- „Den, den ich finden wollte, habe ich nie gefunden”
In einem Roman erzählt Natascha Wodin von ihrer Liebe zu dem Dichter Wolfgang Hilbig und vom Sieg der Literatur über das Leben
Sie sei
«nachtaktiv», schrieb sie, ich solle sie doch bitte so spät wie
möglich besuchen kommen. Nun dämmert es schon, während wir in ihrer
Altbau-Wohnung im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg sitzen und reden.
Gardinen wehen am offenen Fenster. Der Blick nach draußen geht in
einen frisch sanierten Hinterhof. Natascha Wodin macht kein Licht,
und allmählich verschwinden die Konturen der Bücherregale, des
Schreibtischs und der antiken Kommode, auf der ein üppiger
Rosenstrauß steht. «Ich habe diesen Lebensrhythmus aus der Zeit mit
Wolfgang Hilbig beibehalten», sagt sie. «Das hat sich so stark
eingeprägt, dass ich mich nicht mehr umstellen kann.»
«Nachtgeschwister» heißt der neue Roman von Natascha Wodin, der
ein Hilbig-Roman ist oder vielmehr die Geschichte einer
komplizierten Liebe erzählt – einer Liebe allerdings, die auf
Vernichtung zielt und in der es schließlich nur eine Alternative
gibt: «Er oder ich». Das ist der Ausgangspunkt dieses
unerschrockenen Buches.
«Ich bin der Wahnidee verfallen, dass ich sein Rätsel lösen, dass
ich in mir den Blick finden muss, der ihn erklärt und damit
entmachtet. Ich bilde mir ein, dass mich nur das retten kann.
Retten vor dem Gefühl, dass ich nicht mehr leben kann, solange er
lebt», heißt es da.
Es sei naiv gewesen zu hoffen, dass der Roman besprochen werde,
ohne dass dabei sein Name falle, sagt Wodin jetzt. Vielleicht hatte
sie diese Illusion, weil sie glaubte, Hilbig damit endlich
losgeworden zu sein. Doch ihre gemeinsame Geschichte ist so
außergewöhnlich, dass man dabei von den realen Figuren nicht gut
abstrahieren kann. Hilbig hängt ihr immer noch an. «Hilbig» steht
auch auf dem Klingelschild an der Haustür, als wohne er noch bei
ihr. Es ist ihr amtlicher Name, den sie nach der Scheidung behalten
hat. «Wenn Post für Hilbig kommt, ist das immer etwas
Unangenehmes», sagt sie lachend. Auch Wodin ist nur ein Pseudonym.
Sie musste es akzeptieren, weil der Rowohlt Verlag sonst ihr erstes
Buch nicht publiziert hätte: Natalja Nikolajewna Wdowina, ihr
richtiger Name, sei der deutschen Leserschaft nicht zumutbar.
Seither heißt sie Natascha Wodin: «Ich trage das wie einen
Buckel.»
1986 lernten sie sich kennen – die Tochter ukrainischer
Zwangsarbeiter aus Nürnberg und der Dichter aus Meuselwitz in
Sachsen, der bei einem analphabetischen Großvater aufgewachsen war
und das Tagebaugebiet der DDR zu seiner literarischen Landschaft
machte. Hilbig war kurz zuvor mit einem Jahresvisum in die
Bundesrepublik gekommen. Von 1994 bis 2002 waren sie verheiratet,
aber schon 1993 hat Wodin begonnen, über diese Geschichte zu
schreiben. 2007 starb Hilbig an Krebs – und so schrecklich das auch
sei, sagt sie, sein Tod war ein letzter Auslöser, um mit dem Buch
fertigzuwerden.
Eine Rast, ein Aufschub des Untergangs
Die äußeren Daten teilen nichts von der Dramatik dieser
Schriftstellerbeziehung mit, über die Hilbig schon in seinem Roman
«Das Provisorium» geschrieben hat. Wodin heißt dort
«Hedda Rast» – ein Name, der in ihren
Ohren immer wie «Päderast» klinge. Wie er auf Hedda gekommen sei,
wisse sie nicht, aber offenbar habe er das Zusammensein mit ihr
trotz allem als eine Art Rast empfunden. Immerhin hat er eine
Zeitlang nicht so viel getrunken, und er wurde neben ihr zu einem
berühmten Autor. «Vielleicht», schreibt Wodin, «war unsere
gemeinsame Zeit nur eine Rast, ein Aufschub des Untergangs
gewesen, in dem er sich schon damals befand, als wir uns trafen.
Vielleicht, so dachte ich, hatte er den Untergang der DDR nicht
überlebt.»
In «Nachtgeschwister» heißt der Dichter, der aus der DDR kommt,
Jakob Stumm. Er erinnert in allem – der gedrungenen Statur, dem
klobigen Gesicht, der gepressten Stimme, dem sächsischen Dialekt,
den Lebensumständen mit Freundin und Kind in Leipzig – an Wolfgang
Hilbig. Er ist es – und bleibt doch eine literarische Figur. Jakob
Stumm ist ein sprechender Name. Jakobs Kampf mit dem Engel muss man
sich in diesem konkreten Fall allerdings eher als Kampf mit den
Dämonen der eigenen Herkunft und des Alkoholismus vorstellen.
«Stumm» ist die adäquate Bezeichnung für einen, der nicht in der
Lage war, über sich zu sprechen und der deshalb schreiben musste.
«Er redete über nichts als Literatur», sagt Wodin. «Alles andere
interessierte ihn nicht. Wenn ich etwas von ihm wollte, hörte er
gar nicht zu. Was ich ihm mitzuteilen hatte, musste ich in Zitate
aus Büchern hineinschmuggeln. Ich las ihm etwas vor – von Jewgenia
Ginsburg beispielsweise – und fügte meine Mitteilung ein. Wie einen
Kassiber. Nur so war er zu erreichen.»
Im Grunde, sagt sie, habe er sich nicht wirklich für sie interessiert, sondern nur für die Projektionen in seinem Kopf. So schenkte er ihr in der Anfangszeit immer wieder warme, weiche Nachthemden, obwohl sie ihm sagte, sie friere nachts nicht, sie brauche keine warmen Nachthemden. Doch in seiner Vorstellung musste eine Frau warme Nachthemden tragen. Vielleicht ging es auch nur darum, so etwas wie Fürsorge zu zeigen oder wenigstens die Illusion davon. Bis er eines Tages dazu überging, die Nachthemden selbst zu tragen und sich darin so wohlzufühlen, dass er sie den ganzen Tag nicht mehr auszog. So erscheint er dann auch in einer Szene des Romans: «Wenn er mir so gegenübersaß in einem meiner halblangen, bunt bedruckten Baumwollnachthemden, mit seinen langen, ergrauten Haarsträhnen, mit dem fehlenden Bartwuchs an den Stellen, an denen andere Männer Koteletten trugen, mit seiner Männerphobie, seiner Frauenmanie und seinem unermüdlichen Selbsthass, mit seinem unverkennbaren Wohlgefallen an sich selbst in der von mir geliehenen weiblichen Hülle, dann fragte ich mich manchmal, ob sein ganzes Rätsel, seine Lebenstragödie womöglich darin bestanden, dass er in seiner Anlage tatsächlich eine Frau war, ein Versehen der Natur, die ihn in einen männlichen Körper gesteckt hatte, ohne dass ihm das als Urgrund seiner Verwirrung jemals bewusst geworden war.» Er sei – fügt Wodin im Gespräch hinzu – mit nichts zu vergleichen gewesen. Ein Alien, der auch selbst keinen Maßstab für sich fand.
Aus Erfundenem wird reale Erinnerung
Darf man einen vertrauten Menschen so zeigen? Ist diese
Geschichte nicht zu intim, um sie literarisch preiszugeben? Geraten
die Leser nicht automatisch in die Rolle von Voyeuren? Doch
andererseits: Wie könnte man einen wie Hilbig bloßstellen, dessen
Literatur eine einzige, furiose Selbsterniedrigung und dessen Leben
eine gezielte Selbstvernichtung gewesen ist? Im «Provisorium» hat
er die eigene Alkoholsucht bis in die tiefsten Abgründe hinein
dargestellt – und damit verbunden, seine Unfähigkeit zu lieben.
Nach der Trennung von Wodin schrieb er die finstere Erzählung «Der
dunkle Mann», in der es um die gemeinsamen Jahre im pfälzischen
Edenkoben geht. Wodin empfand diesen Text nicht ganz zu Unrecht als
Rachephantasie, als «richtig schwere Gemeinheit». Auf die Idee,
dagegen vorzugehen oder gar zu klagen, wäre sie aber niemals
gekommen.
Die Frage, ob es eine Grenze gebe, eine Moral, an der sie sich im
Schreiben orientiere, verneint sie. «Die Moral kann sich nur im
Text herstellen. Darüber denke ich nicht nach. Wenn der Roman
gelungen ist, dann entscheidet sich die moralische Frage
ästhetisch.» Das heißt: sprachliche Genauigkeit, die literarische
Stimmigkeit der Motive entscheiden darüber, was legitim ist und was
nicht. Dass «Nachtgeschwister» an keiner Stelle das Gefühl zulässt,
an einer Indiskretion teilzuhaben, wäre dann ein Indiz für das
Gelingen. Und noch etwas kommt hinzu: Der Roman funktioniert auch
dann, wenn man die realen Voraussetzungen nicht kennt. Er
transportiert das Geschehen auf die literarische Ebene, wo alle
Elemente innerhalb der Gesamtkonstruktion ihren Platz und ihre
Berechtigung haben. Als Abrechnung lässt er sich schon deshalb
nicht lesen, weil Wodin sich selbst nicht schont. Offen spricht sie
von ihrem Neid auf Hilbigs Erfolg, wie unerträglich es für sie
gewesen sei, als Schriftstellerin in seinem Schatten zu
verschwinden und zu sehen, wie er große Preise bekam und mit dem
Stasi-Roman «Ich» den Nerv der Zeit traf, während für sie keine
öffentliche Aufmerksamkeit übrigblieb.
Wodins Bericht ist von schmerzlicher Genauigkeit. Das vernutzte Wort «schonungslos» trifft hier einmal wirklich zu. Beschönigen liegt ihr nicht. Man muss die Wirklichkeit so zeigen, wie sie ist. Darin besteht ihr literarisches Credo. Sie könne gar nichts erfinden, sagt sie, und doch nehme beim Schreiben die Geschichte immer wieder ihren eigenen Verlauf. Es gelinge ihr leider nie, ganz bei den realen Ereignissen zu bleiben. Man darf deshalb auch diesen Roman nicht eins zu eins lesen: So genau er der Wirklichkeit nachspürt, so weicht er doch in mancher Erfindung davon ab. Wahrheit besteht nicht in buchstabengenauer Übereinstimmung. Wenn sie Jahre später in ihren Büchern lese, wisse sie oft selbst nicht mehr, was tatsächlich geschehen sei und was sie erfunden habe. So wie auf dem inszenierten Foto, wo russische Soldaten die rote Fahne auf dem Reichstag hissen, beansprucht das Erfundene seinen Platz in der Erinnerung. Der Roman ist das Leben, weil das Leben ein Roman ist.
Welche Dummheit, sich in Gedichte zu verlieben
Nicht erfunden ist der Anfang der Geschichte. Zunächst fiel ihr ein Lyrikband Hilbigs in die Hände, und sie verliebte sich in den Dichter – oder vielmehr in seine Gedichte. Sie war hingerissen von dieser poetischen Kraft und musste den Menschen, der eine solche Sprache besaß, kennenlernen. Sie schrieb ihm einen Brief nach Leipzig, in die ferne DDR, und wartete lange vergeblich auf Antwort. Dann aber setzt die Fiktion ein: wie die Ich-Erzählerin dort anruft, über die Staatsgrenzen hinweg, wie das Telefon wochenlang ins Leere klingelt, bis eines Tages jemand abnimmt und mit abstoßender Stimme seinen Namen bellt: «Stumm!» Von da an ruft sie ihn immer wieder an, doch sie sprechen kein einziges Wort. Nur ein Rauschen ist in der Leitung und ein stundenlanges, nächtliches Schweigen.
Hilbig erzählt im
«Provisorium» eine andere Version des Kennenlernens. Aber auch die
sei erfunden, sagt Wodin und lacht. «Es war eine Dummheit. Ich
weiß, was für eine große Diskrepanz zwischen Autor und Werk
besteht. Doch es nützt nichts. Ich verliebe mich immer wieder in
Musik, in Texte. Das ist eine Ebene, wo ein Mensch mir näher ist,
weil er sich da tiefer offenbart.» Hilbig, für den die Literatur
alles, das banale Leben aber nicht viel bedeutete, bestärkte sie
darin.
«Den, den ich eigentlich finden wollte, den habe ich nie gefunden»,
sagt sie nach einer kleinen Pause in das dunkel gewordene Zimmer
hinein. «Der, der kam, war überhaupt nicht der, den ich mir
vorgestellt hatte. In den Gedichten habe ich von einem Verlorenen
gelesen. In dieses verlorene Ich habe ich mich verliebt. Das kam
natürlich auch. Nur sah diese Verlorenheit anders aus, als ich sie
mir vorgestellt hatte. Sie war sehr proletarisch, sehr aggressiv,
cholerisch, sich maßlos entziehend und bis zur Erstickung
vereinnahmend. Das alles habe ich in den Gedichten natürlich nicht
gelesen. Ich habe gedacht, dass ein Mensch, der so über die Hölle
schreiben kann wie dieser Mann, die Hölle überwunden haben muss.
Doch das Phänomenale an diesem Schriftsteller ist: Er schreibt
wirklich mit der verbrannten Hand über das Feuer, wie Ingeborg
Bachmann einmal sagte. Er steht mittendrin und schreibt darüber. Er
hat keine Distanz. Das ist mir etwas Unerklärbares.»
Zwei Romane, die wie Geschwister sind
Wodins «Nachtgeschwister» und Hilbigs «Provisorium» bestehen nebeneinander und erhellen sich gegenseitig – wenn man das bei so viel Düsternis sagen kann. Viele Motive aus Hilbigs literarischer Welt kehren in «Nachtgeschwister» wieder und sind verwandelt, weil die Perspektive eine andere ist und nun eine Frau von außen auf diesen Untergeher schaut. Seine Gänge zum Briefkasten, wenn er nachts an verschiedene Frauen geschrieben hat, kennt man bereits aus Hilbig-Erzählungen. Pornografisches vermutet sie, er macht sich über ihren Verdacht lustig und gibt ihr zu verstehen, dass sie keine Ahnung habe. In Briefen, so mutmaßt Wodin heute, konnte er sich in die richtige Entfernung bringen, konnte Nähe zu Frauen herstellen, ohne die Distanz aufgeben zu müssen und sich bedroht zu fühlen.
Auch Hilbigs Motiv der bedrohlichen Fruchtbarkeit der Natur
kehrt bei Wodin verwandelt wieder. Er schrieb darüber in der
Erzählung «Die Flaschen im Keller» – einer großen, metaphorischen
Darstellung der eigenen Sucht: Der Obstgarten der Kindheit brachte
stets so viele Früchte hervor, dass das «unbesiegbare Obst» trotz
aller Saft- und Einmachkünste der Mutter schließlich alles
überschwemmte und den Hof in einen mostigen Sumpf verwandelte, in
dem sich Wespen- und Fliegenschwärme spiegelten. In
«Nachtgeschwister» rückt Wodin an die Stelle der Mutter, wenn sie
im Garten in Edenkoben wochenlang Beeren erntet und einmacht, ohne
der Flut Herrin zu werden, und damit Kindheitsängste in ihm
reaktiviert, von denen sie nichts ahnen kann.
Wenig erstaunlich, dass die Sichtweisen am deutlichsten
auseinanderklaffen, wenn es um die Besuche seiner Mutter in
Edenkoben geht: Für Wodin ein einziges Ärgernis, weil er nicht in
der Lage ist, diese Besuche zu verhindern, sich dann aber wegduckt
in sein Schweigen, im Arbeitszimmer verschwindet und ihr das
Gespräch mit der Mutter überlässt: «Er löste das Problem durch
Abwesenheit.» In Hilbigs literarischer Version muss die arme Mutter
dagegen überhaupt nur deshalb zu Besuch kommen, weil «meine Frau
sich weigerte, in den Osten zu fahren». Die Frau verlässt während
dieser Tage das Haus und quartiert sich bei einer Freundin ein,
weil sie die doppelte Unselbständigkeit von Mutter und Sohn nicht
erträgt. «Ihr habt nur gelernt, auf Anweisungen zu warten, weil ihr
keine Begriffe von euch selbst im Kopf habt», sagt sie, und er
entgegnet, sie benähme sich «wie eine ständige Vertretung der
Bundesrepublik Deutschland».
Eine erbarmungslose Leere
Hilbigs Geschichte ist eine Geschichte des Verstummens, der
inneren Abwesenheit, des Ertrinkens in sich selbst. Sein letzter
Prosatext, der nun im Rahmen der Werkausgabe erstmals aus dem
Nachlass erscheint, handelt davon. Er heißt «Die
Nacht am Ende der Straße» und ist, zwei Jahre vor seinem Tod, seine
Abschiedserklärung als Schriftsteller. Hilbig entlarvt die
Behauptung, schreiben zu müssen, als große Lebenslüge: «Die Dämonie
dieser Lüge war ihm plötzlich einsehbar – wenn auch erst mit Beginn
seiner Vergreisung –, sie war ihm durchsichtig geworden, als er
scheinbar nicht mehr konnte. Er dachte es, aber er sprach es nicht
aus, er war zu feige, es einzugestehen; er sah, wenn er nach innen
blickte, in eine erbarmungslose Leere, aus der ihm keinerlei
Resonanz widerfuhr.» Von der «Totenstille in seinem Gehirn», die
ihn «vollkommen beherrschte», ist da die Rede, bevor der Text – für
Hilbig untypisch – mit einer äußeren Katastrophe der Weltpolitik
endet.
Am 11. September 2001 sah er im Fernsehen die Bilder der
zusammenbrechenden Hochhäuser in New York und empfand das als eine
so «gewaltige Maulschelle», dass ihm «die Sprache ohne Rest in den
Hals zurück, bis in die Gedärme zurückgeschlagen war, wo sie sich
aufgelöst hatte, wo sie zerfallen war, zu nichts als einem
unartikulierten Gurgeln oder Krächzen, und dies – diese Vorahnung
kam ihm schon kurze Zeit später, und dies vielleicht für
immer». Wodin hatte in seinen letzten Jahren keinen
Kontakt mehr zu ihm. In «Nachtgeschwister» schreibt sie: «Es
erschien kein Buch mehr von ihm, er tauchte nirgends mehr auf im
Literaturbetrieb. Alles, was mich noch von ihm erreichte, war eine
unheimliche Stille, die ich nicht zu deuten wusste.»
Was hat sie an
diesem untergangssüchtigen Menschen so fasziniert? War es
tatsächlich das Gefühl, dass es «zum ersten Mal jemanden gab, mit
dem ich die Unzugehörigkeit zu den anderen teilte?» Dass da einer
aus dem Osten kam wie sie? Wodin wurde 1945 in Fürth als Tochter
ukrainischer Zwangsarbeiter geboren. Sie wuchs in Nürnberg auf und
war doch immer «die Russin» – und das in den fünfziger Jahren,
mitten im Kalten Krieg. Als sie zehn Jahre alt war, tötete ihre
Mutter sich selbst. Ihr Vater war unberechenbar und gewalttätig.
Seine zuschlagende Faust ist ihre deutlichste Erinnerung an ihn.
Über ihre traumatische Kindheit hat sie immer wieder geschrieben –
auch darüber, wie ihre Mutter in einer Oktobernacht ins Wasser der
Regnitz ging, und die Tochter versuchte, sie mit einer an ihr Bein
gebundenen Schnur zurückzuhalten. Aber wahrscheinlich ist ja auch
diese Schnur eine literarische Erfindung.
In Hilbigs «Provisorium» gehört diese Geschichte zum Lebenslauf der
Hedda Rast. Doch für ihn, den Dichter der Asche- und Schlammhalden,
der Kohle und der Öfen, war sie nicht «die Russin», sondern «die
Westlerin». «Ihr Westmenschen, sagte er, ihr Herrenmenschen. Für
euch bin ich doch Ungeziefer, ich bin der Rotz an deinem Ärmel»,
lässt Wodin Jakob Stumm sagen. Die eigentümliche
Ost-West-Verdrehung gehört zu dieser Beziehung dazu. Für Hilbig kam
nur eine Frau aus dem Osten als Vertraute infrage – noch besser
eine, die ihm als Westlerin überlegen war, damit er sich neben ihr
kleinmachen konnte.
Im «Provisorium» gelangte er deshalb auch nicht über das Jahr 1989
hinaus, in dem diese Ordnung zusammenbrach – anders als Wodin, die
in «Nachtgeschwister» die Geschichte bis in die Gegenwart
verlängert. Über den 9. November schreibt sie: «Jakob war verwirrt,
er zitterte, er weinte, er lachte. Was sollte jetzt aus ihm werden?
Das Land der Lebensvernichtung, wie er es nannte, war sein Leben,
es war sein Nährboden, seine Quelle, sein ganzer poetischer Kosmos,
der einzige und ausschließliche Gegenstand seines Schreibens, der
von einer Stunde zur nächsten aus der äußeren Welt verschwunden
war.» Und ähnlich ging es ihr selbst: «Mit dem Fall der Mauer war
für mich das letzte Stück jener Grenze verschwunden, die durch
mein ganzes Leben verlaufen war, durch meine Gedanken, meine
Gefühle, durch meine Nerven und Zellen, eine Grenze, die, ohne dass
ich es bemerkt hatte, meine Identität geworden war, so etwas wie
meine Heimat.»
Der Mann, der im Dunkeln bleiben musste
Selbsterniedrigung war Hilbigs Überlebensmethode. Seine Größe
demonstrierte er in der Literatur, doch im Leben sah er sich als
impotenten Versager. «Er war durchaus eitel», sagt Wodin, doch die
Eitelkeit betraf nur die Literatur. Und je besser er darin wurde,
sich selbst in seinen Texten in den Dreck hinunterzuschreiben, umso
größer wurde er als Autor. Er musste sich als Mensch vernichten, um
als Schriftsteller zu glänzen. Eine Frau an seiner Seite, die
behauptete, ihn zu lieben und die sich für den ganzen Menschen
interessierte, musste ihm folglich als Bedrohung erscheinen. «Du
führst schon lange ein Doppelleben», sagt die Frau in Hilbigs «Der
dunkle Mann» und bricht darüber, dass sie sich gerade davon
angezogen gefühlt hat, in Tränen aus. Eine gewisse Häme ist zu
spüren, wenn Hilbig sie sagen lässt: «An der Aufklärung deiner
Finsternis muss man zwangsläufig scheitern!»
«Du bist meine Literaturverhindererin», schimpft Jakob Stumm in den
«Nachtgeschwistern» und sitzt doch Nacht für Nacht am Küchentisch,
trinkt und raucht und schreibt, als fließe alles nur so durch ihn
hindurch. «Er schrieb wie im Schlaf», heißt es da, «und wäre er
aufgewacht, hätte er kein einziges Wort mehr aufs Papier gebracht.»
Im Gespräch sagt Wodin: «Ich hatte immer das Gefühl, dass er in so
einer Bewegung ist, kurz vor dem Erwachen, aber er kann nicht. Beim
Schreiben sah ich ihn oft dasitzen als jemanden, der darum kämpft,
an die Oberfläche zu kommen – aber er konnte nicht. Er musste im
Dunklen bleiben.»
Wenn er dann aber nach durchwachter Nacht einschlief, dann schlief
er wie ein Toter. Der Körper forderte seinen Tribut. Und es war
Wodins Aufgabe, den laut Schnarchenden gegen Abend zu wecken, indem
sie ihn mit aller Kraft schüttelte. Auch aus dem Schlaf gab es kein
Entkommen mehr, und so ist der Vorgang des Erwachens ein
dramatischer Moment, wie jeder Augenblick in diesem Leben. Wodin
beschreibt das so: «Langsam, mit verständnislosem Blick tauchte er
auf wie aus einem Stollen, in dem er verschüttet war, manchmal sah
er mich mit dem jähem Entsetzen eines Menschen an, der ermordet
werden sollte.» Es folgen Hustenanfall, Zigarette, Sturz auf den
Boden, wo er gekrümmt liegen bleibt (mit der brennenden Zigarette
zwischen den Fingern), wortloses Aufrichten – und dann der Gang zum
Schreibtisch.
Die Literatur war ihre Gemeinsamkeit. Als Schreibende fanden sie zueinander. Doch so wie Hilbig im Schlaf zu schreiben schien, so schwer wurde es Natascha Wodin. Um sich von ihm zu trennen, musste sie ihre Übereinkunft kündigen und mit dem Schreiben aufhören. Für etliche Jahre lebte sie allein von Übersetzungen aus dem Russischen. Mit «Nachtgeschwister» hat sie nun in die Literatur zurückgefunden. In eine neue, ganz und gar literarische Gemeinschaft mit Wolfgang Hilbig. «Vielleicht hat er mich für immer sprachlos gemacht», heißt es am Ende dieses, ja, Liebes-Romans. Das wäre, wenn es denn stimmt, die letzte, äußerste Gemeinsamkeit. Die Sprache, die Wodin in diesem Roman gefunden hat, spricht allerdings dagegen.
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