Der demokratische Vizepräsidentschafts-Kandidat Tim Walz findet die Republikaner „just weird“ / dpa

Kulturkampf - Amerikas ziemlich schräger Kreuzzug

Evangelikale TV-Prediger in den USA sind überzeugt, Gott nutze auch Sünder wie Trump für sein himmlisches Werk. Das progressive Amerika hat eine nicht weniger bizarre Vorstellung vom Paradies.

Autoreninfo

Andreas Schwenk studierte Politik- und Kommunikations-
wissenschaften. Für die FDP leitet er seit 2015 den 
Landesfachausschuss für Europa, Internationales und Verteidigung in NRW. 

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In einer britisch-kolonial anmutenden Stadt im nordamerikanischen Neu-England gehen zwei Frauen aus verschiedenen Richtungen kommend den Bürgersteig entlang. Beide tragen lange rote Kutten bis zu den Knöcheln und weiße Hauben mit Sichtschutz auf dem Kopf. Ihre Blicke sind gen Boden gesenkt. Als sich ihre Wege kreuzen, halten sie kurz inne. „Gesegnet sei die Frucht“, flüstert die eine unsicher. „Unter seinem Auge“, murmelt die andere leise. Sie gehen weiter. Im Hintergrund wischen derweil drei junge, schwarz gekleidete und bewaffnete Männer hastig Blut von einer Mauer, an der Vortags noch eine Hinrichtung wegen Gotteslästerung stattgefunden hatte. 

Diese verstörend dystopische Szene aus dem 1985 von der kanadischen Schriftstellerin Margaret Atwood und 2017 durch Netflix in eine Streaming-Serie verwandelten Buch „The Handmaid’s Tale“ (deutsch: Der Report der Magd) treibt einen amerikanischen Kulturkampf auf die Spitze. In dem Buch existieren die Vereinigten Staaten von Amerika nach einem von fundamentalistischen Evangelikalen verübten Staatsstreich nicht mehr. Das Land heißt jetzt Gilead (ursprünglich ein biblisches Land östlich des Jordan; Genesis, Kapitel 31). Seine Staatsform ist die christliche Theokratie – der Gottesstaat. Die beiden sich auf der Straße begegnenden Frauen heißen „des Fred“ und „des Warren“, sind Eigentum von zwei mächtigen gottesfürchtigen Männern im Staate, die ihre Mission darin sehen, das Evangelium in die Welt zu tragen. Sie tun dies – auch mit Gewalt – gegen den Willen Anders- oder Nichtgläubiger, denn mit Gott auf ihrer Seite ist alles erlaubt. 

Die Bücherverbannung 

Eine (un)bewusste Analogie zu diesem dystopischen Roman erweckte der demokratische Gouverneur von Minnesota und jetzige Vize von Kamala Harris, Tim Walz, kurz nach Präsident Bidens angekündigtem Rückzug von seiner erneuten Präsidentschaftskandidatur. Im Frühstücksfernsehen des US-Senders MSNBC redete er davon, dass Donald Trump und die Republikaner „just weird“ (einfach schräg) seien. Sie würden einem sogar vorschreiben wollen, welche Bücher man in Schulen lesen darf. Walz bezog sich damit auf einen Vorgang, der 2020 seinen Anfang in dem 30.000-Seelenort Southlake in Texas fand. Dort beschloss eine Elterninitiative zusammen mit der lokalen Schulbehörde („school board“), gegen rassistische Vorfälle auf dem Schulhof vorzugehen. Mit einer Bildungsinitiative über die amerikanische Geschichte und das Verhältnis der diversen in den USA lebenden Ethnien wollten sie dem Rassismus begegnen. Dies wiederum rief eine konservative Lobbygruppe namens Southlake Families PAC auf den Plan. Anstatt Kindern in der Schule einzupflanzen, dass Amerika aufgrund seiner Vergangenheit der Sklaverei schlecht sei, solle man sie lieber zu stolzen Amerikanern erziehen. Darüber hinaus hätten Sexualkunde oder gar die Evolutionstheorie in Lehrplänen sowieso nichts verloren. Stattdessen sollten Moral und Anstand, christliche Werte und Patriotismus vermittelt werden. 

Solche PACs („political action committees“) spielen in den USA eine immer größere Rolle. Sie unterstützen politische Wahlkämpfe mit eigenen Kampagnen parallel zum Kandidaten. Seit einem Urteil des Obersten Gerichtshofs von 2010 dürfen sie unbegrenzt Geld annehmen und müssen die Spender dahinter meist nicht offenlegen. In Southlake war das deswegen entscheidend, weil die Mitglieder amerikanischer school boards in den meisten Fällen von den Menschen in den Schulbezirken gewählt werden. Southlake Families PAC bekam finanzielle Unterstützung konservativer Großspender und verhalf so favorisierten Kandidaten zu einer Mehrheit im school board. Die Bildungsinitiative gegen Rassismus scheiterte, und das sogenannte „Southlake Playbook“ entstand als Anleitung für Nachahmer im ganzen Land. 

Als Konsequenz wurden in den ersten sechs Monaten des Schuljahres 2023/2024 in 52 Schulbezirken aus 23 US-Bundesstaaten über 4000 Bücher aus den Lehrplänen entfernt. Laut einer Studie der Rand Corporation von 2023 schränken mittlerweile 80 Prozent der Lehrer aus den betroffenen Schulbezirken Diskussionen im Klassenzimmer über Politik oder gesellschaftliche Probleme aus Angst vor negativen Konsequenzen für die eigene Karriere ein. 

Ein Urteil spaltet die Nation 

In diesem amerikanischen Kulturkampf geht es aber nicht nur um Schulbücher. Seit dem Urteil des Obersten Gerichtshofs von 2022, das das bundeseinheitliche Recht auf Abtreibungen kippte, hat sich der Kulturkampf noch einmal verschärft. In der 1973 gefällten Grundsatzentscheidung „Roe v. Wade“ erklärte der Supreme Court, dass Abtreibungen unter das im „due process clause“ des 14. Verfassungszusatzes garantierte Recht auf Privatsphäre einer Frau als Teil ihrer individuellen Freiheit falle. Der Oberste Gerichtshof hob dieses Urteil 49 Jahre später wieder auf. In der Urteilsbegründung erläuterten die Richter, dass das Wort „Abtreibung“ nirgends in der US-Verfassung explizit Erwähnung finde und somit auch nicht von dieser geschützt werden könne. Damit etwas auch ohne Erwähnung geschützt werde, müsse es „tief verwurzelt in der Geschichte und den Traditionen der Nation“ sein. Abtreibung sei dies nicht. 

Der Zeitpunkt des Urteils war kein Zufall. Die parlamentarische Versammlung des Bundesstaates Mississippi hatte 2018 ein neues Gesetz verabschiedet, das Abtreibungen nach der 15. Schwangerschaftswoche verbot. Dies stand dem bundeseinheitlichen Standard der 24. Schwangerschaftswoche entgegen, der 1992 in dem Fall „Planned Parenthood v. Casey“ vom Obersten Gerichtshof festgelegt worden war. Die einzige Abtreibungsklinik in Mississippi verklagte daraufhin den Gesundheitsminister des Bundesstaates im Fall „Dobbs v. Jackson Women’s Health Organization“. Von Anfang an war es der Plan der Initiatoren des Gesetzes, eine Klage zu provozieren und es durch die gerichtlichen Instanzen bis zum Supreme Court hochzutreiben. Sie gingen nämlich davon aus, dass Präsident Trump (2016–2020) drei neue konservative Richter während seiner Amtszeit werde benennen können. Vor dem Obersten Gerichtshof, so die Kalkulation der Initiatoren aus Mississippi, werde eine konservative Mehrheit der Richter die Verfassungskonformität des Gesetzes bestätigen und gleichzeitig „Roe v. Wade“ kippen. 

Genauso kam es. Trump nominierte während seiner Amtszeit die drei konservativen Richter Neil Gorsuch, Brett Kavanaugh und Amy Cony Barrett, und „Roe v. Wade“ fiel. Seit dem Urteil kann jeder US-Bundesstaat mangels bundeseinheitlicher Regelung seine eigenen Abtreibungsgesetze festlegen. Das hat bisher dazu geführt, dass 14 Bundesstaaten Abtreibungen komplett verboten und weitere acht sie eingeschränkt haben. 

Ein in Vergessenheit geratener und von Liberalen als „Zombie-Gesetz“ bezeichneter Gesetzestext gießt noch mehr Öl ins Feuer. Der „Comstock Act of 1873“ untersagt nämlich der amerikanischen Post‚ „obszönes Material“ in Briefen oder Paketen auszutragen. Laut einer Interpretation des republikanischen Kandidaten für die Vize-Präsidentschaft, J.D. Vance, und einer Erwähnung im kontroversen „Project 2025“ der konservativen Heritage Foundation fallen auch Abtreibungsmedikamente darunter. Einige Online-Apotheken haben bereits reagiert und bieten den Versand dieser Medikamente nicht mehr an. 

Die Demokraten laufen Sturm 

Die Demokraten laufen landesweit Sturm gegen diese Entwicklung. In einer Ansprache am 24. Juni 2022 nannte Präsident Biden die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs einen „tragischen Fehler“ und die „Realisierung einer extremen Ideologie“. Es sei ein trauriger Tag für Amerika. Wenig später entschieden sich vier US-Bundesstaaten dazu, das Recht auf Abtreibung in ihre Landesverfassungen aufzunehmen. Am meisten Aufmerksamkeit bekamen dafür Kansas und Michigan, deren Einwohner 2016 und 2020 (im Falle Michigans nur 2020) bei den Präsidentschaftswahlen mehrheitlich republikanisch votierten. In Volksabstimmungen über die Frage der Abtreibung nahm die dortige Bevölkerung dennoch eine progressive Haltung ein. 

Das erkannte auch die Trump-Vance-Kampagne und ruderte jüngst zurück. Man wolle sich nicht für ein bundeseinheitliches Verbot von Abtreibungen einsetzen. Es bleibe eine Entscheidung der Bundesstaaten. 

Im Wahlkampf für die Präsidentschaftswahl 2024 bekam jetzt ein durch eine progressive PAC produziertes Video große Aufmerksamkeit. Schlagkräftige und gut durchfinanzierte Lobbygruppen gibt es in den USA nämlich nicht nur unter Konservativen. Die progressiven unter ihnen verstehen auch einiges vom Geschäft. „Won’t PAC down“, so der Name der Gruppe, nutzte den schrägen Kommentar von Tim Walz aus dem MSNBC-Frühstücksfernsehen für die Produktion und Verbreitung eines Videos, das durch die Decke ging. Es zeigt auf gruselig schräge (weird!) Art und Weise klischeehaft alte, weiße Männer. Die Männer erzählen, dass, nachdem man(n) Abtreibung illegal gemacht habe, nun auch der Konsum von Pornografie überwacht werden solle. Sex abseits des Gedankens der Fortpflanzung sei eine Sünde. Abschließend verkünden die Männer im Video, alle im November wählen zu gehen, und blicken finster in die Kamera. 

Das Video avancierte seitdem unter Demokraten zu einer Art Schlachtruf gegen den vermeintlichen evangelikalen Kreuzzug. Tim Walz wurde damit zu mehr als einem „alten weißen Mann“ mit progressiven Ideen und somit einer wichtigen Balance zur eher zentristisch-moderaten woman of color Harris. Der Erfolg seiner (un)bewussten Analogie im US-Frühstücksfernsehen verhalf ihm am Ende sogar dazu, auf das Harris-Ticket zu kommen. Sollten Kamala Harris und Tim Walz die Wahl tatsächlich gewinnen, wird sicherlich nicht das Paradies im Weißen Haus auf sie warten. Ein so gespaltenes Land wieder zusammenzuführen, wird eine höllisch schwere Aufgabe.

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Tomas Poth | Di., 3. September 2024 - 13:53

Wie kann man/frau sich eine Abtreibung zumuten wollen? Werdendes Leben ist doch Leben, es ist Mutter und Vater schutzbefohlen.
Warum diese Mißachtung des Lebens?

Henri Lassalle | Di., 3. September 2024 - 14:10

überragende Rolle, eine Tatsache, die auch ein(e) Präsidentschaftskandidat(in) unbedingt beachten muss. Trump macht dies auf eine peinlich gekünzelte Art bei den Evangelikalen, obwohl er nur einen Gott kennt, aber dies mit fester Überzeugung: Mammon.
Die religiösen Gruppen kehren zum Seinsgrund der Religion zurück: Um heterogene Gruppen zu bilden, die bestimmte Ansichten, Überzeugungen und damit auch handfeste Interessen vertreten und von der übrigen Gesellschaft abgrenzen.
Die USA sind nicht nur ein gespaltenes, sondern fraktioniertes Land. Und das wird auch so bleiben, Harris oder nicht Harris.

Chris Groll | Di., 3. September 2024 - 18:34

Der 60-jährige Walz (Vizepräsidentschaftskandidat von Harris) hat sich in Minnesota einen Namen gemacht, als er 2023 ein Gesetz verabschiedete, das das Recht auf Abtreibung und „reproduktive Gesundheitsfürsorge“ festschreibt. Eine Frist für Abtreibungen wird im Gesetz nicht genannt. Damit sind Abtreibungen bis zur Geburt möglich. 

Der "Protect Reproductive Options Act", sieht ein Recht auf straffreien Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen, Verhütung und Sterilisation vor. "Aber das Schlimmste ist, dass es im Grunde die Abtreibung während der gesamten Schwangerschaft bis zum Ende erlaubt", so der Bischof Robert Barron.. "Und wenn ein Kind eine verpfuschte Abtreibung irgendwie überlebt, verbietet man jetzt sogar den Versuch, das Leben des Kindes zu retten."
Das ist kommunistische Politik.
Die heutigen Demokraten sind verkappte Sozialisten. Und wie alle Sozialisten/Kommunisten GOTTLOS.

Hans Lauer | Mi., 4. September 2024 - 09:48

"Ein so gespaltenes Land wieder zusammenzuführen, wird eine höllisch schwere Aufgabe."

Ich habe gar nicht den Eindruck, dass das auf der Agenda der linkesten Kandidatin steht, die die USA jemals gehabt haben. Ganz im Gegenteil. Mehr von dem, was die USA jetzt schon spaltet. Mehr Wokeness, mehr Eingriffe in die Wirtschaft, mehr Einwanderung....
Ich bin mir da nicht so sicher, integrative Kräfte zu sehen. Und damit werden die USA noch mehr ein Pulverfass.

Ronald Lehmann | Mi., 4. September 2024 - 20:56

die fmp. eine funtamentale wie ergreifende wie wachrüttelnde Rede über das Christentum Europas

was sich in meiner Wahrnehmung zu Gunsten des ISLAM sich rasant & unwiderruflich in Auflösung befindet 😭😭😭😭😭😭

da die westlichen linksfaschistischen Kreise in meiner Wahrnehmung
im Gleisschritt Marsch

>> Richtung linksgedrillten Sozialismus/Bolschewismus

mit GRÜN-Abstrich, der besondere
> ein Strich-kein Strich
> der ultimative Fassaden-Anstrich
als Gutmensch-Farbe gedacht

Ja, lieber Tilo
Westeuropa hat
GEPLANTEN SUIZID vollzogen
IRREVERSIBEL

Ausgang UNGEWISS
aber OHNE GOTT-VERTRAUEN kaum Aussichtsvoll 😢