- Der Polizeiruf 110 verschwindet
Es ist der letzte Rest der DDR: Das Ost-Pendant Polizeiruf 110 wird im West-Tatort aufgehen. Dabei besteht dessen vermeintlich höhere Qualität nur im besseren Label
Der Erfolg des Tatorts verdankt sich neben der Sendezeit dem einschlägigen Vorspann. Der Versuchung, diesen zu aktualisieren, hat die ARD in 40 Jahren widerstanden, was für große, bis zu einem gewissen Zeitpunkt vermutlich unfreiwillige Weitsicht spricht. Dass Til Schweiger als Neukommissar im Frühjahr vorschlug, den Vorspann abzuschaffen, weil er „outdated“ sei, zeigt, wie wenig Schweiger verstanden hat. Allein durch den altmodischen Vorspann nämlich nobilitiert der Tatort auch durchwachsene Filme zur Institution und kann heute eine Geschichte behaupten, die der Reihe als Tradition gutgeschrieben wird.
Das Gegenbeispiel wäre der Polizeiruf 110, bei dem schon in den DDR-Jahren der Vorspann mehrfach überarbeitet worden war und der nach der letzten Aktualisierung mit einem pseudomodischlieblosen Auftakt aufwartet. Das kann man als Mahnung begreifen – und als eine Erklärung dafür nehmen, warum der Polizeiruf 110 gemeinhin als „schlechter“ gilt, obwohl er spätestens seit dem Anfang der nuller Jahre nichts anderes macht als der Tatort. Die vermeintlich höhere Qualität des Tatorts besteht tatsächlich nur im besseren Label, im immer gleichen Vorspann: Klassisch ist er nicht, weil er besonders gut oder zeitlos ist. Klassisch konnte er werden, weil er nie verändert worden ist.
Das sagt mehr über die Geschichte als jede Sonntagsrede. Wenn die Vereinigung von 1990 etwas anderes gewesen wäre als die Integration der DDR in die Bundesrepublik zu westdeutschen Bedingungen, hätte sich das auch auf den Tatort-Vorspann auswirken müssen. Was „outdated“ über den Geschmack von Til Schweiger hinaus meint, nämlich geschichtspolitisch, lehrt der Blick auf den Polizeiruf- 110-Vorspann am Beginn der neunziger Jahre. Musik und Machart sind die gleiche, der Wahl der Ausschnitte aus den Polizeiruf- 110-Folgen aber, die der Vorspann kompilierte, fielen der Hubschrauber und die Uniformen der Genossen Volkspolizisten zwangsläufig zum Opfer.
Bei der Ausdehnung der ARD auf das Sendegebiet des Deutschen Fernsehfunks Anfang 1992 soll darüber nachgedacht worden sein, den Polizeiruf 110 im Tatort aufgehen zu lassen. Dass es dazu nicht kam, hatte verschiedene Gründe. Der Polizeiruf 110, fast genauso alt wie der Tatort, war dem westdeutschen Zuschauer nicht unbekannt. Die dritten Programme hatten in den achtziger Jahren gelegentlich Folgen gezeigt. Vor allem aber ließ sich mit dem Überleben der Reihe Respekt gegenüber den ostdeutschen Zuschauern bekunden; es war nicht alles schlecht im DDR-Fernsehprogramm.
Seite 2: Der MDR gibt sich mit seinen Filmen so wenig Mühe wie sonst nur der SWR
Die konzeptuellen Unterschiede zwischen Polizeiruf 110 und Tatort wurden in der Folge eingeebnet. Zu DDR-Zeiten brauchte es für einen Polizeiruf 110 kein Kapitalverbrechen, und er war wie das Land, in dem er spielte: zentralistisch. Was sich in der Absurdität äußerte, dass es den Ermittlern, egal, wo sie in der DDR gerade tätig waren, an Büros und Ortskenntnissen nie mangelte. Von diesen Qualitäten blieb eine offenere Erzählweise und als Alternative zum großstädtischen Tatort die Flucht in den ländlichen Raum.
Das Ende einer „anderen“ Krimireihe, an der sich bis 2004 auch westdeutsche ARD-Anstalten beteiligten, hat mit der Durchformatierung des Fernsehprogramms zu tun. Den Tatort, wie wir ihn heute kennen, gibt es seit 1994, als die ARD unter dem Druck des Privatfernsehens die Zahl der Produktionen deutlich erhöhte, um den Sonntagabend in ihrem Sinne zu labeln. Übrig geblieben als einzige Alternative ist der Polizeiruf 110, der mittlerweile ebenso föderalistisch organisiert ist und jene standardisierte Idee von Aufklärung propagiert, die bei einer Leiche in den ersten Minuten ansetzt. Die Hallenser Ermittlungen von Schmücke, Schneider und mittlerweile Lindner sind deshalb nicht schlechter, weil es sich um einen Polizeiruf 110 handelt, sondern weil sich der MDR mit seinen Filmen so wenig Mühe gibt wie sonst nur der SWR.
Mit Blick auf die Aufmerksamkeitskonzentration im Fernsehen liegt es nahe zu vermuten, dass der Polizeiruf 110 eines nicht zu fernen Tages im Tatort aufgehen wird. Mit Jaecki Schwarz (Schmücke) wird nächstes Jahr der Kommissar-Darsteller pensioniert, der kraft seiner Biografie noch glaubhaft die Identität eines durch die DDR geprägten Lebens vermitteln konnte, auch wenn die Filme davon zuletzt nicht mehr handelten. Horst Krause als gleichnamiger Polizist in Brandenburg ist lange als RBB-Darling regionalisiert. An einem Polizeiruf neben dem Tatort könnte nach Schmückes Abgang dann nur noch der BR Interesse haben, dem die Alternative Polizeiruf 110 aktuell ermöglicht, seinen Reichtum zentralistisch zu pflegen: Zwei Tatort-Kommissariate in München nämlich wären eines zu viel.
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