- Umblättern in Umbruchszeiten
Die Beschleunigung nimmt immer weiter zu. Wer Bücher liest, kann dennoch zur Besinnung kommen. Wer zwischen den Jahren buchstäbliche Besinnlichkeit sucht, dem empfehlen wir als Redaktion in diesem Jahr folgende Bücher
Wirres Knäuel Naher Osten
Es gibt Sachbücher, bei denen der Autor seine Expertise nurmehr einsetzt, um zu beeindrucken. Sie bringen dem Leser wenig, außer das unangenehme Gefühl, zu dumm zu sein, um zu begreifen, was dieser kluge Mensch da auf vielen hundert Seiten ausbreitet. Deutsche Historiker neigen zu solchen Büchern. Ganz anders das neueste Werk des französischen Arabisten Gilles Kepel. Er schafft es mit sprachlicher Eleganz und inhaltlicher Präzision, das wirre Knäuel des Nahen Ostens und Nordafrikas zu entflechten. Mit einem Mal versteht man die großen Zusammenhänge des muslimischen Raumes, wie diese Region in den vergangenen 40 Jahren zum zentralen Krisenherd der Welt wurde, welcher monströser Fehleinschätzung die USA unterlagen, als sie in Afghanistan die Gotteskrieger gegen die Sowjetunion unterstützen, damit den Islamismus heutiger Prägung mit herbeiführten. Wie sich nach dem missglückten Arabischen Frühling die radikalen Kräfte in beinahe allen betroffenen Ländern (bis auf Tunesien) breit machten. Alles in spürbarer Empathie, aber ohne jede Verklärung geschrieben. Ein Meisterwerk. Ein Augenöffner. Für mich das Buch des Jahres 2019. (Christoph Schwennicke)
Gilles Kepel: Chaos - Die Krisen in Nordafrika und im Nahen Osten verstehen, 448 Seiten, 28 Euro, Verlag Antje Kunstmann, München 2019
Demokratien in der Defensive
Als die Berliner Mauer fiel und sich kurze Zeit später fast alle kommunistischen Regime des sogenannten Ostblocks wie in Luft auflösten, schien die Sache klar: Dem liberalen „Westen“ gehört nicht nur die Zukunft, er ist praktisch auch alternativlos. Drei Jahrzehnte später zeigt sich: Das war naives Wunschdenken. Demokratien im hergebrachten Sinne stehen heute in der Defensive, Autokraten wie Donald Trump, Wladimir Putin oder Chinas Staatschef Xi Jinping dominieren die Weltpolitik. Und innerhalb der EU sind es insbesondere ex-kommunistische Staaten Mitteleuropas wie Ungarn oder Polen, die sich dem linksliberalen Mainstream vehement widersetzten. Wie es dazu kommen konnte, analysieren in diesem Buch der bulgarische Politologe Ivan Krastev und der amerikanische Jura-Professor Stephen Holmes. Man muss nicht jede ihrer Thesen teilen. Aber um zu verstehen, wie es zu den massiven politischen und gesellschaftlichen Verschiebungen kommen konnte, ist „Das Licht, das erlosch“ überaus hilfreich. (Alexander Marguier)
Ivan Krastev, Stephen Holmes: Das Licht, das erlosch, 368 Seiten, 26 Euro, Ullstein, Berlin 2019
Eulenspiegel und Joker
Kaum einer, der sie nicht kennt, die Figur des Till Eulenspiegel. Daniel Kehlmann nutzt den „Tyll“ als Kunstfigur und verlegt ihn (ahistorischerweise) in die Zeit des 30-jährigen Krieges. Der Protagonist ist Zeuge und Teilnehmer einer Welt, in der das Auslöschen eines Menschenlebens, auch mal eines ganzen Dorfes, eine kaum beschreibenswerte Lappalie ist. Tyll führt diesen Menschen mit seinen Streichen ihre Dumm- und Eitelkeit vor und macht sich vom Acker, während sie übereinander herfallen. Ein paar Monate später, im Kino sitzend, den vielgelobten Film „Joker“ von Todd Phillips schauend, musste ich wieder an Tyll denken: Beide, von der Brutalität und Unmenschlichkeit ihrer Gesellschaft gezeichnet, (ver)führen diese mit ihren Streichen ad absurdum. Im übrigen: sprachlich und erzählerisch viel stärker als „Die Vermessung der Welt“, mit dem Kehlmann berühmt wurde. (Moritz Gathmann)
Daniel Kehlmann: Tyll, 480 Seiten, 12 Euro, Rowohlt, Hamburg 2019
Hysterie und Hybris
In diesem Leben werden Greta Thunberg und Henryk M. Broder keine Freunde mehr. Auch „Luisa Neubauer und ihre hüpfenden Fruchtzwerge“ haben schlechte Karten im neuen Buch des Großironikers der kleinen Form. „Wer, wenn nicht ich“ ist das Protokoll einer zweifach zerrütteten Beziehung. Sowohl von diesem seltsamen Deutschland als auch vom seltsameren deutschen Fernsehen kann und mag Broder nicht lassen, so sehr es auch schmerzt. Bereits als Chronik fortlaufenden Debattenunsinns wäre das Brevier verdienstvoll genug. Noch einmal werden wir Zeuge der schönsten verbalen Entgleisungen von Heiko Maas, Marietta Slomka und Heinrich Bedford-Strohm. Beispielsweise. Darüber hinaus ist „Wer, wenn nicht ich“ das bittere Fazit einer lebenslangen Arbeit am Gedanken – zugunsten jener geistigen Freiheit, in der allein er gedeiht. Nun sieht Broder einen „Totalitarismus der Besorgten“ am Horizont, organisierte Unfreiheit im Namen einer vermeintlich guten Sache, abermals. Während die Deutschen sich mit dem Antisemitismus, zumal dem zugewanderten, arrangiert hätten, treibe der „Klimaschutz“ sie in die nationale Hybris. Die sich dann, gut deutsch, hysterisch austobe. Die „Bundesklimakammer“ warte schon auf den „Klimaschädling“. Das sind gallige Töne. Doch schon Lessing wusste: „Wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verliert, der hat keinen zu verlieren.“ (Alexander Kissler)
Henryk M. Broder: Wer, wenn nicht ich, 200 Seiten, 24 Euro. Achgut Edition, Berlin 2019
Was Macht macht
Der ersten Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland wird gerne nachgesagt, sie sei viel weniger eitel als etwa ihr männlicher Vorgänger Gerhard Schröder. Der auch als Medienkanzler in die Geschichte eingegangene Sozialdemokrat suchte die Inszenierung. Die schwarz-weiß Fotos im Stern in Brioni-Anzug mit Cohiba-Zigarre in der Hand zeugen davon bis heute. Was aber ist mit Angela Merkel? Weit gefehlt, wer denkt, ihre Darstellung in den Medien sei nicht ebenso inszeniert, wenngleich auf ganz andere Weise. In einem der letzten Jahre ihrer Kanzlerschaft hat der renommierte Fotograf Andreas Herzau einen Fotoband über „AM“ herausgebracht. Es sind Bilder einer Bundeskanzlerin, geschossen zwischen 2009 und 2017, die jenseits der täglichen Fotostories wirken. In schwarz-weiß gehalten, wirken sie einerseits bereits verklärend historisch, als blättere man sich durch die Adenauerzeit. Andererseits weisen sie in die Zukunft. Denn „AM“ wird bald im wahrsten Sinne Geschichte sein. Herzaus Werk ist keine „love story“. Er zeigt die Kanzlerin sowohl strahlend als auch fahl und maskenhaft. Die Kanzlerin lehnte bei einer ersten und einzigen direkten Begegnung mit Herzau eine offizielle fotografische Begleitung durch ihn ab. Sie halte dies für nicht nötig, beschied sie ihm. Kurz nach dieser knappen Unterhaltung soll sie eingeschlafen sein. Der Blick eines Bodyguards ließ Herzau wissen: Denken Sie nichtmal dran, jetzt auf den Auslöser zu drücken. Eine schlafende Kanzlerin? Es wäre ihr womöglich als Schwäche ausgelegt worden. Inszenierung funktioniert eben auch durch Auslassung. Herzau lässt sich darauf ein. (Bastian Brauns)
Andreas Herzau: AM, 55 Bilder auf 96 Seiten, 32 Euro. NIMBUS Verlag, Wädenswil 2018
Eine Warnung
Die Hölle, das ist ein großer, leerer Raum. Ein Wasserhahn, der unablässig tropft, mehr gibt es dort nicht. Und eine Gruppe halb verdursteter Männer, die sich noch nicht trauen, ihn aufzudrehen, weil auf einem Schild „Trinken verboten steht.” Das Wasser schmeckt modrig, es ist verunreinigt. Wer es trinkt, könnte sterben. Dies ist das KZ Auschwitz, und zu sterben, ist hier für viele keine Strafe, sondern eine Erlösung. Primo Levi war 24, als er hier interniert wurde, ein italienischer Chemiker, der sich den Partisanen angeschlossen hatte. Er hat die Hölle erlebt und überlebt. Wie er das geschafft hat, erzählt er in dem 1947 erschienenen Buch „Ist das ein Mensch?” Der amerikanische Schriftsteller Philip Roth hat dieses Buch zum notwendigsten Buch des 20. Jahrhunderts erklärt. Das ist nicht übertrieben. Jetzt, da die letzten Überlebenden des Holocausts sterben und Antisemitismus wieder erwächst, liest es sich wie eine Warnung. Dabei kommt es ohne Selbstmitleid aus, das macht dieses Buch so besonders. Primo Levi spricht über sich selbst wie über eine dritte Person. Erst diese Distanz ermöglicht es ihm, das Monströse in Worte zu fassen. Was bleibt übrig, wenn aus einem Mensch eine Nummer geworden ist? Er ist immer noch ein Mensch. Wieviel Kraft ihn das kostet, zeigt dieses Buch mit atemberaubender Sachlichkeit. (Antje Hildebrandt)
Primo Levi: Ist das ein Mensch?, 208 Seiten, 9,90 Euro Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1992
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Tolle Buchempfehlungen - eins wie´s andere. Aber keines wirkt auf mich aufbauend oder optimistisch. Da kann ich mir ja gleich einen Sarg suchen und den Deckel persönlich zumachen. Mag sein, dass es hilft, die Dinge zu verstehen, aber wenn ich sie nicht ändern kann, fühle ich mich maximal hilf- und schutzlos. Haben Sie auch Humor im Programm? Und sei es Schwarzer? Damit ich wenigstens über das Leben im allgemeinen und die Welt im speziellen lachen kann?
Nachdem ich mit Vergnügen. "Die Vermessung der Welt" von Kehlmann las, war klar, dass ich von ihm mehr lesen wollte. Als vor ein paar Jahren "Tyll" erschienen ist, hoffte ich auf ein ähnlich gut geschriebenes Werk. Leider wurden meine Hoffnungen enttäuscht. Wer wirklich interessante Literatur über den Dreißigjährigen Krieg lesen möchte sollte sich an den alten Grimmelshausen und seinem Simplizissimus halten.