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Agenda 2010 - Was Europa von Deutschland lernen kann

Noch 1999 galt die Bunderepublik als Sanierungsfall in Europa. Heute schauen die europäischen Nachbarn auf Deutschland als Vorbild, wie man Krisenstaaten modernisiert

Autoreninfo

Klaus F. Zimmermann ist einer der renommiertesten Makroökonomen Deutschlands und Direktor des Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA) in Bonn. Er war Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin)

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Noch im Sommer 1999 beschrieb  das britische Wirtschaftsmagazin „The Economist“ Deutschland beißend als den „kranken Mann Europas“:  Verkrustungen am Arbeitsmarkt, unübersichtliche Vereinigungslasten und zu teure soziale Sicherungssysteme hatten aus dem einstigen Wirtschaftswunderland einen Absteiger im schärfer gewordenen internatonalen Wettbewerb gemacht. Der Musterknabe war zum Sanierungsfall geworden.

Gut zehn Jahre später, Ende 2011, lädt der französische Staatspräsident ausgerechnet den  deutschen Kanzler des Jahres 1999 zu sich nach Paris ein, um sich beraten zu lassen, wie man  Krisenstaaten modernisiert.

Der Gast ist Gerhard Schröder. Jener Bundeskanzler, der mit seiner Verkündung der Agenda 2010 am 14. März 2003 die wohl tiefgreifendsten Veränderungen in der deutschen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik der Nachkriegszeit eingeleitet hat: Die Agenda 2010 polarisiert bis heute das Land und kränkt seine sozialpolitische Seele. Doch Deutschland schafft mit seiner Rezeptur gegen alle Erwartungen den Wandel und steigt wieder auf zum international bewunderten Modellfall für Reformstrategien in ringsum kriselnden Euro-Staaten.

Doch was kann Europa von Deutschland wirklich lernen? Taugt die Agenda 2010 als Blaupause zur Genesung anderer? Ohne Zweifel hat jedes Land seine ganz spezifischen Bedingungen, die es zu bewältigen gilt. Insofern unterscheiden sich die institutionellen Ausgangsbedingungen und  politischen Konstellationen wie Kulturen von Land zu Land erheblich. Trotzdem gibt es strategische Politikansätze, denen kein Land ausweichen kann.

Grundsätzlich sollte man sich in Erinnerung rufen, dass auch das Reformkonzept von Gerhard Schröder keineswegs in einem „politisch luftleeren Raum“ entstanden ist, sondern in hohem Maße das Resultat komplexer internationaler Erfahrungen und Debatten darstellt. Da ist im Vorlauf zum Beispiel das Schröder/Blair-Papier vom Juni 1999 zu nennen. Es gab ferner die Beschäftigungsstrategie der OECD, die eine weitreichende Deregulierung der Arbeitsmärkte empfahl. Daneben galt die Europäische Beschäftigungsstrategie ab 1997 und die Lissabon‐Strategie der Europäischen Union, die im Jahr 2000 das Ziel formulierte,  Europa bis 2010 zur „wettbewerbsfähigsten Ökonomie der Welt“ zu entwickeln. Beide Strategien basierten nicht zuletzt auf einer sorgfältigen empirischen Analyse der Lage in den einzelnen EU-Staaten.

Nachdrücklich eingeflossen sind in das 2003 von Deutschland entwickelte Konzept Erfahrungen aus Ländern wie den Niederlanden, Dänemark, der Schweiz, Österreich oder Skandinavien, die nicht ohne Erfolg versuchten, eine aktivierende Arbeitsmarktpolitik mit den Prinzipien eines aufgeklärten  Sozialstaates zu verbinden. Diese Länder wurden im Vorfeld der Reformmaßnahmen als Vorreiter einer wirksameren Arbeitsmarktpolitik mit neuen Steuerungsformen wahrgenommen und standen auch im Mittelpunkt der Analyse bei der Gründung des IZA vor 15 Jahren.

Eine große Rolle spielte auch der globale wissenschaftliche Fortschritt bei der Methodenentwicklung in der Bewertung arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen, die es ermöglichen, die Konsequenzen des Einsatzes von Instrumenten für die Arbeitslosen mit denen zu vergleichen, die ohne solche Handlungen entstanden wären. 
 

Insofern ist die Agenda 2010 also keineswegs so „singulär“ und „deutsch“, wie sie heute rückblickend von manchen im In-und Ausland wahrgenommen wird. Angesichts dieser vielfältigen europäischen Wurzeln lassen sich ihre leitenden Erkenntnisse heute sehr wohl auch auf andere europäische Staaten übertragen – selbst wenn jedes Land politisch wie institutionell letztlich seinen eigenen Weg finden muss.

Als zielführend haben sich folgende sechs Aspekte erwiesen:
1. Flexible und international offene Arbeitsmärkte sind der wichtigste Motor für Wachstum und Wettbewerb.
2. Ein notwendiger Mentalitätswandel muss die Chancengerechtigkeit bei der Aufnahme von Arbeit in den Mittelpunkt stellen; die Begriffe „Fordern und Fördern“, und „Leistung nur gegen Gegenleistung“ kennzeichnen dabei das Spannungsfeld.
3. Vorbildcharakter hat ferner die Schaffung einer modernen Arbeitsverwaltung mit einem strikten „Monitoring“ bei der Stellensuche und verschärften Sanktionen; klaren Zielvereinbarungen; einer gemeinsamen Anlaufstelle für die Hauptproblemgruppen wie Langzeitarbeitslose. Ökomomische Anreize beeinflussen individuelles Verhalten, im Guten wie im Schlechten.
4. Unverzichtbar ist ferner eine strikte Orientierung des Instrumenteneinsatzes an den Ergebnissen strenger wissenschaftlicher Evaluationen.
5. Deutschland hat bewährte institutionelle Regelungen, die im Verbund den Arbeitsmarkt schockstabil ausrichten. Dazu das duale berufliche Ausbildungssystems, das Jugendarbeitslosigkeit im großen Stil vermeidet, flexibles Zeitmanagement (Überstundenregelungen, Arbeitszeitkonten, Kurzarbeit), Öffnungsklauseln in Tarifverträgen und eine beschäftigungsorientierte Kooperation der Sozialpartner.
6. Austerität, d.h. ein Kaputtsparen der Volkswirtschaft, ist nicht das deutsche Sanierungsmodell, allerdings aber langfristig wirksame strukturelle Reformen von Staatsbudgets und sozialen Sicherungssystemen (bzw. die Schuldenbremse in der Verfassung), die die Lohnnebenkosten senken und so das Arbeitsangebot stärken.

Eine nachhaltige Zukunftsstrategie gelingt allerdings nur auf der Grundlage einer schonungslosen Analyse der Ausgangslage. Die darauf aufbauende Therapie wirkt zudem leider nur langfristig – die Reformrendite ernten meist andere. Auch dies lehrt uns Gerhard Schröder und sein Reformminister, Wolfgang Clement.

Fazit: Die deutsche Agenda 2010 vom 14. März 2003 ist zur Bewältigung der aktuellen europäischen Probleme von heute zwar kein Drehbuch. Sie mag aber in Paris und anderswo in Südeuropa sehr wohl die Einsicht wecken, dass ausländische Erfolgskonzepte für die jeweils eigene Reformstrategie genutzt werden können. Genau so, wie es die Agenda 2010 im Jahre 2003 auch getan hat. Und die historischen Erfahrungen belegen: Ein Wandel zum Besseren ist möglich!
 

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