- Das Vermächtnis der Solidarität
Vor 40 Jahren entstand die freie Gewerkschaft Solidarność. Eine friedliche Massenbewegung, die das kommunistische Regime in Polen in die Knie gezwungen und einen Beitrag zur Überwindung des Sozialismus in Osteuropa geleistet hat. Ihr Vermächtnis bleibt aber aktuell.
Die Belegschaft der Danziger Lenin-Werft zeigte sehr viel Mut, als sie am 14. August 1980 die Arbeit niederlegte. Streiks waren in den kommunistischen „Arbeiterstaaten“ verboten, und ein Vorgehen gegen die Politik der Machthaber wurde nicht geduldet. Viele der Streikenden konnten sich noch an die Arbeiterproteste erinnern, die zehn Jahre zuvor in Danzig und anderen polnischen Küstenstädten blutig niedergeschlagen worden waren. Die Bilanz: 41 Tote, 1.164 Verletzte, über 3.000 Verhaftete.
Noch bemerkenswerter als die Entscheidung der Werftarbeiter, trotz dieser blutigen Lektion zu streiken, waren ihre Postulate. Sie zielten nicht vorrangig auf die Verbesserung der eigenen materiellen Lage ab, vielmehr ging es um die Wiedereinstellung von Anna Walentynowicz – einer Kollegin, die sich für die Verbesserung der katastrophalen Arbeitsbedingungen in der Werft eingesetzt hatte und deshalb entlassen worden war. Ein Streik aus Solidarität also, dessen Preis für die Teilnehmenden sehr hoch werden konnte.
Lenin-Werft war Zentrum des Geschehens
Das diesmal kein blutiges Szenario folgte, und der Protest mit einem historischen Erfolg endete, war vor allem der massiven Unterstützung zu verdanken, die die Streikenden sehr schnell im In- und Ausland erfuhren. Schon am nächsten Tag, dem 15. August, schlossen sich andere Danziger Arbeitsstätten der Lenin-Werft mit Solidaritätsstreiks an. Ende August streikten im ganzen Land fast 800 Betriebe mit etwa 750 000 Personen. Sie formulierten eigene Forderungen, erklärten sich aber vor allem mit Danzig solidarisch.
Eine Zerreißprobe erfuhr die entstehende Solidaritätsbewegung dann schon am 16. August, als die Machthaber die Forderungen der Lenin-Werft weitgehend erfüllten. Nur mit Mühe konnten die Anführer die Belegschaft dafür gewinnen, den Streik so lange fortzusetzen, bis auch die Forderungen der anderen Betriebe erfüllt würden. Dank dieser Entscheidung blieb die Lenin-Werft bis zum Ende der Streikwelle das Zentrum des Geschehens, und der Streikanführer, Lech Wałęsa, wurde zur Leitfigur der ganzen Bewegung.
Kommunistische Regime greift nicht durch
In den nächsten Stunden formulierte das in der Lenin-Werft versammelte Zwischenbetriebliche Streikkomitee 21 Forderungen, für die nun alle beteiligten Betriebe in ganz Polen solidarisch eintraten. Manche dieser Forderungen betrafen finanzielle und soziale Fragen wie Gehaltserhöhungen oder Verbesserung der Versorgungslage, von größter Brisanz aber waren die politischen Forderungen: Zulassung von unabhängigen Gewerkschaften, Wahrung der Meinungsfreiheit, Befreiung politischer Gefangener, Beteiligung der Gesellschaft an den politischen Entscheidungsprozessen…
Für die Machthaber waren das schwer hinnehmbare Forderungen, denn ihre Erfüllung hätte die Position der kommunistischen Partei erheblich geschwächt. Deswegen empfahl auch die sowjetische Führung den polnischen „Genossen“ ein hartes Durchgreifen, was diese jedoch ablehnten; der Massencharakter der Proteste erschwerte die Gewaltlösung genauso wie die – aus der Sicht des kommunistischen Regime – ungünstige internationale Lage.
Nach der blutigen Intervention der Sowjetunion in Afghanistan 1979 hatte der Ostblock eine schlechte Presse, und nach der Wahl des polnischen Kardinals Karol Wojtyła zum Papst im Jahre 1978 genoss Polen eine besondere Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit. Deshalb weckte die Protestwelle sofort großes Interesse im Westen, und aus vielen Ländern flossen Solidaritätsbekundungen an die Streikenden.
Regierende verpflichten sich in Augustabkommen
Das kommunistische Regime setzte daher auf Gespräche und hoffte, durch geschickte Verhandlungsstrategien die unerfahrenen Arbeiter auszumanövrieren. Dies erwies sich jedoch als schwierig, weil die Streikenden Unterstützung von polnischen Intellektuellen erhielten. Die Streikkomitees im ganzen Lande wurden von etlichen Experten beraten, die Danziger unter anderem von Tadeusz Mazowiecki und Bronisław Geremek, die später, im freien Polen, Premier- und Außenminister wurden.
Am 27. August sprach sich die polnische Bischofskonferenz für das Recht der Arbeiter auf freie Gewerkschaften aus. Die Machthaber gaben schließlich nach – vier Tage später unterzeichneten sie in Danzig eine Vereinbarung mit den Streikenden, die zusammen mit ähnlichen, in Stettin und Oberschlesien unterschriebenen Dokumenten die so genannten Augustabkommen ausmachten. Darin verpflichteten sich die Regierenden, die Forderungen der Streikenden weitgehend zu erfüllen. Im Gegenzug erhielten sie die Zusicherung, dass die neue, freie Gewerkschaft die Führungsrolle der kommunistischen Partei im Staat nicht in Frage stellen wird.
Regime verhindert Demokratisierung
Was folgte, war der sogenannte „Karneval der Solidarność“, eine Zeit der relativen Freiheit, von der die Menschen in anderen Ostblockstaaten nur träumen konnten. Kulturerzeugnisse, die früher von der Staatszensur verboten worden waren, durften nun erscheinen, wissenschaftliche und gesellschaftliche Debatten konnten fast ungehindert geführt werden, in kurzer Zeit entstanden viele zivilgesellschaftliche Initiativen.
Dies hätte früher oder später zur vollständigen Demokratisierung Polens geführt, deshalb entschied sich das Regime letzten Endes doch noch für eine Gewaltlösung; es verhängte im Dezember 1981 das Kriegsrecht, die Solidarność-Anführer wurden verhaftet, alle Proteste brutal niedergeschlagen.
Solidarność hatte Signalwirkung
Die Erosion des Systems konnte dadurch jedoch nur verlangsamt werden. Das Erwachen der Gesellschaft hatte bereits stattgefunden, und auch die Machthaber waren verunsichert, zumal sie der sich vertiefenden wirtschaftlichen Krise wenig entgegensetzen konnten. Nachdem 1988 neue Streikwellen das Land erschüttert hatten, lud das Regime die Anführer der 1981 für illegal erklärten Solidarność zum Dialog über die Zukunft ein. Als Resultat wurde am 4. Juni 1989 die erste teilweise freie Parlamentswahl durchgeführt, die den endgültigen Niedergang des realen Sozialismus in Polen einleitete.
Die Solidarność beflügelte und inspirierte die Menschenrechts- und Demokratiebewegung in anderen Ostblockstaaten, unter anderem in der DDR. So beeinflusste sie den Lauf der Dinge nicht nur in Polen, sondern im ganzen Osten des Kontinents. Dabei ging es nicht nur um die Erfolge einer gesellschaftlichen Bewegung in der Konfrontation mit dem übermächtigen Regime, sondern auch um ihre bemerkenswerten Wesenszüge.
„Besiege das Böse durch das Gute"
Das solidarische Prinzip prägte die Bewegung so stark, dass der katholische Philosoph, Józef Tischner, sie in Anspielung an das Gleichnis Jesu vom barmherzigen Samariter als „die Gemeinschaft neuer Samariter“ bezeichnete. Die Tatsache, dass sich jahrzehntelang indoktrinierte und eingeschüchterte Menschen zu einer derart mutigen und selbstlosen Haltung fähig erwiesen, war für Tischner ein Beweis für die universelle Menschenwürde und -güte.
Die Bewegung blieb konstant gewaltfrei und werteorientiert. Sie widerstand der Versuchung, mit den Peinigern abzurechnen, stattdessen richtete sie ihr Augenmerk auf die konstruktive Zukunftsgestaltung. Selbst nach der brutalen Zerschlagung der Gewerkschaft und drastischen Verbrechen an ihren einzelnen Mitgliedern, blieben die Proteste friedlich. Der eigenen Leiderfahrung begegneten die Solidarność-Mitglieder mit dem biblischen Spruch „Lass Dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege das Böse durch das Gute“.
Balance zwischen Idealismus und Realismus
Obwohl die Bewegung vom Verlangen nach Freiheit und Selbstbestimmung geprägt war, verfiel sie nicht einer naiven Radikalität, sondern blieb einer nüchternen Strategie der realistischen Ziele und kleiner Schritte treu. Die Soziologin Jadwiga Staniszkis nannte dieses Phänomen später „die sich selbst beschränkende Revolution”. Diese Strategie war ein Zeugnis der Reife und Diszipliniertheit der Solidarność-Mitglieder.
Die so ausgerichtete Bewegung setzte auf Dialog und Kompromisse und auf einen fairen Umgang mit dem Gegner. Nach dem Unterzeichnen des Augustabkommens 1980 betonte Lech Wałęsa: „Wir haben unsere Auseinandersetzung ohne Gewaltanwendung beendet, durch Gespräche und Überzeugungsarbeit ... Es ist also ein Erfolg beider Seiten“. Das Kriegsrecht im Dezember 1981 zeigte, wie hart guter Wille und Verständigungsbereitschaft von einem rücksichtslosen Gegner bestraft werden können, doch letzten Endes bestätigte die unblutige Systemtransformation 1989 die Vorzüge der Option für Dialog und Verständigung.
Breites politisches Spektrum
In der Bewegung selbst fanden sich Nationalisten, Konservative, Liberale und Linke, Christen verschiedener Konfessionen, Juden und Atheisten zusammen, die Solidarność war sogar für die Mitglieder der Kommunistischen Partei offen. Sie alle vermochten es, gemeinsame Ziele zu definieren und dafür solidarisch einzutreten, denn es war ihnen bewusst, dass große Herausforderungen nach gemeinsamem Vorgehen verlangen. Insofern bestätigte die Solidarność, dass Zusammenarbeit über alle Unterschiede hinweg möglich ist, wenn sich die Beteiligten mit Respekt und Kompromissbereitschaft begegnen.
Und schließlich: Die Anführer nutzten den Massencharakter der Solidarność nicht dazu, ihre eigene Position durch den Zuspruch der Menschenmassen zu stärken, sondern respektierten den basisdemokratischen Charakter der Bewegung, der den Mitgliedern einen breiten Raum für ihre Aktivitäten bot. Dadurch wurde die Solidarność zur Schule der zivilen Verantwortung; viele Menschen fanden dank ihr den Weg aus der Ohnmacht hin zur aktiven Mitgestaltung.
Strategie der Solidarność auch heute wegweisend
Die Option für die Solidarität, Dialog- und Kompromissbereitschaft, für die Zusammenarbeit über alle Unterschiede hinweg, die Aktivität der Zivilgesellschaft und eine gute Balance zwischen Idealismus und Realismus – dieses Vermächtnis der Solidarność ist heute erstaunlich aktuell.
Es kann zum wichtigen Wegweiser sein, sowohl in der Auseinandersetzung mit den globalen Herausforderungen, wie Hunger, Klimawandel oder Migrationen als auch im Umgang mit der Krise der liberalen Demokratie, die sich in einer zunehmender Polarisierung der Gesellschaft und im Mangel an zivilgesellschaftlichem Engagement ausdrückt.
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Die Übermächtigen kamen nicht umhin, den polnischen Papst reden zu lassen. Der schon leicht gelähmte Mann machte dem Volk Mut, während die Mächtigen erzitterten und sich verkrochen. Für mich als Atheisten war ein Papst immer eine eher lächerliche Figur, aber dieser stahlte eine unglaubliche Kraft aus.
Nach der Befreiung habe ich auch viele Polen kennen gelernt. Einer wurde nachts verhaftet und war jahrelang ohne Prozeß eingesperrt. Er ging jeden freien Tag alleine angeln, um dieses Unrecht zu verarbeiten. Das hat mich tief beeindruckt.
Ein sehr guter Artikel von ROBERT ŻUREK, er sollte in Schulen verwendet werden, um unseren Nachbarn besser zu verstehen.