- Auferstanden aus den Ruinen des Sowjetimperiums
„Freiheit“, der Titel von Angela Merkels Erinnerungen, hätte für die historischen Umstände stehen können, die ihre kometenhafte Politikerkarriere möglich gemacht haben. Doch das hätte ein Maß an Selbstreflexion erfordert, zu der sich die Autorin nicht aufschwingen konnte.
Nicht selten haben die Karrieren historisch bedeutender Politiker historische Ursprünge. Kein Adolf Hitler ohne Hyperinflation und Große Depression, kein Konrad Adenauer ohne Hitler und kein Helmut Kohl ohne die Krisen der 1970er-Jahre. Höchstwahrscheinlich hätte es auch die Bundeskanzlerin Angela Merkel nie gegeben, wäre die Berliner Mauer nicht gefallen und das Sowjetimperium nicht untergegangen.
„Freiheit“, der Titel von Angela Merkels Erinnerungen, hätte für die historischen Umstände stehen können, die ihre kometenhafte Politikerkarriere möglich gemacht haben. Doch das hätte ein Maß an Selbstreflexion erfordert, zu der sich die Autorin entgegen ihrer Absicht nicht aufschwingen konnte. Stattdessen verbindet sie ihre beachtliche Karriere im Unrechtsstaat der DDR mit dem ihr schon immer innewohnenden Streben nach Freiheit.
In Wahrheit, so Merkel, seien die zwei zeitlich gleichen Abschnitte ihres Lebens in der DDR und in der Bundesrepublik ein Leben, in dem der zweite Teil nicht ohne den ersten verstanden werden könne. So erscheint der Untergang des Sowjetimperiums wie ein Karrierebooster für jemanden, der schon immer auf der richtigen Seite der Geschichte gestanden hat – und nichts Wesentliches zurückzunehmen hat.
Zwei Karrieren nach dem Mauerfall
Am 9. November 1989 öffnete sich für die an der DDR-Akademie der Wissenschaften tätige promovierte Physikerin die Tür zu einer spektakulären Politikkarriere in der freien Welt. Noch im Jahr 1991 wurde sie Ministerin für Frauen und Jugend, danach Umweltministerin, Generalsekretärin der CDU, im Jahr 2000 CDU-Vorsitzende und im Jahr 2005 Bundeskanzlerin. Einen ebenso entscheidenden Einfluss hatte das Ende des Sowjetimperiums wohl nur auf einen anderen bedeutenden Politiker: Wladimir Putin.
Dessen Aufstieg verlief mit ähnlich atemberaubender Geschwindigkeit wie der von Merkel. In Dresden überrascht vom Mauerfall, wechselte der KGB-Agent in die russische Politik und arbeitete ab 1991 dem Leningrader Bürgermeister Anatoli Sobtschak zu. Schnell entwickelte er ein Talent, die Leningrader Mafia mit KGB-Methoden zu kontrollieren und übte für Sobtschak die Rolle des „Mannes fürs Grobe“ aus. Dies qualifizierte ihn aus Sicht des von Korruptionsanklagen bedrohten Clans von Präsident Boris Jelzin für höhere Ämter in Moskau. In weniger als sechs Jahren stieg er über den Direktor des Inlandsgeheimdienstes und Ministerpräsidenten im Jahr 2000 zum Präsidenten auf – dem gleichen Jahr, in dem Merkel Vorsitzende der CDU wurde.
Beide Politikerkarrieren sind aus demselben Urknall, dem Fall des Sowjetimperiums, hervorgegangen. Doch katapultierte dieses Ereignis die beiden Protagonisten auf unterschiedliche Seiten. Angela Merkel richtete sich im Lager der vermeintlichen Sieger in der Geschichte ein, Wladimir Putin sah sich im Lager der Verlierer. Folglich nahmen ihre Karrieren unterschiedliche Verläufe.
Der Sieg des Westens verblich mit den Krisen, die ihn in den 2000er Jahren erschütterten: der Finanz- und Eurokrise, der „Klimakrise“ und schließlich der Corona-Krise. Angela Merkel wurde zur „Krisenkanzlerin“ und orchestrierte den Aufstieg des Staates als Hüter über das Wohlergehen der Bürger – getreu dem Motto von Carl Schmitt „souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“. Sie formuliert das prosaischer: „Ich lernte, dass am Ende immer das Primat der Politik gilt.“
Wladimir Putin litt an dem durch den Zerfall des Sowjetimperiums ausgelösten Phantomschmerz und versucht nun, diesen zu lindern, indem er mit Gewalt an die Stelle der Sowjetunion ein großrussisches Reich setzen will. Weder Merkel noch Putin hätten Erfolg haben können, wenn sie nicht den in ihren Ländern herrschenden Zeitgeist bedient hätten: Merkel die bräsige Bequemlichkeit eines sich der Nabelschau hingebenden Deutschlands und Putin die Ressentiments eines von der Großmacht zur schwächelnden Mittelmacht herabgestuften Russlands.
Die Doppelbiografie
Beginnen wir die Doppelbiographie mit dem Aufstieg Angela Merkels. Während ein Jahr nach dem gescheiterten Aufstand am 17. Juni 1953 noch immer Menschen vom Osten in den Westen flohen, zog Pfarrer Horst Kasner mit Familie im Jahr 1954 von der neuen Demokratie in die neue Diktatur Deutschlands. Dort ging Angela zur Schule und durfte sogar studieren, was für eine Pfarrerstocher ungewöhnlich war. Doch Pfarrer Kasner stand dem SED-Regime nicht fern und wurde schon mal der „rote Kasner“ genannt. Das half Angela, die sich bemühte, nur nicht aufzufallen und immer ein bisschen besser zu sein als die anderen. In ihren anschaulich geschriebenen Erinnerungen beschreibt sie das als Gratwanderung zwischen innerem Widerstand gegen die DDR-Ordnung und äußerer Anpassung.
Die Anpassung war ausschlaggebend und ermöglichte ihr eine beachtliche Karriere. Im Jahr 1978 schloss sie ihr Physikstudium mit der Note sehr gut ab, fand sofort eine Stelle an der Akademie der Wissenschaften der DDR und promovierte dort, trotz nur „genügender“ Kenntnisse des Marxismus-Leninismus, ebenfalls mit der Note sehr gut. Nun wollte sie „unter den gegebenen Umständen“ in der DDR „so gut wie möglich arbeiten“. Dazu gehörte auch eine Veränderung ihrer Lebensumstände, inklusive Trennung von ihrem Ehemann. „Ulrich Merkel und ich wurden 1982 geschieden. Seinen Namen behielt ich“, kommentiert sie kurz und knapp.
Nach dem Mauerfall begann Angela Merkel, sich für Politik zu interessieren. Sie wurde Pressesprecherin für den Demokratischen Aufbruch und wollte eine „sozial und ökologisch orientierte Marktwirtschaft“ schaffen. Nachdem diese Partei mit der deutschen Wiedervereinigung in der CDU aufgegangen war, begann Angela Merkels Aufstieg in der Bundespolitik. Ihr Erfolgsrezept war es, den jeweils herrschenden Zeitgeist in Politik umzusetzen.
Nach der Bundestagswahl 2005, die sie nur knapp gegen Gerhard Schröder gewonnen hatte, streifte sie ohne Zögern das wirtschaftsliberale Kostüm ab, das sie sich für den Wahlkampf angelegt hatte, und schwenkte – zunächst in einer Großen Koalition mit der SPD – auf sozialdemokratische Politik ein. Unter ihrer Kanzlerschaft wurde der Ausbau des Sozialstaats zwar nicht durch eine permanente Ausweitung der Staatsverschuldung finanziert – dafür sorgte ihr erster Finanzminister Wolfgang Schäuble – sondern durch niedrigere Zinszahlungen (dank der Zinspolitik der EZB) sowie der Verringerung der Ausgaben für Verteidigung und Investitionen.
In der Eurokrise, die der Großen Finanzkrise von 2008 bis 2009 auf dem Fuße folgte, ließ sie die Aufweichung und schließlich Abschaffung der Fundamente einer harten Währung zu, welche die Regierung von Helmut Kohl durch die Verbote der monetären Staatsfinanzierung und der finanziellen Unterstützung zahlungsunfähiger Staaten durch Organe der Europäischen Union im Vertrag von Maastricht verankert hatte. Als es im März 2011 im japanischen Fukushima infolge eines Tsunamis zu einem Atomreaktorunfall kam, der weder unbeherrschbar war noch Menschenleben kostete, revidierte Kanzlerin Merkel den erst vor einem halben Jahr getroffenen Beschluss, die Laufzeit der Atomkraftwerke zu verlängern, und schwenkte auf einen schnellen Atomausstieg ein. Und nachdem sie im Jahr 2015 die Grenzen für aus Ungarn kommende Flüchtlinge geöffnet hatte, sah sie keine Möglichkeit mehr, diese wieder zu schließen.
Willen des Volkes
Man kann Angela Merkel nicht vorwerfen, dass sie in ihrer Regierungszeit nicht dem Willen des Volkes gefolgt wäre. Im Gegenteil, sie hat diesem Willen seinen freien Lauf gelassen, oft wider besseres Wissen. „Ich hatte zu viele Scheren im Kopf. Sie hatten mich daran gehindert, frei meiner Überzeugung zu folgen“, bekennt sie anlässlich der 1992 geführten Debatte um den Schwangerschaftsabbruch. In der Eurokrise wehrte sie sich „mit Händen, Füßen und auch Tränen“ gegen den vertragswidrigen „Bailout“ zahlungsunfähiger Eurostaaten, lenkte dann aber doch ein und nahm die Aufstellung der Europäischen Zentralbank als Kreditgeber der letzten Instanz für die Eurostaaten durch EZB-Präsident Mario Draghi widerspruchslos hin. Dem Rat Wolfgang Schäubles, Griechenland zeitweise aus der Eurozone zu entlassen, folgte sie nicht.
Georgien und die Ukraine die Perspektive eines NATO-Beitritts zu geben, wie US-Präsident George W. Bush es wollte, wollte sie den Deutschen nicht zumuten. Obwohl sie die Kernenergie für sicher hielt, gab sie dem Druck der verängstigten Deutschen zur schnellen Abschaltung der Atomkraftwerke nach. In der Flüchtlingskrise vertraute sie darauf, dass „es genügend Menschen im Land gab, die so dachten und fühlten wie ich“. Und in ihren Memoiren empfiehlt sie nun, weiterhin dem Zeitgeist folgend, eine Reform der von ihr in ganz Europa durchgesetzten Schuldenbremse, damit Zukunftsinvestitionen ohne Verteilungskämpfe möglich würden.
Untergang eines Imperiums
Ganz anders als auf Merkel wirkte der Untergang des Sowjetimperiums auf Wladimir Putin. Er erlebte die Tage nach dem Mauerfall im Büro des Geheimdienstes KGB in Dresden als Niederlage. In einem umfassenden Interview, das er im Jahr 2000 vor seiner Wahl zum Staatspräsidenten gab, erzählte er davon. Als sich einige DDR-Bürger anschickten, das Büro zu stürmen, wie es andere auch schon mit Stasi-Büros getan hatten, rief er beim russischen Militärstandort nach Verstärkung. Doch dort sagte man ihm: „Wir können nichts ohne Befehle von Moskau unternehmen, und Moskau ist still.“ Im Interview zeigte er sich Jahre danach noch davon beeindruckt: „… diese Sache mit ‚Moskau ist still‘ – ich bekam das Gefühl, dass das Land nicht mehr existierte. Dass es verschwunden war. Es war klar, dass die Union krank war. Und sie hatte eine unheilbare Krankheit, die zum Tode führen würde – eine Lähmung der Macht“. Merkel empfand das ähnlich: „Das bisherige System fiel einfach in sich zusammen“.
Sechzehn Jahre später bezeichnete Putin in einer Rede am 25. April 2005 den Zerfall der Sowjetunion als „die größte geopolitische Katastrophe“ des 20. Jahrhunderts. Und weitere neun Jahre später, im Februar 2014, schickte er sich an, den Schaden zu reparieren. Auf der ukrainischen Halbinsel Krim erschienen grün uniformierte Soldaten ohne Hoheitsabzeichen, die „grüne Männchen“ genannt wurden. Im März 2014 rückten reguläre russischen Einheiten nach, und Russland annektierte nach einem gefälschten Referendum die Krim. Das Spiel mit den grünen Männchen wiederholte sich im April 2014 in den ukrainischen Bezirken Donezk und Luhansk. Es konnte von der Diplomatie von Angela Merkel und ihres russlandfreundlichen Außenministers Frank-Walter Steinmeier nicht gestoppt werden – und nahm seinen Lauf.
In einem langen Artikel vom 21. Juli 2021 begründete Wladimir Putin den Anspruch Russlands auf die Ukraine und seine Vorstellungen von einem großrussischen Reich. Seiner Ansicht nach sind Russland und die Ukraine ein Volk, eine Gesamtheit. Wahre Souveränität der Ukraine sei nur in der Partnerschaft mit Russland möglich:
„Unsere geistigen, menschlichen und zivilisatorischen Bindungen bestehen seit Jahrhunderten und haben ihren Ursprung in denselben Quellen, sie sind durch gemeinsame Prüfungen, Erfolge und Siege gefestigt worden. Unsere Verwandtschaft ist von Generation zu Generation weitergegeben worden. Sie ist in den Herzen und im Gedächtnis der Menschen, die im modernen Russland und der Ukraine leben, in den Blutsbanden, die Millionen unserer Familien vereinen. Gemeinsam waren wir immer und werden wir auch in Zukunft um ein Vielfaches stärker und erfolgreicher. Denn wir sind ein Volk.“
Und zu Beginn des Krieges, am 24. Februar 2022, wandte sich Putin in einer Fernsehansprache an seine Bürger und die Ukraine. Den Überfall begründete er vor allem mit der Notwendigkeit, sich gegen die USA und ihre Nato-Partner zu verteidigen. Der Showdown zwischen Russland und diesen Kräften könne nicht mehr vermieden werden. Deshalb habe er entschieden die Ukraine durch eine militärische Spezialoperation zu demilitarisieren und zu entnazifizieren. Der heiße Kampf um die Wiederherstellung des russischen Großreiches hatte begonnen.
Schwere Erbschaften
Die jeweiligen Erbschaften der Ära Merkel-Putin sind schwer. Deutschland steckt in der tiefsten Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg, hervorgerufen durch einen hemmungslosen Ausbau des Sozialstaats, eine desaströse Energiepolitik und die Vernachlässigung der Infrastruktur. Hinzu kommen der Verlust der Verteidigungsfähigkeit und eine weltfremde Außenpolitik, die „wertegeleitet“ sein wollte und gleichzeitig die Nähe zu den Diktaturen Russlands und Chinas suchte. Was Angela Merkel in sechzehn Regierungsjahren angelegt und verfolgt hatte, wurde von der kurzlebigen Regierung Olaf Scholz‘ mehr schlecht als recht weitergeführt.
Der Ausruf einer „Zeitenwende“ durch Kanzler Scholz blieb ohne Folgen. Deutschland verbaut durch seine Fixierung auf die Gegenwart der jungen Generation weiterhin die Zukunft, während Russland in einem sinnlosen Eroberungskrieg seine jungen Männer und die der Ukraine verheizt. Dabei wäre die Großmachtssucht Wladimir Putins nicht möglich, wenn sie nicht die Ambitionen eines Großteils der Bevölkerung spiegeln würde.
Zeitgeistwende
Besserung würde daher nur eine Wende des in beiden Ländern immer noch herrschenden Zeitgeistes versprechen. In Deutschland müssten die Wähler einer neuen Regierung den klaren Auftrag zur Rundumerneuerung der Wirtschaft und des Landes geben. Das würde jedoch Schweiß und Tränen bringen und die Deutschen zwingen, die Gegenwartsfixierung einer es sich bequem machenden Rentnergesellschaft abzustreifen. In Russland müsste sich die Bevölkerung den Kriegsambitionen von Putin widersetzen, wie sie es früher im Afghanistankrieg gegen die roten Zaren im Kreml getan hatte. Doch dafür müssten die Russen nicht nur die von Putin verkörperte Vision eines neuen Großrusslands zurückweisen – was im Widerstand gegen den Afghanistankrieg nicht zur Debatte stand – sondern eine über die damalige Zeit hinausgehende Zivilcourage aufbringen. Gegenwärtig ist weder das eine noch das andere in Sicht.
Liebe Leserinnen und Leser,
wir freuen uns über eine konstruktive Debatte. Bitte achten Sie auf eine sachliche Diskussion. Die Redaktion
behält sich vor, Kommentare mit unsachlichen Inhalten zu löschen. Kommentare, die Links zu externen Webseiten
enthalten, veröffentlichen wir grundsätzlich nicht. Um die Freischaltung kümmert sich die Onlineredaktion von
Montag bis Freitag von 9 bis 18 Uhr. Wir bitten um Geduld, sollte die Freischaltung etwas dauern. Am Wochenende
werden Forumsbeiträge nur eingeschränkt veröffentlicht. Nach zwei Tagen wird die Debatte geschlossen. Wir danken
für Ihr Verständnis.