Li Qiang, Ministerpräsident von China und Bundeskanzler Olaf Scholz / picture alliance

Diplomatie - China reicht dem Westen die Hand

Strukturelle Probleme und ein unzureichender wirtschaftlicher Aufschwung treiben Peking dazu, Entgegenkommen zu zeigen. Europa und die USA loten nun aus, wie sie sich gegenüber China verhalten wollen.

Autoreninfo

Antonia Colibasanu ist Analystin bei Geopolitical Futures und Dozentin an der rumänischen National Defence University mit Sitz in Bukarest.

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Chinas Führung trifft sich dieser Tage mit hochrangigen Vertretern der großen westlichen Mächte. Bei einem nur wenige Tage zuvor angekündigten Besuch reiste US-Außenminister Antony Blinken am vorigen Wochenende nach China – der erste wichtige US-Besuch in Peking seit fast fünf Jahren, nachdem eine zuvor geplante Reise im Februar wegen des Spionageballon-Vorfalls abgesagt worden war. Die chinesische Regierung bezeichnete Blinkens Treffen mit seinem Amtskollegen Qin Gang als „offen, eingehend und konstruktiv“. Auch der chinesische Präsident Xi Jinping traf unerwartet mit Blinken zusammen. Der chinesische Ministerpräsident Li Qiang hat sich diese Woche in Deutschland und Frankreich aufgehalten.

Diese diplomatischen Gespräche finden zu einem entscheidenden Zeitpunkt in den Beziehungen zwischen China und den westlichen Großmächten statt. Die Pandemie hat in Wirtschaft und Politik die Besorgnis über die wirtschaftliche Interdependenz geschürt, und Pekings zweideutige Haltung zum Ukraine-Krieg hat den Westen dazu veranlasst, ernsthaft über Mittel und Wege nachzudenken, um die Abhängigkeit der eigenen Wirtschaft von China zu verringern. Gleichzeitig sind Verschuldung und Jugendarbeitslosigkeit wachsende Probleme in China, und die erwartete starke Erholung des Landes von den Einschränkungen durch die Pandemie ist so nicht eingetreten. Aus diesen Gründen muss China dringend mit dem Westen zusammenarbeiten, um die Spaltung zwischen den USA und Europa auszunutzen oder zumindest das Tempo des „De-Risking“ zu verlangsamen.

Verringerung der wirtschaftlichen Verflechtung

Die europäischen Mächte zögern, bei der Errichtung von Hindernissen für die chinesische Wirtschaft derart weit zu gehen wie die Amerikaner. Die Schlagworte – wie eben „De-Risking“ oder „Entkopplung“ – sind fast bedeutungslos geworden, aber sie spiegeln Meinungsverschiedenheiten darüber wider, ob eine Verringerung der wirtschaftlichen Verflechtung mit China wünschenswert ist und welche Risiken damit verbunden sind. Europa bevorzugt das De-Risking, das die Notwendigkeit eines wirtschaftlichen Engagements akzeptiert, aber versucht, die Risiken durch die Diversifizierung der Lieferketten, die Stärkung der einheimischen Industrie und die Entwicklung politischer Instrumente zur Abschreckung oder Bekämpfung chinesischer wirtschaftlicher Nötigung zu verringern.

Der Begriff „Entkopplung“ beschreibt den Ansatz Washingtons besser, auch wenn die US-Politiker den Begriff „De-Risking“ übernommen haben, um bei den Europäern Anklang zu finden. Die Entkopplung zielt darauf ab, die wirtschaftliche Verflechtung mit China durch Zölle und Sanktionen, Investitionsbeschränkungen und Exportkontrollen zu verringern oder sogar zu beseitigen. Aufgrund seines Bündnisses mit den USA und angesichts des Ukraine-Krieges könnte Europa schließlich härtere Maßnahmen gegen China in Erwägung ziehen, die eher der Entkopplung entsprechen.

„Partner, Konkurrenten und Systemrivalen“

Vor diesem Hintergrund wurde der Besuch von Premier Li Qiang am 20. Juni in Berlin, zu dem auch ein Treffen mit Bundeskanzler Olaf Scholz gehörte, sorgfältig vorbereitet. Chinas ranghöchster Diplomat, Wang Yi, reiste Anfang Juni nach Berlin, um sicherzustellen, dass das Treffen zwischen Li und Scholz „die Zusammenarbeit zwischen China und Deutschland an der Spitze der Welt hält“. Nach der Bundesrepublik ist Li gen Frankreich aufgebrochen, wo er hofft, die bilaterale Zusammenarbeit zu verbessern und – was noch wichtiger ist – die chinesischen Exporte auf den europäischen Markt anzukurbeln.

Nur wenige Tage vor den Konsultationen veröffentlichte Deutschland jedoch seine erste nationale Sicherheitsstrategie. Das Dokument beschreibt China als „Partner, Konkurrenten und Systemrivalen“, stellt aber fest, dass „die Elemente der Rivalität und des Wettbewerbs in den letzten Jahren zugenommen haben“. Darüber hinaus drängte Berlin Berichten zufolge Peking dazu, die Zahl der am Gipfel teilnehmenden Minister zu verringern, um bei seinen Verbündeten – insbesondere in Washington – nicht den Eindruck zu erwecken, dass es China zu sehr entgegenkomme. Schließlich wurde Scholz’ Besuch in Peking im November 2022 als zu freundlich gegenüber China kritisiert – das neben anderen Staaten unter Verdacht steht, Russland dabei zu helfen, westliche Sanktionen zu umgehen.

Das deutsche Strategiedokument kommt zeitgleich mit Berichten, wonach Frankreich die Europäische Kommission unter Druck setzt, gegen die seiner Meinung nach unfairen Handelsvorteile Chinas, insbesondere bei Elektrofahrzeugen, vorzugehen. Darüber hinaus kündigte die Kommission am 15. Juni Maßnahmen an, um ihre internen Telekommunikationsnetze von den chinesischen Unternehmen Huawei und ZTE zu befreien, und forderte die Mitgliedstaaten auf, die Befugnisse des 5G-Sicherheitsinstrumentariums der EU zu nutzen, um die chinesischen Anbieter aus ihren nationalen Netzen zu verbannen. Insgesamt deuteten die Signale im Vorfeld des Besuchs von Li auf eine mögliche Verschärfung der europäischen Haltung gegenüber China hin.

China ist auf westliche Investitionen angewiesen

China ist nach wie vor auf amerikanische und europäische Investitionen angewiesen, um sein Wirtschaftswachstum anzukurbeln, und kann es sich nicht leisten, den Zugang zu beiden Märkten zu verlieren. Im vergangenen Jahr waren die Vereinigten Staaten der zweitgrößte Importeur chinesischer Waren, die sich auf mehr als 15 Prozent der chinesischen Exporte beliefen. Sie waren die drittgrößte Quelle für ausländische Direktinvestitionen, die 10 Prozent aller ausländischen Direktinvestitionen in China ausmachten. Die Europäische Union war Chinas größter Exportmarkt (mehr als 20 Prozent der chinesischen Exporte) und zweitgrößte Quelle für ausländische Direktinvestitionen (15 Prozent).

Die Exporte halten die chinesische Wirtschaft in Schwung, während ausländische Investitionen Kapital und Technologie ins Land bringen, damit chinesische Unternehmen wachsen und wettbewerbsfähiger werden können. Etwa ein Drittel der chinesischen Arbeitskräfte ist in der verarbeitenden Industrie beschäftigt, die 2021 etwa 20,5 Prozent der gesamten Exporte Chinas ausmachte. Obwohl der Sektor in den vergangenen zwei Jahrzehnten an Bedeutung verloren hat, da sich die chinesische Wirtschaft stärker auf den Dienstleistungssektor ausgerichtet hat – 1995 machte das verarbeitende Gewerbe 42 Prozent der Arbeitsplätze in China aus –, ist er nach wie vor ein wichtiger Arbeitgeber und trägt wesentlich zu Chinas Exporten bei. Da die Exporte etwa ein Viertel des chinesischen Bruttoinlandsprodukts ausmachen, bedeuten hohe Exporte eine stabile Wirtschaft.

 

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Daher spiegeln Chinas Ängste vor europäischem Protektionismus tiefere Befürchtungen hinsichtlich der sozialen und politischen Stabilität Chinas wider, insbesondere angesichts der jüngsten, wenig überzeugenden Wirtschaftsdaten. Als Reaktion auf die schleppende Erholung der Wirtschaft von der Pandemie senkte die People’s Bank of China (PBOC) am 13. Juni den Sieben-Tage-Reverse-Repo-Satz von 2 Prozent auf 1,9 Prozent. Später am selben Tag senkte die Zentralbank die Zinssätze für ihre ständige Kreditfazilität und reduzierte den Tagesgeldsatz um 10 Basispunkte auf 2,75 Prozent. Außerdem senkte sie den Zinssatz für einjährige Darlehen im Rahmen der mittelfristigen Kreditfazilität an einige Finanzinstitute um 10 Basispunkte auf 2,65 Prozent. Am 20. Juni senkte die PBOC den Leitzins für Kredite um 10 Basispunkte, was die Kreditvergabe für die Banken billiger machen soll.

Der Gouverneur der PBOC, Yi Gang, hatte Anfang des Monats zugesagt, dass die Zentralbank weiterhin eine umsichtige Geldpolitik verfolgen und gleichzeitig die Realwirtschaft unterstützen, die Beschäftigung fördern und die Währungs- und Finanzstabilität wahren werde. Damit wird indirekt zum Ausdruck gebracht, dass China mit drei großen Herausforderungen konfrontiert ist: Verlangsamung des Wirtschaftswachstums, Abschwächung des Immobilienmarktes und hohe Verschuldung. Das rückläufige Wachstum ist wahrscheinlich die größte Sorge Pekings. Nach einem zweistelligen Wachstum in den frühen 2000er-Jahren ist die chinesische Wirtschaft in den zurückliegenden Jahren nur noch im einstelligen Bereich gewachsen. Angesichts des internationalen Klimas und der alternden Bevölkerung des Landes gibt es jedoch keine einfache Lösung für die sinkenden Wachstumsraten.

Der Immobilienmarkt war in den letzten Jahren eine wichtige Triebfeder des chinesischen Wachstums, aber auch er hat sich verlangsamt. Die Sorge um die Anfälligkeit des Immobilienmarktes verfolgt das Land nach wie vor.

Jugendarbeitslosigkeit erreichte in China einen Rekordwert

Das Schuldenproblem ist auf eine Reihe von Faktoren zurückzuführen, darunter die staatlichen Konjunkturprogramme nach der globalen Finanzkrise 2008 und die zweifelhaften Kreditvergabepraktiken der staatlichen Banken. Die Regierung versucht, die Schuldenlast in den Griff zu bekommen, aber das ist ein langsamer Prozess, und die Bemühungen schränken die Möglichkeiten Pekings ein, die Wirtschaft kurzfristig zu stimulieren. Dies bedeutet, dass die Regierung nur begrenzten Spielraum hat, um ihr derzeit wichtigstes strukturelles Problem anzugehen: die Jugendarbeitslosigkeit.

Nach offiziellen Angaben Chinas erreichte die Jugendarbeitslosigkeit (bei den 16- bis 24-Jährigen) im April einen Rekordwert von 20,4 Prozent. In diesem Monat werden weitere 11,6 Millionen chinesische Studenten ihr Studium an Hochschulen und Berufsschulen abschließen und sich auf Arbeitssuche begeben. Anfang dieses Jahres kündigte Peking mehrere Programme zur Senkung der Jugendarbeitslosigkeit an, darunter einen 15-Punkte-Plan zur Ausweitung der Berufsausbildung und der Lehrstellen, zur finanziellen Unterstützung von Existenzgründern und zur Ermutigung von Unternehmen, mehr junge Menschen einzustellen. All dies ist jedoch ein langfristiger Prozess.

Gleichzeitig sind die ausländischen Direktinvestitionen in China im Jahr 2022 weiter zurückgegangen. Laut dem globalen Investitionsmonitor von fDi Markets gab es in China Rückgänge bei der Zahl der angekündigten FDI-Projekte („Foreign Direct Investments“) um 24 Prozent, bei den Investitionsausgaben (um 44 Prozent) und bei der Schaffung von Arbeitsplätzen (um 59 Prozent). Im Vergleich zu 2019 ist die Zahl der Projekte im vergangenen Jahr um 60 Prozent und sind die Investitionen um 68 Prozent zurückgegangen.

Katastrophale Situation der Kommunalverschuldung

Lokale Berichte untermauern diese Daten. Am 26. Mai veröffentlichte die Finanzaufsichtsbehörde der Stadt Wuhan in einer lokalen Zeitung eine Liste von 259 öffentlichen und privaten Schuldnern, die ihr zufolge 300 Millionen Yuan (rund 38 Millionen Euro) schulden, und forderte sie auf, diese zurückzuzahlen. Es handelt sich zwar nicht um einen riesigen Betrag, aber die Geste ist für eine Stadtverwaltung beispiellos. Am 12. April gab die Provinz Guizhou bekannt, dass sie nicht in der Lage sei, Schulden in Höhe von 1,2 Billionen Yuan zurückzuzahlen. Beide Berichte gelangten in ausländische Medien, bevor chinesische Beamte sie von den Websites der lokalen Medien entfernten. Trotz der Bemühungen Pekings ist die katastrophale Situation der Kommunalverschuldung kein Geheimnis: Sie stieg von 10,7 Billionen Yuan im Jahr 2011 auf mehr als 30 Billionen Yuan im Jahr 2022.

Kein Wunder also, dass einige chinesische Stadtverwaltungen in diesem Jahr die Vorschriften gelockert haben, um Straßenhändlern das Geschäft in den Städten zu ermöglichen. Der Straßenverkauf, der früher als schädlich für das Image einer Stadt angesehen wurde, wie es in Chinas Nationalem Plan für eine zivilisierte Stadt aus dem Jahr 2003 festgelegt ist, wird seit 2010 zunehmend akzeptiert. Die Gesetze werden je nach der Beschäftigungssituation in einer bestimmten Stadt angepasst. Im Jahr 2017 genehmigte der chinesische Staatsrat den unlizenzierten Verkauf von landwirtschaftlichen Erzeugnissen und Gegenständen des täglichen Bedarfs an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten. Im aktuellen Klima kann der Straßenverkauf den Großstädten helfen, sich von pandemiebedingten Störungen zu erholen und die Arbeitslosigkeit zu verringern.

Diese lokalen Geschichten verdeutlichen die Herausforderungen, vor denen China steht. Pekings Null-Covid-Politik führte zu weitaus strengeren und wirtschaftlich schädlicheren Beschränkungen als die Maßnahmen anderer Länder, und sie blieben in der Regel noch mehr als ein Jahr in Kraft, nachdem andere Länder wieder geöffnet hatten. Es ist daher verständlich, dass Chinas wirtschaftliche Erholung hinter der anderer Länder zurückbleibt. Dies ist jedoch nur der Anfang von Chinas Problemen.

Geschäftsprojekte in China scheinen zunehmend riskant

Jahrzehntelang wurde das Wirtschaftswachstum Chinas durch Exporte des verarbeitenden Gewerbes oder Investitionen in Industrieanlagen zur Belieferung externer Märkte angetrieben. Ausländische Unternehmen steigerten ihre Gewinne durch Outsourcing nach China, wodurch neue Lieferketten entstanden und die gegenseitige Abhängigkeit zunahm. Geschäftsbanken und Investoren halfen aufstrebenden Unternehmen, genügend Kapital für die Übernahme und Umstrukturierung ihrer ineffizienten Konkurrenten zu beschaffen, wodurch der chinesische Unternehmenssektor zu einem der wettbewerbsfähigsten der Welt wurde.

Seit 2008 haben jedoch eine strengere Finanzregulierung und eine anhaltende Niedrigzinsphase die großen Finanzinstitute vorsichtiger werden lassen. Weltweit sind die ausländischen Direktinvestitionen zurückgegangen, und es ist weniger Geld für risikoreiche Projekte verfügbar. Angesichts des weltweiten Trends zu mehr Protektionismus und der ungewissen Zukunft der bilateralen Beziehungen Chinas zu den USA und Europa erscheinen Geschäftsprojekte in China zunehmend riskant. Hinzu kommen der Krieg in der Ukraine und der Zusammenbruch sowie die Umstrukturierung einiger globaler Lieferketten während der Pandemie. Reshoring (Zurückverlagerung) und Friendshoring (Verlagerung in befreundete Staaten) haben nicht nur das Outsourcing nach China abgelöst, sondern inmitten der geopolitischen Turbulenzen wetteifern die Länder um die Erschließung neuer Märkte und die Entwicklung von Spitzenindustrien.

Chinas Neue-Seidenstraßen-Initiative ist in vielerlei Hinsicht eine Antwort auf diese Bedrohungen, aber sie hat China nicht aus seiner Abhängigkeit von westlichen Märkten und Investitionen befreien können. Noch wichtiger ist, dass China mehr Geld braucht, um seine Seidenstraßen-Pläne vollständig umzusetzen. Doch seine Versuche, die daraus resultierenden Schulden in Asien zu tilgen, waren bisher erfolglos. Und da das internationale Bankenwesen chinesischen Investoren gegenüber nicht offen ist, sind die Finanzmärkte der nächstbeste Ort, um nach Finanzierungsmöglichkeiten zu suchen.

Wachsende Bedeutung von Privatmärkten

Derzeit gehen diejenigen, die höhere Renditen erzielen wollen, in weniger regulierte Privatmärkte. Laut McKinsey’s Global Private Markets Review erreichte das weltweit verwaltete Privatmarktvermögen im Juni 2022 insgesamt 11,7 Billionen US-Dollar und wuchs seit 2017 jährlich um 20 Prozent. Das Wachstum wurde durch die zunehmende Akzeptanz von Private-Equity-Fonds in Form von Kommanditgesellschaften, die in der Regel in nicht börsennotierte Unternehmen investieren, und von Risikokapitalfonds, die in risikoreiche Start-ups oder junge Unternehmen mit langfristigem Potenzial investieren, angeheizt.

In Anbetracht der Größe der chinesischen Wirtschaft – ihr BIP macht 18 Prozent der Weltwirtschaft aus – gibt es für chinesische Unternehmen auf dem Privatmarkt sicherlich Raum für Expansion, was Pekings Reformbestrebungen unterstützen würde. Allerdings müssen zwei Faktoren berücksichtigt werden. Erstens spielen ausländische Fonds auf den Private-Equity-Märkten eine wichtige Rolle, da sie über Fachwissen und Marktreichweite verfügen – allerdings sind die internationalen Investitionen in diesem Bereich derzeit deutlich rückläufig.

Zweitens stammt ein erheblicher Teil der Unternehmensinvestitionen in China derzeit von verschiedenen staatlichen Ebenen. Bis Ende 2022 gründeten chinesische Regierungsstellen 1531 Investmentfonds im Volumen von rund 380 Millionen US-Dollar. Auf die Zentralregierung entfielen nur 7,5 Prozent des Wertes dieser Fonds, aber die Provinz- und Kommunalregierungen hatten einen viel größeren Anteil: 38,4 Prozent bzw. 42,7 Prozent. Die Bezirks- und Kreisverwaltungen, auf die 11,4 Prozent entfielen, unterstützen Unternehmen, die die lokale Wirtschaft ankurbeln können. Bis vor kurzem bedeutete dies Investitionen in die Infrastruktur, insbesondere in Immobilien, aber jetzt stehen die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Umstrukturierung lokaler Unternehmen im Vordergrund.

Kluft zwischen den Großstädten und der Provinz

Theoretisch wäre dies ein Vorteil für China, wenn die lokalen Arbeitskräfte bereit sind, die Umstrukturierung langfristig zu unterstützen. Angesichts der Tatsache, dass sich die Jugendarbeitslosigkeit auf die städtischen Gebiete konzentriert, könnte ein Wegzug junger Menschen aus den Städten dazu beitragen, die Wirtschaft wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Aber das ist leichter gesagt als getan. Der Umzug aus städtischen Gebieten aufs Land ist nicht einfach, egal wo man lebt, aber in China ist er besonders schwierig.

Kleinere Städte und ländliche Gebiete sind im Vergleich zu Großstädten deutlich schlechter ausgestattet – was in den meisten Ländern mit mittlerem Volkseinkommen der Fall ist. Während einige der chinesischen Großstädte wohlhabender zu sein scheinen als New York oder Tokio, haben viele Städte in der dritten Reihe Schwierigkeiten, eine stabile Energieversorgung und grundlegende sanitäre Einrichtungen bereitzustellen. Infolgedessen vermeiden die meisten Hochschulabsolventen den Umzug in „erschwinglichere“ ländliche Gebiete und sind auf die Unterstützung ihrer Eltern angewiesen, um in den Großstädten zu bleiben, bis sie Arbeit finden.

Momentum scheint auf Seiten des Westens zu liegen

Die chinesische Wirtschaft ist also weniger entwickelt, als die offiziellen Zahlen vermuten lassen, was bedeutet, dass ihre Fähigkeit, sich zu einer konsumorientierten Wirtschaft zu entwickeln, begrenzt ist. Die vollen Auswirkungen der Pandemie auf die chinesische Gesellschaft sind noch unklar; selbst die Zahl der Todesopfer ist unbekannt. Angesichts der Tatsache, dass Peking nach wie vor Berichte unterdrückt, die es für ungünstig hält – selbst solche, die von Stadtverwaltungen veröffentlicht werden –, kann man davon ausgehen, dass die Regierung besorgt ist. China braucht nicht nur mehr Arbeitsplätze, sondern auch mehr gut bezahlte Jobs, um seine wirtschaftlichen Unzulänglichkeiten zu beheben. Die Jugendarbeitslosigkeit ist besonders besorgniserregend, weil sie tendenziell zu anderen Problemen wie erhöhter Kriminalität und sozialer Instabilität führt.

All dies wird die chinesische Führung noch mehr als bisher dazu veranlassen, mit den Europäern zusammenzuarbeiten, um den Handel auszuweiten. Doch dazu muss sich Peking in der Ukrainefrage gegen Russland stellen und den Vereinigten Staaten entgegenkommen. In der Zwischenzeit muss Washington dafür sorgen, dass die Risiken, die sich aus einer rückläufigen chinesischen Wirtschaft ergeben, gemildert werden. Blinkens Besuch ist daher nicht nur ein Versuch, die Beziehungen zu China zu verbessern, sondern auch ein Schritt, um Chinas Absichten zu ergründen.

Durch den Besuch haben die USA deutlich gemacht, dass sie verhandeln können. Das Potenzial für interne Unruhen aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Bedingungen hat Xi wahrscheinlich dazu veranlasst, sich mit Blinken zu treffen und anschließend eine positive Erklärung zu den Gesprächen abzugeben. Das Momentum scheint also auf Seiten des Westens zu liegen.

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Henri Lassalle | Fr., 23. Juni 2023 - 15:13

Die chinesische Führung hat Grund zur Sorge. Ihre politische Existenz hängt mit der wirtschaftlichen Lage eng zusammen. Daher wird sie versuchen, im Westen mehr abzusetzen und retributive Investitionen zu starten, zumal die heimische Wirtschaft bröckelt; man muss sich nur einmal die Menge leerstehender Immobilien ansehen - ein Beispiel von vielen. Das gibt es jedoch nicht ohne Risiko für D. und Europa, da es sich vielfach um einen Verdrängungsmarkt handelt. China denkt ohnehin nach wie vor in expansiven Dimensionen, wie man weiss, es hat in dieser Hinsicht eine Kriegermentalität entwickelt. Daher ist Vorsicht geboten, Arglosigkeit oder gar Naivität wie in der Vergangenheit kann man sich nicht mehr leisten.

Tomas Poth | Fr., 23. Juni 2023 - 15:54

Deutschlands und Europas Interessen liegen auf dem eurasischen Kontinent, in der Zusammenarbeit mit den BRICS-Staaten!!
Wer das nicht begreift oder nicht begreifen will ist ein gekaufter US-Vasall/Sklave.