- Sie wollen doch nur spielen
Dieser Tage beginnt an zahlreichen Opern- und Schauspielhäusern die Saison 2020/2021. Endlich dürfen die Theater wieder ihre Türen öffnen, die Künstler auf die Bühnen und das Publikum in die Säle. Eine normale Spielzeit aber wird das nicht.
Es war ein Bild, das in allen Medien und auf allen Social-Media-Kanälen um die Welt ging: Der Zuschauerraum des Berliner Ensembles, in dem wegen der Corona-Pandemie jede zweite Sitzreihe entfernt worden war. Wie ein äußerst schadhaftes Gebiss sah das aus der Vogelperspektive aus, mit den Löchern und fleckigen Leerstellen im Boden. Das soll die Zukunft der Theater, der Opernhäuser, der Konzertsäle sein? Zuschauer auf Sicherheitsabstand mit dem Mantel über der Lehne, weil die Garderoben geschlossen sind, denen die vorab bestellten Getränke an den Platz gebracht werden, weil das Buffet nicht öffnet, damit sich keine Menschenansammlungen bilden?
Natürlich ist Theater unter solchen Umständen möglich, aber ist es dann auch schön? Macht es Spaß, regt es an, verführt es zum Denken, Fühlen, Mitleiden, Lachen – oder sitzt allen Beteiligten ständig die Angst vor einer möglicherweise tödlichen Infektion im Nacken? Und wenn man sie kurz vergessen hat, erinnert das Gesicht des Nachbarn wieder daran, das gleich nach dem Aufstehen unter einer „Alltagsmaske“ oder einem „Mund-Nasen-Schutz“ weiträumig verborgen wird? Werden sich die Zuschauer, zu denen verlässlich die Risikogruppe 60+ als zahlende Stammkundschaft gehört, bei so vielen Vorsichtsmaßnahmen auf Theaterbesuche wie in einem Hochsicherheitstrakt einlassen wollen? Und wie wird es für die Schauspielerinnen und Schauspieler sein, vor bestenfalls halbvollen Sälen aufzutreten?
Immer volles Risiko
Oliver Reese, Intendant des Berliner Ensemble, sagte fast euphorisch im Mai, als die Stühle weggeschafft wurden, um statt 700 nur noch 200 Zuschauern Platz zu bieten: „Ein Schauspieler spielt immer mit vollem Elan und Risiko, selbst wenn unten nur achtzig Leute sitzen! Es wird sich bestimmt auch eine neue Wertschätzung dafür bilden, wie kostbar jeder Sitzplatz ist. Denn es gibt dann im Lande weniger Häuser, die spielen, weniger Vorstellungen, weniger Plätze. Theatertickets werden in Berlin der heiße Scheiß sein!“
In Sachen Optimismus steht ihm Barrie Kosky in nichts nach. So meinte der in Australien geborene Intendant der Komischen Oper Berlin im Juni: „Der Schmerz und der Schock über Corona sind vorbei, wir haben eine Verpflichtung, kreativ zu sein.“ Und zum geschrumpften Platzangebot: „344 Menschen, that‘s besser wie nix!“ Zwei Worte sind auf seine Anordnung an der Komischen Oper inzwischen verboten: „Reduziert“ und „Klein“. Natürlich, denn genau darauf wird es hinauslaufen: Wegen der geltenden Abstandsregeln ist das Sitzplatzangebot dramatisch reduziert und das künstlerische Angebot wegen der schwierigen Arbeitsbedingungen verkleinert. Dafür wird der organisatorische Aufwand enorm anwachsen: Die personalisierten Eintrittskarten müssen vorab bestellt werden, samt Namen, Adresse, Telefon, E-Mail.
Mehr Beinfreiheit
„Bringen Sie bitte Ihren Personal-ausweis zur Vorstellung mit!“, empfiehlt etwa das Hans-Otto-Theater Potsdam, und weiter: „Wenn Sie sich krank fühlen oder Symptome einer Erkältungskrankheit aufweisen, sehen Sie bitte vom Vorstellungsbesuch ab.“ Das verheißt immerhin schon einiges: Mehr Beinfreiheit, kein Husten und Niesen im Saal, wie sonst oft im Herbst und Winter. „Wenn sich jemand den Arm bricht, geht er zum Arzt, wenn er eine Erkältung hat, ins Theater“, scherzten bisher leidgeprüfte Abonnenten. Und vielleicht wird wegen der Aerosole auch auf den Bühnen weniger herumgebrüllt und losgesabbert?
Nach fünf Monaten Zwangspause blühen im ganzen Land die Hoffnungen. Das Thalia Theater Hamburg hat sein aktualisiertes Spielzeitheft grün umgestaltet („Farbe der Hoffnung“). Der Intendant Joachim Lux erklärt darin zum Schweigen, das durch die Dominanz des Virus den öffentlichen Diskurs lahmlegte: „Das Theater kann einen Beitrag leisten, das Schweigen zu durchbrechen, wieder sprechen zu lernen und Themen selbst zu setzen.“
Endlich wieder echtes Publikum
Nach all den digitalen Ausweichangeboten, nach den Aufzeichnungen und Streamings ist landauf, landab die Lust zu spüren, endlich live auftreten zu können, vor echtem Publikum, auf der echten Bühne, mit echten Menschen da wie dort. Burkhard C. Kosminski, Intendant des Schauspiels Stuttgart, zitiert aus David Grossmans „Corona-Tagebuch“, in dem der von einer neuen Menschlichkeit träumt. Völlig konträr hingegen schätzte Michel Houellebecq die Zeiten nach Corona ein – seiner Meinung nach werden sie nicht anders, nur schlimmer sein.
„Wir versuchen, dem Wunsch zu widerstehen, es möge doch bitte bald wieder so werden wie vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie“, betont Barbara Mundel, die neue Intendantin der Münchner Kammerspiele, die sich ihren Amtsantritt natürlich auch erfreulicher vorgestellt hatte. Nicht unvorbereitet zeigt sich freilich Sonja Anders, Intendantin des Schauspiel Hannover, die vorschlägt, sich nichts vorzumachen: „Die Welt befindet sich ohne Zweifel schon länger in einem krisenhaften Zustand“, sei es hinsichtlich der Klimawandels oder des sozialen Ungleichgewichts. Ein bisschen Stoff im Gesicht und ein paar Meter Abstand werden da nicht wirklich helfen.
Bald kann schon alles anders sein
Die je nach Bundesland variierenden Hygiene- und Abstandsregeln sind ausführlich, weisen auf Belüftungsmaßnahmen und Desinfektionsspender hin, auf Wegeleitsysteme („Einbahnstraßensystem“) beim Ein- und Auslass, und auch auf das Provisorium, das sie in Summe darstellen. Denn niemand weiß, wie die Infektionssituation in zwei, drei Monaten sein wird. Dann kann wieder alles anders sein. Die Salzburger Festspiele, der Eisbrecher in Sachen Live-Theater-Oper-Konzert in diesem Jahr, scheinen mit ihren strengen Vorgaben ohne Risiko für Künstler und Besucher ihre vierwöchige Jubiläumssaison bewältigt zu haben. Dass diese so stattfinden konnte, ist ein Zeichen für Mut, Entschlossenheit und konzeptuelle Souveränität. Wird sich dieses Vorgehen auf andere Bühnen übertragen lassen? Da entwirft man die Spielpläne derzeit mehr oder weniger monatsweise, fährt konzeptuell auf Sicht, je nach Entwicklung der Lage im Lande.
Und dann war da noch Christian Stückl, Intendant des Münchner Volkstheaters und Regisseur der Oberammergauer Passionsspiele, die ins Jahr 2022 verschoben wurden, der schon seit langem sagt: „Über was lacht Gott? Über Planung!“ Nun ja. Die Lehren der Corona-Pandemie werden offenbar in der Schule der Geläufigkeit erteilt, Flexibilität für den Moment ist der Taktgeber: Hier und heute, ganz und gar. Aber war denn Theater je etwas anderes? In diesem Sinne: Vorsicht ist gut, Vorfreude ist besser.
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ist der erste Konzert- oder Theaterbesuch etwas ganz Besonderes!
Ich habe vor etwa einer Woche selbst erlebt, wie mitreißend es ist, Musik hören zu dürfen, die unmittelbar vor einem auf der Bühne von Menschen produziert wird und nicht von einer CD kommt.
Im stilvoll renovierten Kursaal von Bad Honnef konnte ich Kammermusik von Beethoven, Sausson
und Brahms genießen.
Ich wünsche allen Arbeitern im Weinberg der Kunst
viel Erfolg bei ihren Bemühungen, das kulturelle Leben in Deutschland wieder in Gang zu setzen.
Denn: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein!
Bedauerlich für die Künstler und alle , welche an einer Aufführung mitarbeiten. Der Sohn einer meiner Freundinnen ist auch betroffen. Da ist schon viel Optimismus gefragt. Und wenn eine Hoffnung blüht, ist es den Leuten zu gönnen.
Theater wird erst wirklich, wenn das Publikum innerlich mitspielt. (Hermann Bahr)