «Ich erkenne mich kaum, ich scheine mir ein ganz anderer Mensch. Gestern dacht’ ich: ‹Entweder du warst sonst toll, oder du bist es jetzt.›»

 

Dieter Richter
Neapel. Biographie einer Stadt
Wagenbach, Berlin 2005. 301 S., 13,90 €

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