- Klarheit statt vorgetäuschten Tiefsinn
Ernst Tugendhat war nicht nur ein bedeutender Wissenschaftler und Starprofessor, sondern auch ein wichtiger Intellektueller, der sich immer wieder in politische Debatten einmischte. Dabei ging es ihm letztlich stets um die Autonomie des Individuums.
Er war einer der bedeutendsten deutschsprachigen Philosophen nach dem Krieg. Seine Schriften müssen nach wie vor als Standard gelten. Wie kaum einem anderen gelang es ihm, verschiedene philosophische Traditionen zusammenzudenken. Zugleich war er nicht nur Philosophieprofessor, sondern auch öffentlicher Intellektueller.
Insbesondere in den 80er Jahren war er immer wieder medial präsent, sei es zur Nachrüstungsdebatte, zur Asylpolitik oder zu bioethischen Fragen. Die Rede ist von Ernst Tugendhat. Am Montag ist dieser großartige Intellektuelle, Philosoph und Hochschullehrer im Alter von 93 Jahren in Freiburg im Breisgau gestorben.
Eine Ikone moderner Architektur
Geboren wurde Ernst Tugendhat 1930 in Brünn. Sein Vater Fritz war ein wohlhabender Tuchfabrikant, der sich von Mies van der Rohe eine Villa in herrlicher Hanglage auf das Grundstück seiner Schwiegereltern bauen ließ. Die Villa Tugendhat gilt inzwischen als Ikone moderne Architektur.
1938 verließ die Familie vorausschauend die Tschechoslowakei. Man emigrierte in die Schweiz, später nach Venezuela. Sein Studium begann Ernst Tugendhat in Stanford. 1949 ging er an die Freiburger Universität. Ab 1951 hörte er dort auch Vorlesungen bei Martin Heidegger, dessen Lehrverbot aufgehoben worden war und dessen Hauptwerk „Sein und Zeit“ Tugendhat schon als Schüler in Südamerika studiert hatte.
Sich seiner selbst als Ich bewusst sein
Von Freiburg ging Tugendhat erst nach Münster, dann nach Tübingen und schließlich nach Heidelberg. Hier, an der Ruprecht-Karls-Universität, formierte sich in den späten 60er Jahren ein Denkzirkel, der sich vor allem mit dem Problem des Selbstbewusstseins beschäftigte – also mit der Frage, was es bedeutet, sich seiner selbst als ein Ich bewusst zu sein.
Im Mittelpunkt stand dabei der jüngst verstorbene Dieter Henrich, der vor allem von den Diskussionskonstellationen des Deutschen Idealismus ausging, also den Debatten zwischen Fichte, Schelling, Hegel und Hölderlin. Tugendhat griff nun in diese Diskussion ein, indem er diesen sehr rationalistischen und abstrakten Argumentationsmustern mit praktischen Formen der Selbstbezeichnung, des persönlichen Existierens und des sozialen Miteinanders begegnete. Klarheit statt vorgetäuschten Tiefsinn hieß die Formel. Seine dabei entstandenen Vorlesungen – veröffentlicht unter dem Titel „Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung“ – gehören immer noch zu dem Besten, was es zu diesem Thema gibt.
Ein Ruf von Jürgen Habermas
Herausragend an Tugendhats Beitrag war nicht nur seine Argumentation. Dass er – ganz gegen die in Schuldenken festgefahrene deutsche Philosophie – munter Argumente Heideggers, Wittgensteins und George Herbert Meads mit in die Debatte warf, war geradezu revolutionär. Ganz nebenbei machte er damit fast im Alleingang die sehr auf sich selbst bezogene deutsche Philosophie mit der sprachanalytischen Entwicklung im angelsächsischen Raum bekannt. Sein Band zur „Einführung in die sprachanalytische Philosophie“ ist immer noch einschlägig.
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1975 folgte Tugendhat einem Ruf von Jürgen Habermas an das Starnberger Max-Planck-Institut zur Erforschung der wissenschaftlich-technischen Welt. Seit dieser Zeit befasste er sich vor allem mit Fragen der Ethik, die er – immer bereit, bisherige Positionen aufzugeben – in immer neuen Vorlesungszyklen bearbeitete.
1980 dann kam es zu der legendären Neugründung der West-Berliner Universitäts-Philosophie durch den damaligen Bildungssenator Peter Glotz. In einer heutzutage kaum mehr vorstellbaren konzertierten Aktion gelang es Glotz keine geringeren als Michael Theunissen, Karlfried Gründer und eben Ernst Tugendhat auf einen Schlag an das Institut nach Dahlem zu holen. Es begannen die goldenen Jahre der Berliner Philosophie, forciert vor allem durch das Duo Theunissen-Tugendhat.
Frühformen der Cancel Culture
Doch Ernst Tugendhat war nicht nur ein bedeutender Wissenschaftler und Starprofessor, sondern auch ein wichtiger Intellektueller, der sich immer wieder in politische Debatten einmischte. Dabei ging es ihm letztlich immer um die Autonomie des Individuums. Und dafür war er auch bereit, unbequeme Wege zu gehen. Etwa als er im Januar 1990 eine Erklärung Berliner Philosophen initiierte, die sich mit Nachdruck gegen den Versuch wandte, einen Auftritt des umstrittenen australischen Ethikers Peter Singers an der FU Berlin zu verhindern. Solche Frühformen der Cancel Culture widersprachen Tugendhats Vorstellung aufgeklärter und rationaler Diskussion.
Nach seiner Emeritierung ging Tugendhat zunächst nach Chile und dann zurück nach Freiburg. Noch einmal überarbeitete er seinen philosophischen Ansatz und wandte sich nun anthropologischen Argumenten zu, etwa im Rahmen einer subtilen Religionstheorie.
Ich selbst hörte Ernst Tugendhat das letzte Mal Mitte der 90er Jahre in Berlin. An seine alte Wirkungsstätte zurückgekehrt hielt er eine Vorlesung zum Thema Tod. Nur noch eine kurze Zeit zum Leben zu haben – das erschreckte ihn. Aus dieser Krise heraus fand er mit einer auf Wittgenstein aufbauenden Mystik. Denn das eigentlich mystische sei, so Wittgenstein, nicht wie die Welt ist, sondern dass sie ist.
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Philosophen/Familie.
Danke für Ihre Hinweise Herr Grau.
Das trifft es, jedenfalls für mich:
Das Mystische sei, dass die Welt ist.
Als Mystiker scheuen manche dann eine romantische oder poetische Sprache?
Wenn Christus gesagt hätte, Ich bin bei Euch alle Tage, bis an der Welt Ende, dann hat er sicher nicht die Apokalypse gemeint.
"Es war als hätt´ der Himmel
Die Erde still geküßt,
Daß sie im Blütenschimmer
Von ihm nun träumen müßt´."
Träumen darf man, man kann auch sprechen.
Deshalb mochte meine Mutter Wittgenstein sehr und vielleicht auch Herr Prof. Tugendhat?
Jedenfalls hat er seit Mitte der 90er noch ein bisschen Zeit gehabt.
RIP
Sie schreiben:
"Wenn Christus gesagt hätte, Ich bin bei Euch alle Tage, bis an der Welt Ende, dann hat er sicher nicht die Apokalypse gemeint."
Nun, wir (Christen) begehen jetzt vor Ostern ja gerade die Passionszeit, weil wir davon ausgehen, dass Christus eben kein 'Heile-Welt-Maskottchen' ist, sondern dass er gerade auch in Leid, Tod, Katastrophe & Apokalypse als gegenwärtig erfahrbar ist, weil die selbe Kraft, die das Universum hervorgebracht hat, sich - in Christus - ein- für allemal dafür entschied, sich auf die Bedingungen & Konsequenzen v. Zeit- & Endlichkeit einzulassen. Das ist zwar mglw. ein Mysterium, aber wir halten es dennoch für ein so entscheidendes welt- & menschheitsgeschichtliches Faktum, dass wir seit ca. 2000 Jahren unsere Jahre danach 'vorwärts' zählen...
von Ernst Tugendhat, Herr Grau(!) - und vielen Dank für diese kleine Geistesgeschte anhand der Lebensstationen eines großen Intellektuellen! - sowie für die enthaltenen Lesehinweise! -
Und auch ohne diesen traurigen Anlass eines Nachrufes würde ich mir häufiger (gerne auch längere) philosophiegeschichtliche Artikel von Ihnen wünschen! - Ihre Philosophie- und debattengeschichtl. 'Aufschlüsse' sind - meiner bescheidenen Meinung nach - ausgesprochen erhellend. Und wenn ich das sagen darf: Ich lese sie mit deutlich mehr Erkenntnisgewinn, als einige Ihrer manchmal unnötig polarisierenden, tagespolitischen Polemiken/Traktate aus der "Grauzone", denen zwischenzeitlich mitunter die 'Grauwerte' zw. 'black & white' abhanden kamen: Wie bspw. Ihre damalige, m.A.n. über's Ziel hinausschießende (& anh. des GG widerlegbare) Behauptung, d. 'Gemeinwohl' sei ein 'Phantasma': https://www.cicero.de/kultur/gesellschaft-in-corona-zeiten-individualre…
Bitte mehr Philosophiegesch.!
... auch respektvoll und freundlich sein kann. Das ist leider nicht die Regel.