- Gerne zahlen, aber nicht mitreden
Die Mitglieder werden in den Parteien immer nur dann gefragt, wenn die Parteispitze nicht mehr weiter weiß. Ein Kartell der Funktionäre schirmt ihre Interessen vor den Mitgliedern ab. Und die Basis wird kaltgestellt
Katrin Göring-Eckardt hatte keine Ahnung. Mit vielem hatte die Grünen-Politikerin gerechnet, nur nicht mit einem Triumph bei der grünen Urwahl. Noch an jenem Samstagmorgen, an dem Anfang November das Ergebnis verkündet wurde, hoffte sie allenfalls auf einen Achtungserfolg. Auch nach wochenlangen öffentlichen Debatten und zahllosen Urwahlforen war sie von dem Votum der Basis völlig überrascht worden. Neben der Fraktionsvorsitzenden Renate Künast und der Parteivorsitzenden Claudia Roth galt die Vize-Präsidentin des Bundestages nur als krasse Außenseiterin, jetzt zieht Göring-Eckardt als Spitzenkandidatin der Grünen zusammen mit Jürgen Trittin in den Bundestagswahlkampf. Die beiden Favoritinnen haben das Nachsehen.
Über vieles wird jetzt diskutiert, über das bürgerliche Coming Out der Grünen zum Beispiel und über schwarz-gelbe Bündnisse. Dabei hat die Urwahl darüber hinaus vor allem ein ganz anderes Schlaglicht auf die Parteien geworfen. Denn mit dem völlig überraschenden Votum der grünen Basis wurde auch die Macht der Funktionäre in den Parteien und der Einfluss der professionellen Strippenzieher auf die innerparteiliche Willensbildung offen gelegt sowie die Ohnmacht der einfachen Parteimitglieder. Schließlich werden diese immer nur dann gefragt, wenn sich die innerparteilichen Funktionärsklüngel verhakt haben, die Parteiflügel sich im Patt gegenüberstehen und das Spitzenpersonal sich machtpolitisch gegenseitig blockiert. Das war zum Beispiel 1993 so, als die SPD per Urwahl einen neuen Parteivorsitzenden kürte. Die FDP nutzte das Basis-Votum im vergangenen Jahr um die Parteiführung zu stabilisieren und die liberalen Eurokritiker in die Schranken zu weisen. Beides waren Ausnahmen.
Ob sich die Urwahl bei den Grünen durchsetzt, auch das wird sich erst noch erweisen müssen, selbst wenn die Partei das Basisvotum jetzt als Wiedergeburt der Basisdemokratie feiert. Ob sich andere Parteien an den Grünen ein Beispiel nehmen, ebenfalls. Alle wissen, mehr Basisdemokratie würde die Parteien, das innerparteiliche Machtgefüge und den Parteienwettbewerb insgesamt verändern. Da gibt es Gewinner und Verlierer.
Noch im Sommer hatten viele grüne Parteistrategen deshalb davon abgeraten, die beiden Spitzenkandidaten per Urwahl zu bestimmen. Selbst Katrin Göring-Eckardt war skeptisch, plädierte für ein Spitzenteam statt für ein Spitzenduo. Doch Claudia Roth hatte bereits Fakten geschaffen. Die Parteivorsitzende hatte gehofft, sich mit der vermeintlich linken Basis der Partei die Spitzenkandidatur sichern zu können und die Machtarithmetik in der Parteispitze zu ihren Gunsten zu verändern. Sie hat sich völlig verspekuliert, die innerparteilichen Kräfteverhältnisse haben sich ganz anders verschoben als erwartet. Der Realo-Flügel wurde gestärkt und Claudia Roth darf als Parteivorsitzende nur noch zwei Jahre ihr Gnadenbrot essen.
Links sind bei den Grünen anscheinend vor allem die Delegierten auf Parteitagen. Schritt für Schritt hatten sie sich in den letzten Jahren programmatisch neu profiliert, sich von der Politik der rot-grünen Regierungsjahre distanziert und auf mehr Umverteilung gesetzt. Doch nun zeigt sich: Die einfachen Mitglieder ticken offenbar völlig anders, sind bürgerlicher als erwartet, betonen vor allem ökologische Werte. Sie sind vor allem schwer einzuschätzen. Die grüne Urwahl hat auch offenbart, wie wenig die Spitzenpolitiker selbst nach einem Terminmarathon über die Stimmung an der Basis ihrer Partei und die Befindlichkeit der Mitglieder wissen. Eigentlich hätten die vier Urwahlkandidaten die große Sympathie der Basis für die Außenseiterin mit dem bürgerlichen Image spüren müssen, haben sie aber nicht. Nicht einmal Katrin Göring-Eckardt selbst.
Die große Kluft zwischen Parteibasis und Parteiführung ist mit Händen zu greifen, nicht nur bei den Grünen. In allen Parteien schirmt ein Kartell der Funktionäre ihre Interessen vor der Basis ab. Am liebsten ist diesem Kartell, wenn die einfachen Mitglieder ihren Beitrag zahlen, im Wahlkampf gute Stimmung machen und sich ansonsten ruhig verhalten. Vor allem sollen die Mitglieder die Kommunikation der Öffentlichkeitsarbeiter in den Parteizentralen mit den Wählern nicht stören. Die Mitgliederparteien haben sich in den letzten zwei Jahrzehnten schließlich zu professionellen Medienparteien gewandelt. Die Basis wurde weitgehend kaltgestellt. Früher brauchten die Parteien ihre Mitglieder, um mit den Wählern zu kommunizieren, mittlerweile haben sie dafür die Massenmedien und ihre PR-Strategen.
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Doch der Druck, das Rad wieder zurückzudrehen, wächst. Denn zu viel Entfremdung der Basis tut den Parteien auch nicht gut. Einfach wird das nicht. Möglicherweise wären die Parteien personell, programmatisch und machtstrategisch völlig anders aufgestellt, wenn die Basis häufiger zu Wort käme, zum Beispiel wenn in der CDU über die Energiewende oder die Eurorettung angestimmt würde oder die CSU-Mitglieder über die Horst-Seehofer-Nachfolge entscheiden dürften. An der FDP-Basis hätte der Parteivorsitzende Philipp Rösler mittlerweile sicher einen ziemlich schlechten Stand. Alle schwarz-grünen Planspiele würden sofort verstummen, denn es ist derzeit kaum anzunehmen, dass es dafür an der Basis beider Parteien eine Mehrheit gäbe.
Mitgliederentscheide verändern die Parteien. Geben diese ihrer Basis mehr Macht, verlieren die Funktionärskartelle zugleich an Einfluss. Die SPD hat deshalb zwar in den letzten drei Jahren viel über Mitgliederentscheide geredet, letztendlich hat sie sich jedoch nicht getraut, ihren Kanzlerkandidaten von den Mitgliedern oder gar wie in den USA in Vorwahlen, an denen auch Nicht-Mitglieder teilnehmen dürfen, bestimmen zu lassen. Stattdessen wurde der Kanzlerkandidat in einem völlig intransparenten und chaotischen Verfahren gekürt, aber immerhin wurden so der innerparteiliche Frieden und das komplizierte innerparteiliche Machtgefüge zwischen den Parteiflügeln gewahrt. Der Kontrast zu den Grünen könnte größer nicht sein.
Ob die Basis immer die klügeren Entscheidungen fällt als das Kartell der Funktionäre, steht allerdings auf einem anderen Blatt. Denn im Wahlkampf geht es nicht nur darum die Mitglieder zufriedenzustellen, sondern vor allem auch darum neue Wähler zu mobilisieren. Nicht immer lassen sich die Interessen der Mitglieder und die Interessen der wahlentscheidenden Wechselwähler miteinander in Einklang bringen.
Auch bei den Grünen wird erst im September kommenden Jahres abgerechnet. Und eine Strategie, die sich für die Grünen als richtig zukunftsweisend erwiesen hat, muss nicht zwangsläufig bei der politischen Konkurrenz genauso funktionieren. Auch die Frage, ob die 483.000 SPD-Mitglieder ebenfalls bürgerlicher ticken als die Funktionäre, ob die sozialdemokratische Basis für Peer Steinbrück als Kanzlerkandidaten votiert hätte, bleibt hypothetisch.
Eine Peinlichkeit wäre der SPD damit aber sicher erspart geblieben: Die Steinbrück’sche Achillesferse, seine Nebenverdienste in Millionenhöhe, hätte die Basis sicherlich gestört. Dass dies für den Kanzlerkandidaten zu einem Imageproblem führen könne, davon hatte die SPD-Troika offenbar keine Ahnung.
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