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Eitel bis in den Tod

Eric M.Warburg war einer der Ersten, die im Mai 1945 Hermann Göring befragt haben. Unmittelbar nach den Vernehmungen schrieb er seine Eindrücke vom deutschen Luftwaffenchef auf. In Cicero werden erstmals Auszüge daraus veröffentlicht.

Hermann Görings Vernehmung war die interessanteste, die ich für die Air Force durchführte. Keiner war berufener, die Fragen zu beantworten, die uns auf der Seele brannten, als Göring, der seit 1935 die Luftwaffe befehligte. Kein Wunder, dass wir mehr als fünfhundert Fragen vorbereitet hatten. Sie umfassten nicht nur die langen Jahre des Krieges, die Schlacht um Großbritannien, den Angriff auf Russland, den Kampf im Mittelmeer, die deutsche Gegenoffensive vor dem D-Day, die Flugabwehr des Reichs gegen unsere immer stärker werdenden Bombenangriffe. Es ging natürlich auch um Görings Streit mit Hitler, um die unglaublichen Spannungen unter den Top-Nazis und dem Generalstab, um die Nazi-Welt der Intrigen, der Kämpfe und des Doppelspiels, in der Göring eine herausragende Rolle spielte. Als Göring das erste Mal den Vernehmungsraum betrat, hatte er ein blaues Hemd und einen grauen Pullover an und stützte sich schwer auf einen Gehstock. Er setzte sich auf das Sofa, das er mit seinen etwa 113 Kilo vollkommen ausfüllte. Während der späteren Vernehmungen trug er seine graue Marschallsuniform mit gewaltigen Epauletten, die aus reinem Gold waren, wie uns deutsche Offiziere erzählten. Anfangs spielte er die Rolle des gebrochenen Mannes. Er war fraglos intelligent oder vielmehr bauernschlau, und er schien nicht unter dem Einfluss von Drogen zu stehen. Allerdings wurde seine Intelligenz von einer zweifellos pathologischen Eitelkeit überschattet. Sie war so unverblümt, dass sie in fast jeder seiner Antworten durchschien. Um der sich in die Länge ziehenden Vernehmung etwas nachzuhelfen, gab ich mich als schwedisch-amerikanischer Offizier aus, der Görings erste Frau gekannt hatte. Seine Eitelkeit offenbarend, sagte Göring: „Natürlich möchte ich mich nicht beschweren, denn ich bekomme genug zu essen, aber ich muss diese kleine Wohnung mit drei anderen Kriegsgefangenen teilen, die lediglich Generäle sind. Wenn ich bedenke“, rief er aus, während er sich mit seiner riesigen und groben Hand dramatisch an die Stirn fasste, „wie gut wir diesen alten, ehrwürdigen Marschall von Frankreich, Petain, behandelt haben, und immerhin war dieser Mann nur ein Marschall. Ich aber bin der Reichsmarschall.“ Titel bedeuteten ihm so viel, dass ich bald herausfand, dass er recht gut gelaunt und viel williger die Fragen beantwortete, wenn ich ihn mit „Herr Reichsmarschall“ ansprach. Während der Verhöre war er mehr als bemüht, mit detaillierten Antworten gefällig zu sein – offensichtlich hegte er die Hoffnung, dass er als Gefangener und nicht als Kriegsverbrecher behandelt würde. Er versuchte sich mit allen Mitteln, ob subtilen oder offensichtlichen, reinzuwaschen. Für fast alle Fehler des Deutschen Oberkommandos und der Luftwaffe machte er Hitler verantwortlich; sich selbst versuchte er natürlich in ein positives Licht zu rücken: „Außer, dass ich Deutscher bin, bevorzuge ich den Westen. Ich bin ein Europäer wie Sie. Wenn Sie meine Reden kennen, werden Sie zugeben, dass ich in keiner – sei sie in Friedenszeiten oder während des Kriegs gehalten – ausländische Staatsmänner persönlich angegriffen habe. Ich hatte nie ein Amt in der Nazi-Partei inne. Ich war der exponierteste Vertreter der Staatsgewalt.“ Görings Rastlosigkeit und Unbeständigkeit machten es äußerst schwierig, ihn bei der Stange zu halten. Da ihn vor allem die innenpolitischen Intrigen und seine abkühlende Beziehung zu Hitler interessierten, bedurfte es der Geduld und Konzentration, um ihn immer wieder auf das Thema Luftwaffe zurückzubringen. Er war ziemlich gut über den militärischen Teil der Luftwaffe informiert, obgleich ihn seine Faulheit davon abhielt, sich auch um technische Details zu bekümmern. Göring, der sich mit Jasagern umgeben hatte, gab vor, sich nicht der verheerenden Rolle bewusst zu sein, die er durch seine eigenen Entscheidungen gespielt hatte. In den letzten zwei Jahren des Krieges hatte sich Hitler immer mehr bis in die kleinsten technischen Entscheidungen der deutschen Luftwaffe eingemischt und gleichzeitig immer stärker von Göring abgewendet. Göring sprach von sich als „sinkendem Stern“ und beschwerte sich bitterlich: „Sie hatten einen großen Verbündeten in Ihrem Luftkrieg: den Führer.“ Ihn sah Göring zum letzten Mal an Hitlers Geburtstag, dem 20.April 1945, im Bunker der Reichskanzlei in Berlin. Hitler – dessen ganzes Misstrauen sich auch gegen seine Vertrauten in der SS und in der Gestapo-Hierarchie richtete – war erfüllt vom Hass auf Göring; er verabscheute schon dessen physische Anwesenheit. Deshalb legte er Göring nahe, den Luftschutzbunker zu verlassen und nach Berchtesgaden zu fahren – was Göring auch tat, da er Hitlers Aufforderung zu Recht als Befehl verstand. Am 23.April besuchte ihn der Stabschef der Deutschen Luftwaffe, General Alfred Keller, und berichtete, dass Hitler in seinem Bunker vollkommen übergeschnappt sei und den Verstand verloren habe. Das war Anlass für Göring, die Staatsmacht übernehmen zu wollen. (Nach Rudolf Heß’ Flug nach England im Jahre 1941 hatte Hitler Göring öffentlich zu seinem Nachfolger bestimmt, falls ihm etwas zustoßen sollte.) Laut Görings Angaben habe er sich nach langem Zögern von seinen Offizieren überzeugen lassen, Hitler am 23.April 1945 folgenden Funkspruch zu schicken: „Mein Führer! Sind Sie einverstanden, dass ich nach Ihrem Entschluss, im Gefechtsstand der Festung Berlin zu verbleiben, gemäß Ihres Erlasses vom 29.6.1941 als Ihr Stellvertreter sofort die Gesamtführung des Reiches übernehme mit voller Handlungsfreiheit nach innen und nach außen? Falls bis 22 Uhr keine Antwort erfolgt, nehme ich an, dass Sie Ihrer Handlungsfreiheit beraubt sind. Ich werde dann die Voraussetzungen Ihres Erlasses als gegeben ansehen und zum Wohl von Volk und Vaterland handeln. Was ich in diesen schweren Stunden meines Lebens für Sie empfinde, wissen Sie, und kann ich durch Worte nicht ausdrücken. Gott schütze Sie und lasse Sie trotz allem baldmöglichst hierherkommen. Ihr getreuer Hermann Göring.“ Er hoffte, so erzählte er uns, dass die Frist, die er in seinem Telegramm gesetzt hatte, seinem Erzfeind Martin Bormann – der den Vorteil hatte, direkt an der Seite des Führers zu sein – keine Gelegenheit geben würde, auf Görings Nachricht zu antworten. Es war ihm klar, dass er nach Ablauf der Frist schnell handeln müsste, um tatsächlich die Macht zu erlangen und Waffenstillstandsverhandlungen, die er als unvermeidlich erkannte, zu führen. Vorbereitend schickte er am 23.4.1945 folgende Nachricht an Joachim von Ribbentrop: „Ich habe den Führer gebeten, mich mit Weisungen bis 23.4.1945 22 Uhr zu versehen. Falls bis zu dieser Zeit ersichtlich ist, dass der Führer seiner Handlungsfreiheit für die Führung des Reiches beraubt ist, tritt sein Erlass vom 29.6.1941 in Kraft, nach welchem ich als Stellvertreter in alle seine Ämter eintrete. Sollten Sie bis 24 Uhr keinen anderen Bescheid vom Führer direkt oder von mir erhalten, bitte ich Sie, unverzüglich auf dem Luftwege zu mir zu kommen. Göring, Reichsmarschall“. Zu Görings Unglück kam Hitlers Antwort allzu prompt. In einer Nachricht, die Göring als echt betrachtete, antwortete der Führer am 23.4.1945: „Der Erlass vom 29.6.1941 tritt erst nach meiner besonderen Genehmigung in Kraft. Von einer Beraubung meiner Handlungsfreiheit kann keine Rede sein. Ich verbiete daher jeden Schritt in der von Ihnen angedeuteten Richtung. Adolf Hitler.“ Danach veranlasste Hitler Görings Verhaftung in Berchtesgaden durch die SS. Wenige Tage später wurden Hitlers „Berghof“ und das unmittelbar in der Nähe befindliche Haus Görings durch die Royal Air Force zerbombt. Göring musste zu seinem größten Leidwesen mit seiner Familie zwei Nächte in nahe gelegenen Höhlen verbringen, „das primitivste Quartier, das ich je hatte“, wie er bemerkte. Dass seine Frau und seine Tochter dieser Unannehmlichkeit ausgesetzt waren, störte ihn weniger, als dass er selbst kein fließend Wasser hatte und auf den Luxus verzichten musste, den selbst sein mittelgroßes Haus in Berchtesgaden bot. Die SS brachte Göring schließlich in eines seiner stattlichen Schlösser in Tirol, das er „erworben“ hatte. Dort blieb er, bis eine deutsche Luftwaffenmeldeeinheit auf ihrem Rückzug aus Italien ihn dort fand und befreite. Während dieser letzten Stunden seiner wiedergewonnenen Freiheit schickte Göring an Admiral Karl Dönitz einen Funkspruch, der in seiner Eitelkeit und völligen Fehleinschätzung seiner Lage vielleicht am typischsten für Göring ist. In diesem Schreiben vom 6.Mai 1945 heißt es: „Großadmiral, sind Sie orientiert über die staatsgefährdende Intrige, die der Reichsleiter Bormann zur Ausschaltung meiner Person durchgeführt hat? Stopp. Alle Maßnahmen gegen mich sind ausgelöst worden durch eine loyale Anfrage meinerseits beim Führer, ob er wünscht, dass die Stellvertreterorder in Kraft tritt. Meine Anfrage wurde ausgelöst durch den Bericht Kollers, der von Generaloberst Jodl kommend, mir mitteilte, dass der Führer in Gegenwart Jodls und anderer Herren darauf hingewiesen hat, dass Entscheidungen außerhalb Berlins der Reichsmarschall treffen soll und das Verhandlungen der Reichsmarschall weit besser führen könne als er. Stopp. Zeugen Jodl und andere an der Lage beteiligten Herren. Stopp. Die Maßnahmen gegen mich wurden durchweg auf anonyme von Bormann gezeichnete Funksprüche durchgeführt. Stopp. Diese Funksprüche richteten sich ausschließlich unter Umgehung aller hierzu zuständigen Dienststellen an den SS-Sturmbannführer Frank auf dem Obersalzberg, obgleich der Vertreter des Reichsführers und der Chef der Sicherheitspolizei, Dr.Kaltenbrunner, in Salzburg anwesend waren. Stopp. Ich wurde trotz meiner Bitte von niemandem verhört und keine Rechtfertigung wurde angenommen. Stopp. Reichsführer SS Himmler kann Ihnen das grandiose Ausmaß dieser Intrige bestätigen. Stopp. Erfahre soeben, dass Sie Jodl zu Eisenhower zwecks Verhandlungen schicken wollen. Stopp. Ich halte es im Interesse unseres Volkes für wichtig, dass neben den offiziellen Verhandlungen Jodls ich inoffiziell als Marschall zu Marschall Eisenhower spreche. Stopp. Meine Erfolge in allen großen Verhandlungen mit dem Auslande, die der Führer mir vor dem Kriege stets übertragen hatte, geben die Gewähr, dass ich hoffen kann, eine geeignete persönliche Atmosphäre für die Verhandlungen Jodls zu schaffen. Stopp. Hinzu kommt, dass gerade England und Amerika durch Presse, Rundfunk und Äußerungen ihrer Staatsmänner in den letzten Jahren mir gegenüber eine günstigere Einstellung bezeugen als den anderen politischen Führern. Stopp. Ich glaube, dass in dieser schweren Stunde alle Kräfte zusammenwirken müssen und nichts unversucht bleiben darf, um Deutschlands Zukunft so weit wie möglich zu sichern. Göring, Reichsmarschall.“ Die langen Stunden, die wir mit Göring verbrachten, wurden nur durch Mahlzeiten unterbrochen oder einmal durch seinen Wunsch, mit mir allein zu sprechen. Er beteuerte, dass er Schweden zweimal vor einer deutschen Invasion bewahrt und Hitler erfolgreich angefleht hätte, Schwedens Neutralität zu achten. Und fügte hinzu: „Natürlich hätte ich jetzt nach Schweden gehen können, aber ich wollte meine schwedischen Freunde nicht in Verlegenheit bringen!“ Es gab kaum Fragen, auf die Göring keine Antwort oder zu denen er keinen Kommentar gehabt hätte. Die wenigen Male, die er nicht antwortete, sagte er: „Da bin ich überfragt.“ Einmal wandte er sich an den anwesenden Walther von Brauchitsch und erklärte: „Wie könnte ich das wissen? Ich war doch nur der Kopf der Forstverwaltung, aber auch Reichsjägermeister, Präsident des Wissenschaftlichen Forschungsinstituts“, sarkastisch und mit einem vulgären Kichern fragte er: „Was waren die anderen 32 Aufgaben, für die ich verantwortlich war?“ Er war sich der aussichtslosen Lage seines Landes bewusst, nicht aber seiner eigenen Rücksichtslosigkeit gegenüber seinen Untergebenen. Sehr nachdrücklich erklärte er, wie er die Kirchen verteidigt hätte und wie sehr er gegen die antijüdische Politik gewesen sei. „Natürlich war der jüdische Einfluss zu stark, aber „die Methoden, die eingesetzt wurden, waren nie von mir geplant und sind unvertretbar“, sagte er und zog aus der linken Tasche seiner Marschallsuniform die Formulare seiner monatlichen Überweisungen an den jüdischen Schneider seiner Frau in Theresienstadt. „Wissen Sie, Theresienstadt war gar nicht so ein übles Lager. Ich habe zweimal Zwangsarbeiter, darunter auch viele Juden, auf Flugplatzeinrichtungen gesehen, einmal in Ostpreußen, und ich sagte zu meinem Luftwaffenoffizier, dass ich es nicht wünsche, dass diese Elemente für die Luftwaffe arbeiten.“ Am zweiten Nachmittag der Vernehmungen kehrte sein Bursche, den er immer noch hatte, mit Hemden und anderen persönlichen Dingen von Görings Tiroler Schloss zurück. Göring übergab dem amerikanischen Kommandanten des Lagers ein Paket mit den Worten: „Ich dachte, es würde Ihnen Vergnügen bereiten, dieses Bild seinem früheren Eigentümer, Baron Rothschild in Paris, zurückzugeben.“ Als man das Bild begutachtete, stellte man fest, dass es sich um eine Madonna des Malers Hans Memling handelte, die 300000 Dollar wert war. Am selben Tag gab Göring einem USSoldaten zur Erinnerung an den „Herrn Reichsmarschall“, dem er die Haare geschnitten hatte, eine goldene Armbanduhr im Wert von 300 Dollar. Als er am nächsten Tag in das geheime US-Lager Camp Ashcan im luxemburgischen Bad Mondorf gebracht wurde, erkannte Göring, wie schlecht seine Lage wirklich war. Als er in seine Zelle geführt wurde, die von nun an nur noch aus einem Feldbett und zwei Decken bestand, sagte er: „Jetzt erkenne ich, dass ich einen meiner größten Fehler begangen habe, als ich nicht den gleichen Weg wie der Führer einschlug.“ Am 1.Oktober 1946 wurde Hermann Göring vom Internationalen Gerichtshof in Nürnberg in allen Punkten der Anklage für schuldig befunden und zum Tod durch Erhängen verurteilt. Am 15.Oktober, wenige Stunden vor der Urteilsvollstreckung, beging Göring durch die Einnahme von Zyankali Selbstmord. Der Hamburger Bankier Eric M.Warburg (1900 bis 1990) verließ angesichts der Judenverfolgung durch den NS-Staat zusammen mit seinen Eltern 1938 Deutschland und ging in die USA. Er kehrte als amerikanischer Offizier der US Army Air Force 1943 auf den afrikanischen, später auf den europäischen Kriegsschauplatz zurück. Als Oberstleutnant einer Nachrichtenabteilung führte er die ersten Verhöre führender Wehrmachtsoffiziere auf europäischem Boden, unter ihnen die Generäle Halder und von Falkenhausen. Im Mai 1945 sprach er über 20 Stunden lang mit Hermann Göring. Warburg hatte die Fragen auswendig gelernt, um dem Verhör den Charakter eines normalen Gesprächs zu geben. Während der Vernehmungen verwies Göring darauf, dass seine Frau einen jüdischen Schneider in Theresienstadt beschäftigt habe. Am Massenmord an Europas Juden trage er keine Verantwortung: „Ich habe nie, nie, nie ein Todesurteil unterzeichnet oder irgendjemand in ein Konzentrationslager geschickt – außer, natürlich, wenn es militärisch unumgänglich war.“ Vor Görings Abtransport wies Warburg auf die Gefahr hin, dass der Gefangene sich umbringen könnte. So kam es auch. Eric Warburg kehrte Anfang der fünfziger Jahre nach Hamburg zurück und nahm 1971 die deutsche Staatsbürgerschaft wieder an.

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