- 30 Jahre Stagnation der Weltwirtschaft
Der Weltwirtschaft droht Jahrzehnte lange Stagnation, sagt der Ökonom und frühere US Finanzminister Larry Summers. Seine Beschreibung der Symptome ist zutreffend, die Analyse der Ursachen sollte jedoch auf das Schuldenproblem erweitert werden
Dr. Daniel Stelter war langjähriger Partner bei der Boston Consulting Group und ist Autor des Buchs „Die Billionen-Schuldenbombe“
Die Weltwirtschaft steht vor einer jahrzehntelangen Phase der Stagnation. So prognostiziert es der frühere US-Finanzminister Larry Summers. Die Ursache dafür sieht er im Überhang an Ersparnissen, die nicht ausreichend zu Investitionen führen. Mit anderen Worten: Während die einen das Geld horten, fehlt es an anderer Stelle für sinnvolle Investitionen.
Die westlichen Volkswirtschaften erholen sich nur langsam
Sichtbar wird dieses Ungleichgewicht von Ersparnis und Investition an den anhaltenden Handelsungleichgewichten: Mit China, Japan und Deutschland als Sparer auf der einen Seite und den USA, UK und der Peripherie Europas als Schuldner auf der anderen Seite. Das steht auch hinter der Diskussion über die deutschen Außenhandelsüberschüsse. Die Folge: Der Ersparnisüberhang führt nicht zu ausreichend tiefen Zinsen, um die Investitionen zu stimulieren. Das wiederum kann die Weltwirtschaft unmittelbar in eine mehrjährige Stagnation führen.
Doch ein solcher Stillstand wäre fatal. Denn nichts kann eine überschuldete Wirtschaft weniger gebrauchen, als geringes Wachstum. Je geringer das Wachstum, desto höher die Last der Schulden und die Wahrscheinlichkeit, dass diese nicht mehr ordentlich bedient werden können. Die Wirkung auf Renten- und Sozialsysteme wäre ebenfalls verheerend. Die heute schon unerfüllbaren Versprechungen für Renten und Gesundheitsleistungen wären noch unerfüllbarer.
Auch die Empirie stützt die Argumentation von Summers: Die westlichen Volkswirtschaften erholen sich seit der Finanzkrise nur sehr langsam. Die meisten Länder liegen noch weit unter dem Trendwachstum. Nur die USA und Deutschland liegen nominal über der Wachstumsrate des Jahres 2007. Auch die zunehmende Verschuldung aller Sektoren der Krisenländer stützt diese Argumentation. Es gab keine produktive Verwendung für die Ersparnisse, also finanzierten sie den Konsum in diesen Ländern.
Verstaatlichung aller Banken?
Bereits vor der Krise lagen die Zinsen, bedingt durch den Ersparnisüberhang, auf einem unnatürlich tiefen Niveau. Sicherlich trifft es zu, dass u.a. China, Japan und Deutschland mit ihren Kapitalexporten dazu beigetragen haben, die Zinsen tief zu halten. Auch die Notenbanken haben einen erheblichen Teil dazu beigetragen – mit ihrer übermäßig aggressiven Geldpolitik.
Was also tun? Die Lösungsvorschläge liegen auf der Hand: Negative Zinsen (von der EZB schon angedacht), Anreize für Unternehmen zur Förderung von Investitionen und mehr kreditfinanzierte staatliche Investitionen.
Spiegel-Online-Kolumnist Wolfgang Münchau geht sogar noch einen Schritt weiter. Um aus der Stagnationsfalle herauszukommen, bräuchte man radikalere Lösungen: Etwa ein Ende des Bargeldes oder eine Verstaatlichung aller Banken.
Oberflächlich betrachtet stimmt diese Analyse. Aber es gibt viel tiefer liegende Gründe für diesen Ersparnisüberhang. Nur wer diese Ursachen sauber analysiert, kann auch wirkungsvolle Lösungen erarbeiten. Hier mein Versuch:
Es gibt einen Ersparnisüberhang, weil es einen Verschuldungsüberhang gibt. Allen Ersparnissen stehen per Definition auch entsprechende Vermögenswerte gegenüber. Einige davon sind Eigenkapital, bei anderen wiederum handelt es sich um Forderungen. Diese Forderungen sind entweder für den Gläubiger offen sichtbar, beispielsweise wenn er eine Staatsanleihe besitzt oder aber versteckt, wenn er eine Lebensversicherung hat (die Lebensversicherung verleiht dann wiederum die Ersparnisse, überwiegend an Banken übrigens) oder wenn er Geld auf dem Bankkonto hält (die Bank verleiht das Geld ebenfalls).
Geld ist Kredit
Dieser Zusammenhang gilt besonders in unserem Geldsystem, in dem Geld faktisch unbegrenzt vom Bankensystem geschaffen werden kann und jeder Geldschaffung letztlich eine Kreditgewährung zugrunde liegt. Denn: Geld ist letztlich nichts anderes als Kredit.
Die Dimensionen des Schulden- (und damit Forderungs-!) anstiegs sind gigantisch. Seit 1980 haben sich die Schulden von Staaten, Nicht-Finanzunternehmen und privaten Haushalten in der westlichen Welt von 160% des BIP auf mehr als 340% des BIP verdoppelt. Real, also nach Inflation, haben Unternehmen mehr als dreimal, Staaten mehr als viermal und private Haushalte mehr als achtmal so viele Schulden wie 1980.
Verschuldung ohne Folgen
Die Wirkung dieser zusätzlichen Schulden für das Wachstum der Wirtschaft hat über die Jahre deutlich abgenommen. Wuchs die Wirtschaft in den Jahren nach dem Krieg in den USA um 4,60 Dollar für jeden neuen Dollar an Krediten, sank der Effekt auf 24 Cent für den Zeitraum von 1985 bis 2000 und auf 8 Cent in den Jahren 2001-2012. Kurzum: Immer mehr Schulden hatten einen immer geringeren Effekt auf die Wirtschaft.
Ursache für diese abnehmende Wirkung von Kredit dürften zwei Faktoren sein: Erstens, ein immer größerer Anteil der Neuverschuldung floss in unproduktive Zwecke, namentlich staatlichen und privaten Konsum (Sozialleistungen, Immobilien) und zweitens, die Spekulation an den Finanzmärkten.
Mit abnehmender realer Rendite – also Wirtschaftswachstum – war es den Schuldnern nicht möglich, die Zinsen und Tilgungen wirklich zu erwirtschaften. Also haben sie ausstehende Kredite rolliert und sich das Geld für Zinszahlungen ebenfalls geliehen. Gemäß dem Wirtschaftswissenschaftler Hyman Minsky eine klassische Ponzifinanzierung. Die Folge: eine immer weiter steigende Aufschuldung.
Schulden für Wachstum
Da ein immer größerer Teil der neuen Schulden nur dazu dient, die schon bestehenden Schulden zu bedienen – bzw. die Illusion der Bedienung aufrecht zu erhalten – fällt das Wachstum der Wirtschaft auf den natürlichen ohne Kredit stimulierten Trend zurück. Anders ausgedrückt: Wir brauchen immer mehr Schulden, um etwas Wachstum zu generieren. Sobald die Schuldner wirklich versuchen, die Schulden aus Einkommen zu bedienen, sinkt das Wachstum weiter ab. Genau dieser Effekt ist seit Beginn der Finanzkrise zu beobachten.
Spiegelbildlich zu dieser Aufschuldung sind auch die Forderungen gewachsen. Die Gläubiger fühlen sich reicher, weil Bankkonten und Depots wachsen. In Wirklichkeit aber sind die Forderungen von schlechterer Qualität, weil die Schuldner immer weniger in der Lage sind, diese zu bedienen. Solange aber eine echte Bedienung nicht eingefordert wird, kann die Illusion der Werthaltigkeit aufrecht erhalten werden.
Ungleiche Vermögensverteilung
Die zunehmende Aufschuldung im System führt zudem zu einer immer ungleicheren Vermögensverteilung, weil per Definition nur Kapitaleigner von den Zinszahlungen profitieren. Damit einhergehend sinkt die Konsumneigung der Gesellschaft, weil die Sparquote der Vermögenden deutlich über dem Durchschnitt der Gesellschaft liegt und die ärmeren Schichten keinen weiteren Verschuldungsspielraum haben, um zusätzlich zu konsumieren. Damit sinkt das Wirtschaftswachstum zusätzlich.
In einem Umfeld schwachen Wirtschaftswachstums und bestehender Unwägbarkeiten ist es für Unternehmen rational, sich auf die Konsolidierung der Märkte durch Fusion und Übernahmen und die Verteidigung ihrer Margen zu konzentrieren. Die Investitionsneigung geht daher zurück. Auch Staaten investieren dann nicht mehr ausreichend, weil ihre Verschuldungskapazität erschöpft ist und sie Gefahr laufen, dass Vertrauen der Gläubiger zu verlieren.
Erwerbsbeteiligung von Frauen, längere Lebensarbeitszeit und gezielte Einwanderungspolitik
Folgt man dieser Analyse, dann wird deutlich, dass die klassische Forderung nach einer Stimulierung der privaten und öffentlichen Investitionen längst nicht mehr ausreicht. Um wirklich die Gefahr einer jahrzehntelangen Stagnation und der dann unweigerlich zu erwartenden offenen und verdeckten Konkurse von privaten und öffentlichen Schuldnern abzuwenden, brauchen wir drastischere Maßnahmen. Diese drehen sich um drei Aspekte:
1. Schuldenüberhang beseitigen
2. Wachstum stärken
3. Finanzsystem nachhaltig reformieren
Die Beseitigung des Schuldenüberhangs ist der schmerzvolle aber unvermeidbare erste Schritt zur Sanierung der westlichen Wirtschaften. Die schmerzfreien Optionen des aus dem Problem-Herauswachsens und der langsamen Rückzahlung durch die Schuldner funktionieren im heutigen Umfeld nicht mehr. Wir werden um eine Bereinigung durch Schuldenschnitte und eine Umverteilung von Gläubigern zu Schuldnern nicht herumkommen. Da beim Nichtstun jedoch ein deutlich größerer Vermögensschaden zu erwarten wäre, spricht alles dafür, lieber heute als morgen zu handeln. Der IWF wird nicht zufällig das Thema „einmalige Vermögensabgabe“ zur Lösung der Schuldenkrise in die Diskussion gebracht haben.
Zusätzlich müssen die westlichen Volkswirtschaften alles tun, um das Potentialwachstum zu steigern. Wirtschaftswachstum hängt letztlich von zwei Faktoren ab: dem Wachstum der Erwerbsbevölkerung und der Produktivität gemessen am BIP/Kopf. Angesichts der demographischen Entwicklung muss alles getan werden, das Arbeitskräftepotential zu mobilisieren: Höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen, längere Lebensarbeitszeit und gezielte Einwanderungspolitik sind die Stichworte. Auch eine Reduzierung des öffentlichen Sektors, um Arbeitskräfte für den produktiven Teil der Wirtschaft freizusetzen, ist angezeigt.
Produktiv statt konsumtiv
Um die Produktivität zu steigern, müssen Bildung und Innovation den Fokus gesellschaftlicher Investitionen darstellen, während zugleich die Investitionen in staatliche und private Infrastruktur erhöht werden müssen. Diese Forderungen sind deckungsgleich mit den oben genannten Ideen zum Umgang mit dem Ersparnisüberhang – der wie dargelegt eigentlich ein Schuldenüberhang ist – können aber erst nach einer Bereinigung des Schuldenüberhangs die gewünschte Wirkung entfalten. Negative Zinsen, die eine schleichende Entwertung von Schulden und Forderungen zum Ziel haben, wirken zu langsam und es besteht die realistische Gefahr, dass die Wirkung der Stagnation, die Wirkung negativer Zinsen übertrifft und die Schulden relativ zum Einkommen weiter wachsen, statt zu sinken.
Letztlich müssen wir unser Finanzsystem reformieren, um eine Wiederholung einer derartigen Aufschuldungssituation zu verhindern. Dies kann nur gelingen, wenn Schulden nur zu produktiven und nicht zu konsumtiven Zwecken aufgenommen werden. Dazu muss das Kreditwachstum in den einzelnen Wirtschaftssektoren streng überwacht und bei Anzeichen eines zu schnellen Anstiegs gegengesteuert werden, u.a. durch erhöhte Eigenkapitalanforderungen.
Larry Summers hat einen entscheidenden Beitrag zur wirtschaftspolitischen Diskussion geleistet. Seine Beschreibung der Symptome ist zutreffend, die Analyse der Ursachen sollte auf das Schuldenproblem erweitert werden. Wir brauchen drastische Maßnahmen, um dem Szenario der säkularen Stagnation zu entgehen. Ob die Politik sich traut?
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