- Die Liste lebt
Plötzlich diese Übersicht: Mit Umberto Eco unterwegs durch die Listen dieser Welt – und des weltweiten Netzes
Am liebsten sieht er sich doch an der Spitze der europäischen Avantgarde, der Meisterdenker Umberto Eco. Vergangenes Jahr ging es in seinen Veröffentlichungen noch um den Hype von Schönheit und Hässlichkeit. Jetzt bricht er eine Lanze für «Die unendliche Liste». Zwar läuft auch dieses Turnier schon seit geraumer Zeit, aber wie Eco die Textsorte nun präsentiert – anthologisch, mit Bildern für eine Ausstellung im Pariser Louvre – zeugt doch von durchtriebener Retro-Vernunft. Denn nichts oder fast nichts von dem, was wir gegenwärtig mit «Listen» verbinden, kommt vor.
Kennt Eco wohl «Craigslist»? Gegründet 1995 als Gruppen-E-Mail von einem Mann namens Craig Newmark in San Francisco, hat sich dieser Hort für kostenlose Kleinanzeigen seither zu einer gigantischen Internet-Lebensform entwickelt. Unter «www.craigslist.org» findet man Kauf- und Verkaufsangebote in 570 Städten aus 50 Ländern in sechs westlichen Sprachen. Mehr als 20 Milliarden Mal klicken die zehn Millionen Nutzer monatlich auf die Seite; zur gleichen Zeit kommen sieben Millionen neue Anzeigen. Kurz, es ist das weltgrößte Unternehmen dieser Art. Betrieben von nur 19 Leuten, bietet es längst nicht mehr nur Waren, sondern schlechterdings alles: Jobs, Heiratsmärkte, Dienstleistungen jeglicher Art und Diskussionsforen. Rein lebenserhaltungstechnisch bräuchte man den Horizont von «Craigslist» nie mehr zu verlassen – weil das Unternehmen zwar weltweit agiert, aber lokal denkt. Alle Käufe sollen von Mensch zu Mensch persönlich abgewickelt werden, keine Überweisungen, keine internationalen Speditionen sind zugelassen. Denkbare Betrugszonen des globalen Handels versucht man so zu unterlaufen. Jeder soll im eigenen Kiez Handel treiben und dabei gleich jemanden kennenlernen: Gemeinschaft versus Gesellschaft.
«Craigslist» heißt aber nicht nur «Liste», sondern ist auch formal eine gigantische Liste. Wenn man die Seite aufruft, erscheinen Städtenamen und nach dem nächsten Klick Angebote in strikt alphabetischer Anordnung, ohne jegliches Ornament oder Anzeigengewusel. Angenehm fürs Auge, trocken fürs Herz, unterhaltsam und tendenziell unendlich wie ein Telefonbuch.
Listen wie diese beherrschen seit Erfindung des Internets unsere elektronische Lebenswelt. Dominierende Programme bieten Such-, Verkaufs- oder Auktionslisten, alle tendenziell unendlich, alle alphabetisch sortiert und jederzeit umsortierbar. Unsere so-genannte Wissenswelt ist längst alphabetisch durchlistet, nicht zuletzt, weil die kleinen Fenster, zu denen sich unsere Wahrnehmung inzwischen hat minimieren lassen, den womöglich vorhandenen Reichtum nur nacheinander gescrollt zeigen können.
«Aufsteiger des Tages» im Stundentakt
Aber was heißt hier «Liste» und was «nacheinander»? Soll man an Anzeigentafeln in Bahnhöfen denken, die sich minütlich ändern? In der Handelswelt des Cyberspace ist sogar die alphabetische Liste schon obsolet. Sie kommt aus dem Feld der Bibliotheken, die Autoren und Titel ohne Ansehen von Person und Sache verzeichnen. Nein, entscheidend sind heute Ranglisten: Wer hat die meisten Klicks? Die Perspektive treibt giftige Blüten. Eine Website von Slam-Poeten (www.myslam.de) präsentiert ihre Mitglieder in sechs verschiedenen Rankings. Wer reist am meisten? Wer hat die meisten Kilometer zurückgelegt? Wer die meisten Profilaufrufe, die meisten Medien, die meisten Forenbeiträge? Wüsste man nicht, dass Poeten Satiriker sein können – oder müssen –, man könnte die Rangwut für realitätsgerecht halten. Viele kommerzielle Websites servieren derartige Rankings, damit man weiß, wohin der öffentliche Hase läuft. Die Internet-Buchhandlung Amazon nennt für ihre stündlich aktualisierten Bestsellerlisten gar «Aufsteiger des Tages».
Numerische Ranglisten beherrschen unseren Alltag. Jedes Kind weiß, dass in den Charts das Herzblut der Industrie brodelt. Jeder Fernsehmacher zittert vor den Einschaltquoten am nächsten Morgen, jeder Filmemacher dito. Jeder Autor, jede Buchhandlung, jeder Verlag vor der Abrechnung. Taucht ein Buch bei Amazon gerade eben erst auf, steht schon das bucklicht Männlein in Gestalt eines Listenplatzes daneben. Man stelle sich einen Buchhändler vor, der dem Käufer ein Buch zeigt und dazu sagt: «Das verkaufen wir alle drei Jahre.»
Wie Engel auf einer sozialdarwinistischen Jakobsleiter regieren auf- und absteigende Zahlen unsere Lebens- und Leibeswelt. Meist wird mit einem Vielfachen ein Einfaches erstrebt, ein erster Platz. Fast alle Sportarten operieren mit Rankinglisten, fast alle ver-einfachen quantifizierbare physische Leistungen im Countdown zu einer Eins. Ausgenommen das Springreiten, wunderbar und staunenswert; denn hier gewinnt gerade, wer die Zahl Null produziert.
Die Frage nach der Pole-Position
Hierarchisch quantifizierende Listen regieren uns natürlich auch politisch seit und mit Erfindung der Demokratie. Selbst die kulturspezifischen Long- und Shortlists aller Art und die daraus erwählten Sieger gehen schließlich auf Stimmenmehrheit zurück. Alexis de Tocqueville, der berühmte französische Kritiker der amerikanischen Demokratie, meinte: Wenn alle einander gleich sind, misstraut jeder Einzelne jedem andern Einzelnen. Vertraut wird nur noch der Summe – in Gestalt einer öffentlichen Meinung –, eben der Stimmenmehrheit. Wer oder was höchste Quantität auf sich vereinigt, wechselt dann sozusagen die Liga, schlägt um in Qualität: die große Summe in einen Premier.
Die Frage nach der Pole-Position auf einer Rangliste bringt gelegentlich alle anderen Fragen nach Werthaltigkeit, Bedeutsamkeit und Autorität zum Schweigen. Das numerische Wesen durchherrscht als neue und vielleicht letzte Ordnung des Wissens unaufhaltsam unser Leben und die Bildschirme. Schließlich besteht ja auch deren Schau nur aus Pixeln – deren immer höhere Anzahl offenbar über die Qualität des Bildes entscheidet. Ja, vielleicht ist die dramatische Konjunktur der Bilder heute nur ein letzter Kampf gegen das immer deutlicher hervortretende numerische Substrat unserer Existenz. Nicht umsonst nennen die Franzosen das elektronische Gewerbe «numérique». Es geht nicht nur nebenbei, sondern im Kern um lauter «unendliche Listen». Finanzblase und -krise haben es mit totenschädelartigem Grinsen gezeigt – mit ihren finanziellen Transaktionen in elektronischer Geschwindigkeit, im Bild auf der Börsentafel, vor den entsetzten Mienen der Akteure. Eine Apokalypse für Melancholiker, die mit Mephisto das, was entsteht, auch gern zugrunde gehen sähen.
Von der Weihnachtskarte zu Schotts «Sammelsurium»
Aber halt. Es gibt natürlich auch «endliche» Listen, sozusagen ökologische Beispiele für die Textsorte. Eins der berühmtesten in Deutschland stammt von Günter Eich aus dem Jahr 1948, das Gedicht «Inventur»: «Dies ist meine Mütze, / dies ist mein Mantel / hier mein Rasierzeug / im Beutel aus Leinen …». Inventur machen wir mit dem, was wir unser Eigen nennen – oder auch mit dem, was getan wurde oder noch zu tun ist. Schon seit der Antike gehört auch hierhin, wer uns was schuldet oder wem wir was schulden. Aufzählen, was ein Kamel oder ein Elefant oder ein Esel tragen soll, womit ein Schiff beladen wird, wieviele Sklaven oder Seelen ein Menschenhalter besitzt, wieviele Menschen ein Volk umfasst (Zensus), wie die Namen der Väter hießen (Genealogie), wieviele Geschöpfe in die Arche Noah gehören: All diese Checklists machen Inventur im Sinne von realitätssichernden Bestandsaufnahmen. Und als solche kann man jedes Register in einem Buch betrachten – oder Werkverzeichnisse wie Köchels für Mozart oder jeden Katalog, jede Gästeliste und Speisekarte.
Was keineswegs heißt, dass dieser Listentyp nur gute oder sinnvolle Werke beschreibt. Auch «schwarze Listen» in der Politik gehören ja dazu, man denke an die dämonischen Todeslisten im «Dritten Reich» und die erst jüngst ausgestellten Auktionslisten mit der Habe vertriebener jüdischer Bewohner. Manche Kulturwissenschaftler vermuten, dass der Typus der manipulierenden Menschenliste in Schriftform seit Erfindung der Bürokratie, der Archive und Akten immer mehr unsere Existenz regiert. Und hat nicht wirklich der Schwarze September 2001 einen unerhörten Schub an Menschenregistratur erzeugt? Zusammen mit den Bildkatalogen aus den seither installierten Überwachungskameras – lauter potentielle Steckbriefe! – ergibt sich eine komplette Listbarkeit jedes Einzelnen. Eine unheimliche Vorstellung. Denn dieser Einzelne entfaltet damit unweigerlich ein dokumentarisches Eigenleben, in einer Art «web minus eins punkt null», statt in einem angenehm heimlichen First oder Second Life oder dem raffinierten «web 3.0» mit seinen Begriffswolken.
Aber wo Texte sind, gibt es eben auch Dichter. Vielleicht nicht zufällig hat nur ein Jahr nach dem Schwarzen September ein kurios listender Bestseller den Weltmarkt erobert: Ben Schotts «Sammelsurium», inzwischen millionenfach verkauft, übersetzt und imitiert. Angeblich zunächst eine selbstgemachte Weihnachtskarte mit einem Inventar dessen, was man bräuchte, um durchs Leben zu kommen, schlug es schließlich in Unsinnspoesie um. Aber hat die Liste nicht wirklich poetische Verwandte wie Günter Eich?
Eine falsche Zutat, und der Zaubertrank wirkt nicht
Aber ja. Umberto Eco hat ihnen sein Buch gewidmet – in einer exorzistischen Anstrengung gegen die herrschenden Rankings und als mahnender Genealoge. Sein Katalog steht völlig im Bann der klassischen Rhetorik und Poesie: Aufzählungen gab es schon bei Homer; Aufzählungen repräsentieren den sogenannten «Unsagbarkeitstopos» als Redefigur für alles, was unendlich ist, schön oder hässlich oder reich oder einfach vielfältig. Literarisch setzt sie sich durch mit der Moderne, als teils lyrisches, teils aber offen satirisches, oft ungeheuer komisches Werkzeug der Literatur. Zwei Poeten beherrschen Ecos Buch: François Rabelais und Jorge Luis Borges.
Rabelais steht für die Satire, Borges für das alchemistische Element, das alle Büchernarren zu solchen macht. Denn gerade die Bücher öffnen mithilfe des Alphabets ihre Listen hinaus ins Unendliche – einerseits. Andererseits aber eben zugleich zur hybriden Gesamtschau nach Art einer alexandrinischen Bibliothek. Und seit biblischer Zeit ist die Idee des einen und einzigen Buches, das alles Weltwissen zusammendenkt, eine abendländische Obsession.
Ausdehnung und Konzentration, Masse und Wert sind die beiden Formen der Anschauung, sagt Eco (mit ein bisschen Kant) und bietet neben Texten auch endliche Bilder, die wir mit einem Blick übersehen können. Aber zeigen Bilder wirklich Listen? Eco zeigt Bilder von Mengen an Dingen oder Menschen. Sind namenlose Mengen oder anonyme Massen tatsächlich Listen? Und Landkarten: gezeichnete Listen? Oder tendieren nicht eher umgekehrt Listen zum Bild, weil sie so übersichtlich anfangen? Rangordnende Menschenlisten in Bildform spart Meister Eco aus, dabei gibt es sie doch zuhauf. Es wären die uralten Halls of Fame, die mit dem antiken Pantheon Schule machten – oder auch alle Ahnenporträtgalerien, die noch heute die Bildsuche bei Google beherrschen. Jeder «Facebook»-Fan macht dabei mit: Fast alle Menschen möchten offenbar mit ihrem Gesicht gelistet werden.
Immerhin, Umberto Eco schärft unser Gespür für Qualität jenseits der Eins. Die Inventarliste einer Schatzkammer etwa beschreibt lauter in sich wertvolle Gegenstände. Ein Ranking in einer Wunderkammer ist unnötig. Ebenso unangreifbar und endlich sind magische Listen aller Art: Litaneien etwa oder Beschwörungsformeln oder Zutaten für einen Zaubertrank. Ein Element zu viel oder zu wenig und in der falschen Abfolge, und schon wirkt das Ding nicht mehr. Die Rolle der beschwörenden Aufzählung für ein funktionierendes Gedächtnis lässt sich nicht überschätzen. Nicht Schriftgelehrte, sondern die orale Tradition hat die aufzählende Liste erfunden. Dass sie zur zählenden wurde, ist eine Leistung der Moderne.
Wir Heutigen, die wir kaum ein Gedicht mehr auswendig können, keine Zaubersprüche und keine Litanei – vielleicht ist unser ganzer Listenkult eine monströse Ersatzhandlung? Craig Newman, der Erfinder von Craigslist, würde sagen: nein. Kluge Listen haben in der Geschäftswelt immer noch magische Kräfte. Seine Liste hat es angeblich geschafft, den börsennotierten Zeitungsverlagen an die 30 Milliarden Dollar Wertverlust zu bescheren.
Claudia Schmölders ist Kulturwissenschaftlerin an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zuletzt erschien in Neuausgabe «Die wilde Frau. Mythische Geschichten zum Staunen, Fürchten und Begehren». www.claudiaschmoelders.de
Umberto Eco
Die unendliche Liste
Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner.
Hanser, München 2009. 408 S., 39,90
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