Bisher hat der Schriftsteller Daniel Kehlmann kaum über seine Herkunft gesprochen. Fast unbekannt ist daher, dass seine Familie jüdischer Abstammung ist und im besetzten Österreich von den Nazis verfolgt wurde. Eine Spurensuche.
Herr Kehlmann, Ihr Großvater war der mittlerweile in Vergessenheit geratene jüdische Schriftsteller Eduard Kehlmann. Was wissen Sie über sein Leben?
Meine Großeltern väterlicherseits waren im Erwachsenenalter getaufte Juden. Das war in der Zwischenkriegszeit üblich. Das bürgerliche assimilierte Judentum hatte sich nicht mehr viel aus seiner Religion gemacht. Die Taufe war – wie Heine es genannt hat – das gesellschaftliche Entreebillet.
Wie verbrachten Ihre Großeltern als „Halbjuden“ die Zeit nach dem „Anschluss“ Österreichs?
Einer der Glücksfälle, dem wir unser Überleben verdanken, war, dass ein Archiv, in dem die Geburts- und Familienpapiere meines Großvaters aufbewahrt wurden, kurz vor der Nazizeit abbrannte. Deshalb musste man sich diese Papiere wieder ausstellen lassen, was mein Großvater geschickt ausnutzte, um sich durch neue Papiere zum „Halbjuden“ zu machen – was er nach den Nürnberger Gesetzen keineswegs war. Meine Tante hat er zur „Halbjüdin“ gemacht, indem er bestochene Zeugen bestätigen ließ, dass sie das illegitime Kind des Hausmeisters sei. Man hat getan, was man konnte, um sich aus dem Gefahrenbereich herauszubewegen. Nach dem Tod meines Vaters im Jahr 2005 gab es dann vieles, was sich über meine Familiengeschichte gar nicht mehr in Erfahrung bringen ließ. So etwas fragt man meist erst dann, wenn es schon zu spät ist.
Erlebten Ihre Großeltern Repressalien?
Die Kriegsjahre waren für sie eine Zeit ungeheurer Armut. Mein Großvater war eigentlich Beamter in der Post- und Telegrafenverwaltung. Aber nach der Machtübernahme der Nazis galt er als „rassisch belastet“ und musste sich und seine Familie ohne staatliche Anstellung durchbringen. Schließlich gründete er eine Baustoff-Firma. Das funktionierte aber überhaupt nicht, die Firma ging in Konkurs. Was mich wirklich sehr bewegt hat: In der Bibliothek meines Großvaters fand ich eine Ausgabe von Joseph Roths „Radetzkymarsch“, die er Weihnachten 1942 aus dem Bestand seiner Bibliothek seiner Tochter geschenkt hat, mit einer Widmung. Das heißt, sie hatten absolut gar nichts, sie konnten den Kindern nicht einmal Weihnachtsgeschenke kaufen. Nach dem Krieg bekam mein Großvater dann einen Posten als leitender Beamter. Doch all die Angst und Qual dieser Kriegsjahre und der permanente ökonomische Druck blieben nicht ohne Wirkung. Er wurde herzkrank und starb schließlich 1955.
Wie erinnerte sich Ihr Vater, der Regisseur Michael Kehlmann, an diese Zeit?
Als „Halbjude“ durfte er nicht das Gymnasium besuchen. Er musste die Schule verlassen und absolvierte notgedrungen eine Lehre in einem Industriebetrieb. Dort hielt man ihn aufgrund seiner Ungeschicktheit für einen Saboteur. „Wir verraten dich nicht!“, sagten ihm die Arbeiter, obwohl er keineswegs ein Saboteur war, sondern nur ungeeignet. Er hatte Kontakte zur Widerstandsbewegung und wurde 1944 auf einer Feier verhaftet, bei der viele Leute aus der Widerstandsbewegung anwesend waren. Daraufhin kam er nach Maria-Lanzendorf, ein Nebenlager von Mauthausen. Regelmäßig wurde das Lager bombardiert. Mein Vater hat mir immer wieder erzählt, wie er und seine Mithäftlinge während der Bombardements in den ungeschützten Baracken am Fenster standen und, um sich Mut zu machen, die „Internationale“ sangen. Es müssen entsetzliche Wochen gewesen sein. Er erinnerte sich auch daran, wie er am ersten Tag mit den anderen Gefangenen in einer Reihe stand und der Kommandant zu ihm sagte: „Ich sorge dafür, dass du hier nicht lebendig wieder rauskommst.“ Maria-Lanzendorf war kein Vernichtungslager, nach dem Krieg fand mein Vater jedoch heraus, dass man seine Gefangenengruppe für den Transport nach Auschwitz vorgemerkt hatte. Im Chaos der letzten Kriegsmonate dann wollte sich ein Verwaltungsbeamter Gründe beschaffen, die er nach dem Krieg für seine Entlastung anführen konnte – er sorgte dafür, dass mein Vater freikam.
Hat Ihr Vater zu Hause viel über die Erfahrungen aus dieser Zeit gesprochen?
Er erzählte sehr viel vom Leben in der Großfamilie. Familie war für mich immer das, was nicht mehr da war. Außer meinen Großeltern, meinem Vater und einer Tante, die es nach England geschafft hatte, wurden alle abtransportiert. Und alle sind umgekommen. Entfernte Verwandte, von denen wir erst spät erfahren haben, dass es sie noch gibt, leben in Israel. Prägend für meinen Vater war sicherlich die Erfahrung, wie sich mit der Machtübernahme der Nazis das Verhalten der Menschen änderte. Und wie hämisch und böse der Antisemitismus in Österreich durchbrach. So schaute beispielsweise der Nachbar, der vorher immer höflich gegrüßt hatte, regelmäßig über die Mauer am Haus meines Großvaters und rief mit dunkler Stimme: „Juuud!“ Da mein Vater einen Sinn für das Komische im Schrecklichen hatte, war dieses Erlebnis im Nachhinein aber auch ein sehr komisches Bild für ihn.
Täuscht mein Eindruck, oder haben Sie bisher die Geschichte Ihrer Familie in den Medien nicht thematisieren wollen?
Es war keine bewusste Entscheidung, nicht darüber zu reden. Wenn ich von meiner Familie sprach, habe ich auch immer die Geschichte meiner Großeltern erwähnt, weil ich finde, dass das erzählt gehört. Ich wurde aber nur selten danach gefragt.
Können Sie sich vorstellen, sich irgendwann literarisch der Geschichte Ihrer Familie zu nähern?
Das kann ich mir sehr gut vorstellen. Ich weiß aber noch nicht, wie und auf welche Weise. Das ist etwas, mit dem ich künstlerisch sehr vorsichtig umgehen würde und dem ich mich nur langsam annähere, weil es mit einer sehr großen Verantwortung einhergeht. Ich glaube, es gibt eine moralische Verpflichtung, dass das Ergebnis extrem gut sein sollte, wenn man sich dem ungeheuren Thema Holocaust nähert. Man sollte darüber also nichts Mittelmäßiges schreiben oder gar einen mittelmäßigen Roman aufzuwerten versuchen, indem man noch am Rande den Holocaust thematisiert.
Welches Verhältnis haben Sie selbst zum Judentum?
Wenn man wie ich eine jüdische Familiengeschichte hat, fühlt man sich der jüdischen Kultur automatisch verbunden. Andererseits bin ich aber kein Jude. Meine Mutter ist keine Jüdin, mein Vater war getauft, ich bin getauft und habe sogar eine katholische Schule besucht. Es gibt gerade im Kulturbetrieb viele Menschen, die sich aufgrund entfernter jüdischer Verwandter als Juden sehen. Das kommt mir sehr prätentiös vor. Mich selbst erstaunt, dass ich seltsamerweise noch nie in Israel war, obwohl ich viel reise und das Land immer schon einmal sehen wollte. Vielleicht zögere ich, weil ich nicht genau weiß, wie jüdisch ich mich fühlen soll, wie nahe ich dem Land Israel überhaupt bin. Womöglich scheue ich den Identitätskonflikt, der aus einer Israelreise entstehen würde.
Sie leben in Wien. Was für ein Österreichbild haben Sie heute? Und inwieweit ist Ihre Meinung von diesem Land durch die eben geschilderten Ereignisse beeinflusst?
Ich sehe natürlich Aspekte an Österreich, die ganz schrecklich sind. Es gibt immer noch einen sehr starken antiurbanen und antiintellektuellen Affekt, der ganz schnell in Antisemitismus umschlagen kann. Wenn man etwa die Reaktionen auf Äußerungen von Robert Menasse oder Doron Rabinovici studiert, stellt man fest, dass es sogar in urbanen Schichten Ressentiments gibt, die dem Antisemitismus äußerst ähnlich sehen. Ob es in Österreich generell mehr Antisemitismus gibt als anderswo, weiß ich nicht. Aber im westlichen Europa wäre so etwas wie der Wahlkampf der FPÖ ganz undenkbar. In Osteuropa sieht es zurzeit wirklich schlimm aus. Imre Kertész hat mir ganz fürchterliche Dinge über seine Erlebnisse in Ungarn erzählt.
Mit welchen Gefühlen lesen Sie heute, knapp 90 Jahre nach deren Veröffentlichung, die Romane Ihres Großvaters?
Ich habe seine Bücher gelesen, als ich elf Jahre alt war. Es ist also schon sehr lange her. Sie sind in der damals vorherrschenden expressionistischen Mode geschrieben. Das große Vorbild meines Großvaters war Heinrich Mann. Aus meiner Sicht würde ich sagen: leider der falsche Bruder. (Lacht) Ich schätze Heinrich Mann zwar sehr, aber sein Stil bewegt sich durch seinen Manierismus oft am Rande der Erträglichkeit. Sich stilistisch allzu sehr an ihn anzulehnen, ist gefährlich. Aber es wird wirklich Zeit, dass ich Eduard Kehlmanns Roman „Von Pauli bis Palmarum“ mal wieder lese.
Welche jüdischen Schriftsteller oder Philosophen haben Sie geprägt?
In der Philosophie ganz klar Hannah Arendt und Karl Popper. Ich verehre Hannah Arendt sehr und bin immer wieder überrascht, wie hilfreich ihre Erkenntnisse im ganz normalen, alltäglichen Leben sind. Was die Literatur betrifft, weiß man gar nicht, wo man anfangen soll. Es war gar nicht so sehr Kafka, der mich stark prägte, sondern vielmehr der wunderbare Leo Perutz, der in die Emigration nach Israel ging, völlig vergessen wurde und nur langsam wieder entdeckt wird. Ein Autor, der für mein Schreiben eminent wichtig war. Er ist ein magischer Realist; mit seiner Art, mit der Realität zu spielen und eine doppelbödige Unwirklichkeit zu öffnen, ist er mir sehr nahe.
Ihre Kritik am Regietheater hat sowohl für Zustimmung als auch für heftige Kritik gesorgt. Schon vor dieser Rede sagten Sie des Öfteren: „Sehr vieles, was ich auf deutschen Theaterbühnen sehe, finde ich flach und dumm.“ Was stört Sie am sogenannten Regietheater?
Im Grunde ging es darum, dass an deutschen Theatern eine bestimmte Inszenierungsästhetik Monopolstellung genießt und Beobachter, die sich dagegen äußern, in einer ungeheuerlichen Weise angegriffen werden. Diese Monopolästhetik beansprucht für sich, recht zu haben, weil sie so modern sei und alles andere altmodisch und auch gesellschaftlich reaktionär. Dagegen habe ich mich gewendet. Die Wahrheit eines Textes durch rekonstruktive Maßnahmen wie Kostüme zutage treten zu lassen, ist alles andere als altmodisch und schon gar nicht rückständig. In diesem Sinne habe ich für Offenheit plädiert. Die Reaktionen waren so hilflos hysterisch, dass ich mich dadurch in meiner These bestätigt fühlen muss.
Schon vor einem Jahr haben Sie mit einer Rede über Brecht polarisiert. Dabei hatten Sie lediglich in Erinnerung gerufen, man könne von Glück reden, „dass die Welt nicht so geworden ist, wie Bertolt Brecht sie sich gewünscht hat, denn die seine würde keine freien Wahlen kennen, keine Meinungsfreiheit, keine Freiheit, dorthin zu gehen, wohin man will“. Daraufhin hagelte es Widerspruch. Sind Sie verwundert über die nach wie vor einflussreichen Linken im Kulturbetrieb?
Nein, das hatte ich schon erwartet. In beiden Fällen habe ich mich aber keineswegs gegen linke Politik oder gegen linkes Kulturverständnis wenden wollen. Ich habe eine Haltung kritisiert, die sich als links deklariert, aber nur noch Phrasen und Schemata reproduziert. Das Regietheater hat mit linker Einstellung gar nichts zu tun. Klassisch gesehen würde linke Ästhetik bedeuten, Theater zu machen, das die Massen verstehen. Es ist doch inkonsequent, sich als links zu definieren und gleichzeitig ein Theater zu verlangen, das die Massen ablehnen. Im Fall von Brecht habe ich mich dagegen gewehrt, ihn zu einer Popfigur, zu einer Art Che-Guevara-Poster zu machen. Man muss Brecht ernst nehmen und sich darüber im Klaren sein, wo er sich furchtbar geirrt hat.
Ein Teil des Feuilletons nannte Sie aufgrund Ihrer Kritik einen „konservativen Streber“.
Ach, das war nicht das Feuilleton, das hat irgendein Wirrkopf geschrieben. Es gibt zwei Gemeinsamkeiten zwischen meiner Brecht-Rede und meiner Kritik am Regietheater. Ich habe mich in beiden Fällen anlässlich einer Eröffnungsrede bemüht, nicht einfach eine Rede voller leerer Phrasen zu halten, sondern etwas zu sagen, was an Ort und Stelle und im Kontext der von mir eröffneten Veranstaltung eine Diskussion anstößt. Wer mich einen Streber nennt, ist seelisch in seiner Schulzeit stecken geblieben. Aber wir gehen alle nicht mehr zur Schule. Was ist schlimm am Streben? Wer immer strebend sich bemüht, heißt es im Faust, den können wir erlösen.
Sie haben sich im Rahmen Ihrer Brecht-Rede gefragt, warum es so wenig ehrenhaft sei, sich für die Demokratie einzusetzen.
Ich habe mich viel mit Popper beschäftigt und halte „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ für ein ganz wichtiges Buch. Und ja, es ist unglamourös, sich für die Demokratie einzusetzen. Das ist das Wesen der Demokratie. Es ist langweilig, Demokrat zu sein – und eben unglamourös. Ihren Wert erkennt man immer nur dann, wenn es sie nicht gibt.
Sie haben nach Ihrem Bestsellerroman „Die Vermessung der Welt“ den ehemaligen deutschen Außenminister Steinmeier auf einer Südamerikareise begleitet. Was haben Sie durch diese Reise für Eindrücke von der Politik gewonnen?
Vor allem war ich von der unglaublichen Arbeitsleistung beeindruckt. Ich hatte immer gedacht, dass ich viel arbeite. Aber das Arbeitspensum von Steinmeier und seinen Mitarbeitern während dieser Reise war derart hoch, dass ich bereits am zweiten Tag dachte: Ich halte es nicht mehr aus, ich komme nicht mehr mit. Politiker wie der Außenminister halten all das – trotz Jetlag, trotz Müdigkeit – eisern durch. Ich verstehe nun, warum Politiker so schnell altern. Es gibt in unserer Gesellschaft diesen zynischen Automatismus, all jene, die Macht und Verantwortung übernommen haben, von vornherein für halbe Verbrecher oder Dummköpfe zu halten. Davon wird man schnell geheilt, wenn man näher mit diesen Menschen zu tun hat.
Wenn Schriftsteller mit Politikern verkehren und sich gar für diese einsetzen, geht das nicht selten auf Kosten der Schriftsteller. Ihnen wird dann schnell nachgesagt, von der Politik vereinnahmt zu werden.
Man merkt in sich schon die Tendenz, dass man gern ständig in der Nähe von solch interessanten Menschen wäre. Es gehen ein Glanz und eine Faszination von der Macht aus. Das muss man sich aber verbieten. Ein Schriftsteller hat in der Nähe von Politikern über einen längeren Zeitraum nichts verloren.
Nicht selten leiden Ihre Figuren an ihrem Dasein und sind des Lebens überdrüssig. Dennoch werden diese Geschichten getragen durch komische Szenen. Was bedeutet Ihnen Humor?
Ohne Humor wäre die Dunkelheit des Daseins nicht zu ertragen. Humor gleicht aus, was ohne ihn zu dunkel, traurig und schrecklich wäre. Daher haben Juden auch den besten Humor.
Das Gespräch führte Philipp Engel
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