- Wie der Bundestag die deutsch-polnische Aussöhnung verschlief
Vor 25 Jahren wurde der deutsch-polnische Nachbarschaftsvertrag abgeschlossen – doch der Bundestag hat das nicht entsprechend gewürdigt. Ein gemeinsames Gedenken der Fraktionen zum 17. Juni scheiterte. Die Grünen-Politiker Annalena Baerbock und Manuel Sarrazin werfen der Großen Koalition mangelnde historische Sensibilität vor
Geschichte ist das Fundament der Zukunft. Die Lehren aus der eigenen Geschichte und die Wahrung der vergangenen Errungenschaften bilden daher die Koordinaten für politisches Handeln. Die Europäische Union steht stellvertretend dafür. Doch selbst historisch gewachsene Koordinaten verschieben sich zurzeit immer öfter ganz ohne große politische Strategie.
Es passiert schleichend aufgrund politischer Unachtsamkeit oder gefühlter Getriebenheit. In welch gefährliche Gewässer einen das bringt, merkt man erst, wenn es fast zu spät ist. Aktuellstes Beispiel: Der Brexit.
Das britische Referendum über den Austritt aus der Europäischen Union war kein lange ausgeklügelter strategischer Plan. Ja, Großbritannien und die EU, das war seit Beginn eine heftige On-off-Beziehung. Ja, die Stimmung in Großbritannien verschärfte sich mit dem Aufstieg der rechtspopulistischen UKIP. Aber die Entscheidung zum Referendum war kein heftiges Ringen und Werben um den richtigen Weg, wie man mit der europafeindlichen Stimmung umgeht. Die drohende Dekonstruktion der europäischen Integration ist quasi einfach „passiert“, wie die österreichische Zeitung Der Standard treffend beschreibt. Irgendwie passiert, weil der damals frisch gewählte britische Premier David Cameron aufgrund des Rumorens in seiner eigenen Partei, und um sich selbst innerparteilich Luft zu verschaffen, leichtfertig die europäische Historie ignorierte, die selbst unter der „Eisernen Lady“ Margaret Thatcher die politischen Koordinaten für britische Forderungen in der EU bildete.
Politische Unachtsamkeit
Wenn dieser Tage über den Ausgang des Brexits diskutiert wird, sollte daher sein Ursprung nicht unter den Tisch fallen. Vor allem nicht für politisch Verantwortliche. Denn, wenngleich die Dimension eine andere ist, musste man im Bundestag in der vergangenen Sitzungswoche zusammenzucken, wie plötzlich es passieren konnte, dass zwei nicht unbedeutende historische Wegmarken vom Tisch gefegt wurden: Erst landete aufgrund von Missstimmungen zwischen den Regierungsfraktionen und fernab der großen öffentlichen Wahrnehmungsschwelle der Bericht der Expertenkommission über die Zukunft der Behörde für Stasi-Unterlagen im Schredder. Dann flog ein interfraktioneller Antrag zum 25. Jubiläum der deutsch-polnischen Freundschaft von der Tagesordnung, weil es bei der Union rumorte.
Beides Themen, die auf den ersten Blick vielleicht nicht sehr relevant erscheinen – aber eben nur auf den ersten. Denn es geht dabei ebenso um historische Errungenschaften, die, ähnlich der europäischen Einigung, das Fundament unserer demokratischen Kultur bilden: um die Kraft der Aussöhnung früherer Feinde, um das Erbe der Solidarność-Bewegung, der friedlichen Revolution samt ihrer Montagsdemonstrationen und die Aufarbeitung der SED-Diktatur.
Weil die Würdigung unserer demokratischen Geschichte und die Auseinandersetzung mit geschehenem Unrecht auch die Verfasstheit unserer Gesellschaft beschreibt und weil politische Unachtsamkeit Gift für die politische Kultur ist, wollen wir hier beide Anträge noch einmal beleuchten: Zum Jahrestag des deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrags wurde ein interfraktioneller Antrag vorbereitet. Abgesehen von der unionseigenen Linksphobie, die eine Zusammenarbeit mit der Oppositionsfraktion kategorisch ausschließt, verhandelte man lange Zeit konstruktiv.
Denn allen ist klar, dass angesichts der neuen nationalkonservativen Regierung in Polen, aber auch aufgrund der europakritischeren Stimmung in Deutschland, eine Würdigung der gemeinsamen 25-jährigen Freundschaft ohne eisernen Vorhang mehr ist als Symbolpolitik. Mit dem Willen zum Konsens haben alle Fraktionen Kröten geschluckt, um einen würdigen Antrag zu formulieren. So ist es bei interfraktionellen Anträgen demokratische Gepflogenheit.
Deutsch-polnische Aussöhnung verpasst
Finaler Knackpunkt für einen interfraktionellen Antrag blieb die Einordnung der Charta der Heimatvertriebenen. CDU/CSU sehen die Charta, nicht völlig zu Unrecht, als Element der Versöhnung zwischen Deutschland und Polen an. Allerdings muss diese historisch kontextualisiert werden. Der ausgewiesene Verzicht auf Rache und Vergeltung in der Charta war 1950 sicherlich versöhnlich formuliert, suggeriert aber eine Position der Unschuld, aus der heraus eine Gnade des Racheverzichts gewährt wurde. Diese Unschuld gab es nicht.
Zudem stilisiert die Charta Heimatvertriebene als die „vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen“, was angesichts der menschenverachtenden deutschen Verbrechen gegen die Polen noch immer relativierend nachhallt. Auf der Zielgeraden der Verhandlungen baten wir Grünen um Kontextualisierung der entsprechenden Passage im Antrag, die SPD unterstützte unser Anliegen und ließ uns nochmals mit der Union verhandeln. Gerade weil sich politische Fehlentwicklungen aus Unachtsamkeit heraus entwickeln können, warnten wir vor der pauschalen Huldigung der Charta, denn noch heute wird sie in Teilen der polnischen Gesellschaft alles andere als versöhnend interpretiert.
Die Unionsfraktion verweigerte jedoch jeglichen Kompromiss zur historischen Einordnung der Charta und so passierte es dann, dass der Deutsche Bundestag die rechtzeitige und überparteiliche Würdigung der deutsch-polnischen Aussöhnung und Freundschaft am 17. Juni verpasste. Einer Freundschaft, die solide ist, wenngleich – wie in jeder guten Freundschaft – nicht frei von Meinungsverschiedenheiten. Der Freundschaftsvertrag steht für Dialogbereitschaft, für Vertrauen und Kooperation. Er steht für Sicherheit, Frieden und Respekt. Werte, die Europa ausmachen und die nicht genug gewürdigt werden können. In Zeiten eines drohenden Brexits nahmen sich die Abgeordneten die Möglichkeit, diese Erfolgsgeschichten der europäischen Einigung zu feiern und Verbundenheit zu demonstrieren, selbst wenn der Bundestag dieses Thema nun noch behandelt. Union und SPD ohne die historische Einordnung der Charta, wir Grüne nun mit eigenem Antrag.
Umgang mit der Stasi-Unterlagenbehörde: Ohrfeige für die Opfer
Ähnlich unachtsam handelten die Koalitionsfraktionen hinsichtlich der Zukunft der Stasi-Unterlagenbehörde. Die Behörde ist von außergewöhnlichem Wert für unsere Demokratie und unsere politische Kultur, arbeitet sie doch systematisch das verübte Unrecht durch die SED-Diktatur und ihres Geheimdienstes auf. Sie zeigt, wie individuelle Freiheiten unterdrückt und Menschenrechte missachtet wurden. Der Umgang mit den deutschen Verbrechen der Vergangenheit und ihren Opfern ist prägend für unsere liberale Demokratie.
Zwar gibt es kein offizielles Enddatum für die Behörde, aber unlängst sollte sie von einer Sonderbehörde des Mauerfalls in die bestehenden Bundesbehörden integriert werden. Nicht um einen Schlussstrich unter die Aufarbeitung zu ziehen, sondern um das Stasi-Material langfristig vor dem Verfall zu sichern und die Aufarbeitung durch Zivilgesellschaft und Wissenschaft zu garantieren. Eine Expertenkommission hatte hierzu zentrale, wenngleich nicht ganz unumstrittene Vorschläge gemacht.
Doch statt diese Vorschläge nun im Gesetzgebungsprozess zu diskutieren, die nötigen finanziellen Mittel zu beraten, um die Akten zu erhalten und die Unrechtsaufarbeitung zukunftsfest zu machen, wurde die Entscheidung holterdiepolter auf den Sankt-Nimmerleins-Tag der kommenden Legislatur vertagt. Dies ist nicht nur eine Ohrfeige für die Expertenkommission und ihre Arbeit, sondern verunsichert auch die Opfer des DDR-Unrechts und all jene, die sich aus der Geschichte heraus für eine liberale Demokratie einsetzen.
Historische Unachtsamkeit der Koalition
Den Koalitionsfraktionen ist es damit in nur einer Woche gleich zweimal irgendwie passiert, bei zentralen historischen Grundsteinen unserer Demokratie scheinbar den Willen zur Zusammenarbeit zu verlieren. Nicht aus politischem Kalkül, sondern aus Unachtsamkeit gegenüber historischen Errungenschaften. Beide Themen hatten einen langen Vorlauf, keines eignet sich zur parteipolitischen Profilierung. Letztlich scheiterten sie an fehlender Sensibilität gegenüber den Lehren aus der eigenen Geschichte.
Das ist fatal, denn dem grassierenden Populismus, gesellschaftlicher Polarisierung und zunehmender nationaler Abgrenzung sollten eben jene historischen Leistungen entgegengestellt werden, auf die unsere freiheitlichen Gesellschaften fußen. Nicht aufgrund von Geschichtsnostalgie, sondern um populistischer Verklärung entgegenzutreten.
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"BREXIT war kein lange ausgeklügelter strategischer Plan" - Das macht Entbürokratisierung und Entzentralisierung auf lange Sicht nicht weniger unvermeidbar. Der BREXIT ist als Teil der Entfesselung von freien europäischen Individuen gegenüber teilkommunistischen Technokraten zu sehen.
"UKIP ist rechtspopulistisch" - Aufgrund fehlender Definition dieses umstrittenen Begriffs kann ich weder diese Behauptung nachvollziehen, noch wurde beweisen, warum BREXIT-Gegner nicht populistisch sein sollen.
Politiker werden vom Volk nicht gewählt, um "gemeinsam zu Gedenken", sondern um fairen Wettbewerb sowie die Einhaltung der eigenen Gesetze zu garantieren. Aufgaben, in denen vergangene Regierungen, inklusive der Grünen, grandios gescheitert sind.
Wenn deutsche Politiker wirklich so bedacht auf Aussöhnung sind, so schlage ich vor, den angeblichen Krieg gegen den Terror, insbesondere den tausendfachen völkerrechtswidrigen Drohnenmord aus Rammstein, zu beenden.
Also wenn diese Grüne glaubt, die deutsch-polnische Aussöhnung sei derzeit eines der wichtigsten Themen für uns und für die Polen, dann lebt sie in einer Parallelwelt.
Die Formulierungen in der Charta der Heimatvertriebenen mögen in einem Deutschland, das sich Jahrzehnte nicht wesentlich um die Geschichte seiner eigenen Vertriebenen und Flüchtlinge kümmerte, heute seltsam anmuten. Störend. Das moderne - geschichtsvergessene - Deutschland möchte solche Dinge am liebsten abräumen. Tabula rasa machen. Die Deutschen sind Tätervolk. Nie Opfer. Was nicht sein darf, das kann nicht sein. Aber im Jahre 1950, als die Charta formuliert wurde, da war alles noch frisch in Erinnerung. Das Unrecht, das polnische Milizen, die im Gefolge der Roten Armee in die unter polnische Verwaltung gestellten deutschen Provinzen Ostpreußen (südlicher Teil; der nördliche fiel an die UdSSR), Pommern und Schlesien gekommen waren, am nicht aus ihrer Heimat geflüchteten Teil der deutschen Zivilbevölkerung anrichteten, war furchtbar. Es wurde gemordet, vergewaltigt, geraubt und geplündert. Die Deutschen waren rechtloses Freiwild, bis dann die meisten 1946/47 endgültig verjagt wurden.
Von dem, was ich höre, war das Spiel zwischen Deutschland und Polen ziemlich ausgeglichen. Das Unentschieden ging darum ok. Die Politiker müssen sich nicht überall einmischen. Moment, um was gings's nochmal?
Im heutigen Deutschland glauben wohl viele, dass Deutsche kein Recht darauf haben, auf die Verbrechen aufmerksam machen zu dürfen, die an ihren Landsleuten begangen worden sind. Man meint wohl, das furchtbare Wüten von SS, Wehrmacht und deutscher Polizei in Polen in den Jahren des Krieges verbiete ein Benennen des Wütens polnischer Milizen unter den Deutschen. Aber das ist eine falsche Einstellung. Beide Seiten haben ein Recht darauf gehört zu werden.
Gerade der nationalkonservativen polnischen Regierung ist jede Erinnerung an polnische Verbrechen zuwider. Teile des polnischen politischen Establishments betreiben (wie zu kommunistischen Zeiten, als nicht einmal erwähnt werden durfte, dass Breslau, Stettin und Danzig mal deutsche Städte waren) Geschichtsrevisionismus. Ich meine, das sollte man ihnen nicht durchgehen lassen!
Niemand will den Polen streitig machen, dass sie entsetzlich unter den Deutschen gelitten haben, aber deswegen polnische Verbrechen beschweigen?
Wieder so eine Volkserzieherin, die mir keine andere Wahl geben zu gedenkt, als "Lehren aus der eigenen Geschichte" zu ziehen, obwohl sie meine Geschichte gar nicht kennt.
Schauen Sie in den Spiegel, Frau Baerbock, und kündigen Sie erstens den Rüstungsunternehmen Zugang zu ihrem Parteispendenkonto, verurteilen Sie zweitens Joschka Fischer wegen Kriegsverbrechen und unterlassen Sie drittens meinem Sohn, sich über ihre Bildungspläne einreden zu lassen, sein Penis sei ein soziologisches Konstrukt.
Ihre Anmaßung, es in Punkto Brexit besser wissen zu wollen als die Briten selbst, spricht für ihr autoritäres Denken.
Studieren Sie doch einmal ein wenig Volkswirtschaft und fordern Sie anschließend ein Ende des Verbotes von Alternativen zur staatlich vorgeschriebenen Geldschöpfung aus dem Nichts.
A.Baerbock & M. Sarrazin von den Grünen beklagen die "Unachtsamkeit der Koalition gegenüber historischen Errungenschaften" wie die Freundschaft mit Polen und den Umgang mit der Stasi-Behörde. Es wurde viel daran gearbeit. Dann wird alles vom Tisch gefegt. Keine Diskussion.
Soweit wie ich die Merkelpolitik seit Jahren sehe, gehen hier beide Verfasser sehr wohlwollend mit der Koalition um, wenn sie ihr "parteipolitisches Kalkül" abspricht und nur auf "fehlende Sensibilität" hinweisen.
Merkel kann gar nicht anders, als kalkulierend agieren um ihr Umfeld dann autoritär mitzunehmen.
Polen gefällt Merkel schon lange nicht mehr, wollen keine Flüchtlinge aufnehmen - also wird bestraft durch Unterlassung.
Was die Stasiunterlagenbehörde noch alles an den Tag bringen könnte - kann auch nicht unbedingt im Sinne Merkels sein, da sie selbst bei der Stasi mitgemacht hat.
Hier NICHT von Kalkül & Absicht zu sprechen ist naiv. Die Option Grün-Schwarz könnte ja gefährdet werden.
Ein feinfühliger Artikel, mit feiner Feder geschrieben. Und daneben die nolens-volens-Elefanten in Berlins politischem Porzellanladen. Schade, schade!
Werte Frau Annalena Baerbock , es gibt keinen kulturellen oder sonstigen Dialog, den Sie staatlich organisieren können.
Der ergibt sich einfach, ohne staatlichen Zwang.
Es gibt so etwas auf der Ebene der Organisationen, wie es früher in der DDR die Völkerfreundschaft gab, wo die Freundschaft par ordre de Mufti verschrieben wurde. Und dann gibt es den Alltag – ganz einfach. Ich kann mich um keinen Dialog bemühen. Ich gehe doch nicht extra irgendwo hin, um einen Dialog mit Polen anzufangen.
Alles andere sind Rezepturen, Vorschriften – das funktioniert nicht. Das ist so wie deutsch-französischer Jugendaustausch. Und ich weiß nicht, was der gebracht hat, außer vielleicht eine hohe Anzahl von "entspannten" Abenden, junger Leute.