Dieses Bild ist leider nicht mehr verfügbar
picture alliance

Hannelore Kraft - Merkels stärkste Gegenspielerin

Hannelore Kraft überzeugt mit ihrer direkten, authentischen Art und ist für Angela Merkel das stärkste Gegenüber aus der SPD – auch ohne Kanzlerkandidatur

Autoreninfo

Fritz Ferdinand Pleitgen ist ein deutscher Journalist und war von 1995 bis 2007 Intendant des Westdeutschen Rundfunks.

So erreichen Sie Fritz Pleitgen:

Vorbilder? Hannelore Kraft schüttelt den Kopf. Mit großen Leitfiguren könne und wolle sie nicht dienen. Beobachte sie bei Politikern beispielhaftes Verhalten, dann übernehme sie das gerne. An erster Stelle nennt sie Johannes Rau. Seinen respekt- und verständnisvollen Umgang mit den Bürgern habe sie sehr geschätzt. Das Gleiche gelte für Kurt Beck. Von Peer Steinbrück habe sie gelernt, wie unterschiedliche Meinungen zu gewinnbringenden Diskussionen genutzt werden können.

Steinbrück? Das demonstrative Lob überrascht. War er es nicht gewesen, der 2005 Hannelore Kraft als Landesvorsitzende verhindert hat? Irrtum, kontert die Ministerpräsidentin. Ganz in ihrem Sinne habe die SPD Nordrhein-Westfalen damals eine Arbeitsteilung vorgenommen: Landesvorsitz Jochen Dieckmann, Fraktionsvorsitz Hannelore Kraft. Die Botschaft ist klar: Versuche, einen Keil zwischen sie und den SPD-Kanzlerkandidaten zu treiben, sind zwecklos.

Wir sitzen im Amtszimmer der Ministerpräsidentin. Düsseldorfer Stadttor, 10. Stock. Unter uns der Rhein und die eigenwillige Architektur des Hafenviertels. Bei unserem letzten längeren Zusammentreffen hatten wir noch höher gesessen. Das war im Sommer der Kulturhauptstadt Ruhr 2010. Wir flogen im Hubschrauber über die A 40. Die Autobahn war für das Projekt „Still-Leben“ von Dortmund bis Duisburg gesperrt, der Luftraum ebenfalls. Plötzlich schoss ein Leichtmetallflugzeug unter uns her. Sehr knapp. Sie hatte es nicht mitbekommen. Voller Freude betrachtete sie den Andrang der Millionen unter sich auf der Autobahn.

[[nid:54455]]

Auf den Beinahe-Zusammenstoß komme ich nicht zurück. Auch nicht auf Steinbrück. Das brächte nichts. Ihre Haltung ist klar. Sie wird den SPD-Kanzlerkandidaten mit vollem Einsatz unterstützen, aus Loyalität und auch aus Selbstschutz. Sie weiß: Falls Steinbrück aussteigen sollte, würden sich die Augen auf sie richten. Ihre Umfragewerte versetzen ihre Parteifreunde ins Träumen. Auch lang gediente Experten von Infratest Dimap geraten ins Staunen.

Empathie, Emotionalität, Durchsetzungsvermögen, Führungsstärke, Kompetenz – für Wahlforscher bringt Hannelore Kraft die wichtigsten Kriterien mit, um auch für eine breite Bevölkerung über die Parteigrenzen hinweg wählbar zu sein. Und sie kann in den Augen der Wähler Koalition, meint man bei Infratest Dimap. Die Partnerschaft mit der ebenfalls selbstbewussten Sylvia Löhrmann von den Grünen scheint krisenfest zu sein. Unter der Führung der beiden Frauen wirkt die rot-grüne Zusammenarbeit in Düsseldorf harmonischer und effizienter als unter den Ministerpräsidenten Johannes Rau, Wolfgang Clement und Peer Steinbrück.

Für viele SPD-Mitglieder sind das Gründe genug, jetzt schon mit Hannelore Kraft in die Wahlschlacht gegen Angela Merkel zu ziehen, zumal die Hauptthemen der Partei – Bildung und soziale Gerechtigkeit – besser auf sie als auf Peer Steinbrück passen. Aber sie sagt kategorisch Nein. Sie habe sich nicht zur Ministerpräsidentin wählen lassen, um gleich danach das nächste Amt anzustreben. Was sie angekündigt habe, wolle sie auch erledigen.

„Hannelore Kraft wird nicht wie Gerhard Schröder an den Gittern des Bundeskanzleramts rütteln“, meint Sabine Scholt, stellvertretende WDR-Chefredakteurin und langjährige Beobachterin der Landespolitik. Sie glaubt nicht, dass die Mülheimerin nach Berlin gehen will; auch nicht 2017, wenn die übernächste Bundestagswahl ansteht. Sie brauche die Insignien einer Kanzlerkandidatur nicht.

Bundespolitischen Einfluss habe sie jetzt schon reichlich – als Chefin des größten Bundeslands und neuerdings auch noch als Koordinatorin der SPD-Länder im Bundesrat. In dieser Doppeleigenschaft sei Kraft, sagt Sabine Scholt, gegenwärtig die stärkste Gegenspielerin der Kanzlerin.

Nächste Seite: Mutti gegen Mutti

Oliver Welke wollte es näher wissen. In seiner „Heute-Show“ im ZDF hat er Hannelore Kraft gefragt, ob 2017 ein Wahlkampf Mutti gegen Mutti zu erwarten sei. Peng! Die Replik kommt wie aus der Pistole geschossen. „Nein, dann ist die andere längst weg.“

In einem kurzen Satz hat sie einfach so die mächtigste Frau der Welt versenkt.

[video:Hannelore Kraft in der „heute show“]

Als wir uns in ihrem Amtszimmer gegenübersitzen, kommt mir die Antwort bei Welke in den Sinn. Wie ist nun das Verhältnis zu der anderen? Die Ministerpräsidentin sieht sich außerstande, der Bundeskanzlerin herausragende Noten zu geben. Sie sei zögerlich, gehe zu wenig voran und lasse einen klaren Kurs vermissen; vor allem in der Innenpolitik, aber auch in Europa. Dass Hannelore Kraft so entschieden gegen Angela Merkel antritt, sieht nach Arbeitsteilung in der SPD-Führung aus. Nachdem Gabriel, Steinbrück und Steinmeier sich vergeblich an der Bundeskanzlerin abgearbeitet haben, knöpft sich nun Kraft die Spitzenfrau der Union vor.

Ihr Gesicht drückt wenig Freude aus, wenn sie mit Merkel verglichen wird. Die Kanzlerin verkörpere eine andere Art von Politik, sagt sie brüsk. Mit Merkels Politikstil könne sie nichts anfangen.
Dabei gibt es in den Karrieren unbestreitbare Parallelen. Beide mussten sich in Männerwelten durchsetzen. Beide stürmten im Rekordtempo nach oben.

Hannelore Kraft ging erst 1994 in die Politik. Sie trat in ihrer Heimatstadt Mülheim in die SPD ein. Kaum Mitglied, sah sie sich mit einem parteiinternen Papier konfrontiert, in dem gefragt wurde, was sich in der SPD ändern müsste, um nach verlorener Kommunalwahl wieder in die Erfolgsspur zu kommen. Von zehn Themenfeldern kreuzte sie acht an. Daraufhin saß sie, wie sie erzählt, in acht Arbeitsgruppen. Es sei hart gewesen, aber ein besseres Training hätte ihr nicht passieren können. So habe sie die Partei im Schnelldurchgang von Grund auf kennenlernen können. Sie wusste so gut Bescheid, dass sie bereits ein Jahr später in den Vorstand des Unterbezirks gewählt wurde.

Mit gleicher Geschwindigkeit stieg sie im Landtag auf. Als Parlamentsneuling wurde sie Ministerin, erst für Bundes- und Europaangelegenheiten, dann für Wissenschaft und Forschung. Das kennzeichne Kraft, meint Theo Schumacher, langjähriger Korrespondent der NRZ in Düsseldorf. „Sie ist da, wo sie gebraucht wird. Immer zur richtigen Zeit für den richtigen Platz.“

In die Politik ist sie gegangen, weil sie sich nicht mit inakzeptablen Verhältnissen abfinden wollte. Das hat sie mit Karl Marx gemeinsam. Der wollte die Welt verändern, ihr ging es erst einmal um Kitaplätze, auch um einen für ihren Sohn. Als Partei sei für sie nur die SPD infrage gekommen. Das habe mit ihrer Herkunft als Tochter eines Straßenbahnfahrers und einer Schaffnerin, aber auch mit eigenen Beobachtungen zu tun. Die SPD kümmere sich um die Nöte der Menschen, sie biete ihnen die Möglichkeit, sich über Bildung weiterzuentwickeln. Dieser Aufgabe fühle sie sich verpflichtet. „Kein Kind zurücklassen!“, habe sie deshalb zu ihrem Credo gemacht.

Stolz sei sie auf ihre Partei und auf das, was sie in den 150 Jahren ihrer Existenz für die Entwicklung der Demokratie und die Lebensbedingungen der Menschen in Deutschland geleistet habe. Auf Otto Wels weist Hannelore Kraft mit Hochachtung hin. Sein Verhalten, seine Charakterfestigkeit seien Vorbild auf ewig. Der Sozialdemokrat hatte 1933 in der letzten freien Reichstagssitzung den tobenden Nazis den Satz entgegengeschleudert: „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht!“

Hannelore Kraft hat keine Probleme mit der weiten Welt, spricht Englisch und Französisch, pflegt aber ihre Bodenständigkeit. Sommerurlaub macht sie mit ihrer Familie im Sauerland, der alte Freundeskreis ist ihr wichtig. Ihre direkte Art kommt an, auch außerhalb Nordrhein-Westfalens. Von Niedersachsen bis Bayern laden Parteifreunde sie als Rednerin ein. Sie verbreitet keine rhetorische Brillanz, aber Glaubwürdigkeit. Die Leute hören ihr zu. Sie wirkt, wie immer wieder zu hören ist, authentisch. Woher hat sie diese Gabe? „Ruhrgebiet!“, sagt sie nur. „Da sind die Menschen so.“ Und wie sind sie? Herbert Grönemeyer besingt sie so: schnörkellos und wetterfest, von klarer offener Natur, urverlässlich, sonnig, stur.

Nächste Seite: Das Etikett „Schuldenkönigin“ haftet Kraft an

Was macht man, um sich nicht von guten Meinungen über Kraft einlullen zu lassen? Man wendet sich an Kollegen, die sie aus der Nähe kennen und auf kritische Distanz achten. Aber auch bei ihnen kommt sie überwiegend gut weg. Sie habe an Souveränität gewonnen, wird ihr attestiert. Nachdem die Amtszeit der Minderheitsregierung noch von grünen Initiativen geprägt worden sei, setze jetzt Hannelore Kraft als Chefin die Themen. Seit dem Erfolg bei der Landtagswahl 2012 ist ihre Position stark.

Für Reiner Burger von der FAZ sind die 39,1 Prozent, die Hannelore Kraft mit der SPD erzielte, unter den heutigen Bedingungen durchaus mit den großen Wahlerfolgen unter Johannes Rau zu vergleichen. Es sei ihr gelungen, die nach 40 Regierungsjahren und der Wahlniederlage 2005 ausgelaugte SPD inhaltlich und personell wieder in Schwung zu bringen.

Was macht sie über die SPD hinaus populär? Kraft habe ein Gespür für Beschwernisse entwickelt, die die Bürgerinnen und Bürger unmittelbar belasten, stellt Tobias Blasius fest. Der WAZ-Korrespondent spricht von „Straßenthemen“, wie Ärger über fehlende Kitaplätze, Streit um Kosten von Klassenfahrten und privaten Abwässerkanälen. Hier auf schnelle Lösungen zu drängen, entspreche ihrer Maxime, nahe bei den Menschen zu sein. Das bedeute nicht, dass sie den Problemen aus dem Wege gehe.

[gallery:Die 21 Gesetze im System Merkel]

Aus der Opposition ist verständlicherweise kaum Lob zu hören. Kraft kündige viel an, setze aber wenig oder nichts um. Statt gegen die Verschuldung anzugehen, kneife sie vor schmerzhaften, aber notwendigen Maßnahmen. Das Etikett „Schuldenkönigin“ hat man der Ministerpräsidentin angehängt. Das Wahlvolk hat sich davon nicht beeindrucken lassen. Seit dem Erfolg von 2012 regiert Rot-Grün mit ordentlicher Mehrheit, aber nicht ganz unbedrängt. Das höchste Gericht von NRW hat gerade zum dritten Mal einen Haushalt der Regierung Kraft für verfassungswidrig erklärt.

Die Zeiten der harten Prüfungen stehen der Regierung noch bevor, meinen die Journalisten Scholt, Blasius, Burger und Schumacher. Wie will sie das Schuldenmonster unter Kontrolle bringen und die Schuldenbremse einhalten? Durch Sparen, Mehreinnahmen, Investitionen in Bildung und generell eine vorbeugende Politik, sagt die Ministerpräsidentin. Sie hat ermitteln lassen, dass in NRW jährlich 23,6 Milliarden Euro für soziale Folgekosten ausgegeben werden, weil Kinder und Familien nicht gezielt und frühzeitig genug unterstützt werden. So blieben rund 20 Prozent der jungen Menschen ohne Schulabschluss und Ausbildung. Ihre Präventivstrategie solle Jugendlichen aus schwierigen Milieus den Aufstieg in bessere Verhältnisse ermöglichen. Dies entlaste auch die öffentlichen Haushalte von hohen „Reparaturkosten“ und sei sinvoller als der stereotyp geforderte Stellenabbau.

Investieren, um zu sparen, Krafts vorbeugende Politik klingt wie die Nato-Strategie „Aufrüsten, um abzurüsten“. Dieser Doktrin wird nachgesagt, das Ende des Sowjetimperiums und des Ost-West-Konflikts herbeigeführt zu haben. Aber hilft eine solche Politik gegen Verschuldung?

Gesichert ist dieser Wechsel auf die Zukunft nicht. Kraft hat viel Arbeit vor sich. Da ist ein früher Wechsel nach Berlin nicht drin. 2017 wird neu entschieden. Wichtige Wahlen stehen an: im Land, im Bund und für das Amt des Bundespräsidenten / der Bundespräsidentin. Nirgends hat sie die Tür zugeschlagen. Hannelore Kraft wäre in ihrer heutigen Verfassung eine Spitzenkandidatin mit guten Siegchancen in allen drei Disziplinen. 

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.