- Die Fernweh-Bibliothek
Ingvild Goetz ist die Grande Dame unter den Sammlern zeitgenössischer Kunst: Ein Besuch in der Bibliothek einer Pionierin mit dem richtigen Riecher für Außenseiter.
In ihrem parkähnlichen Garten hat sie 22 Nistkästen versteckt. Künstliche Installationen für ihre gefiederten Freunde – bis hin zum Zaunkönig. Im Frühjahr sei es das reinste Vogelparadies, schwärmt sie. Mitten drin ein Minirefugium im japanischen Stil, mit Teich, Steinschildkröte, Rotem Ahorn und Holzbank. Wenn sie dort sitzt, blickt sie auf ein Werk des Allgäuer Künstlers Karl Schlamminger, nicht zuletzt bekannt für sein symbolträchtiges Erdzeichen auf einem Feld am Rande des Münchener Flughafens. Die kufische Schrift auf der dunkelfarbenen Steinstele, die auf der kleinen Anhöhe des Goetz’schen Anwesens im Stadtteil Oberföhring meterhoch in den Himmel ragt, ergibt inhaltlich den Satz: „Du bist das, was in dir ist.“ Ingvild Goetz lebt diesen Satz. Authentisch zu sein, bewahre sie davor, unreflektiert dem Mainstream zu folgen und sich anzupassen. Seit Jahrzehnten ist sie mit ihrem unbestechlichen Gespür für das, was sie gut oder nicht gut findet, am Puls der Kunstwelt und inzwischen eine unangefochtene Größe unter den privaten Sammlern.
Die Tochter eines Unternehmers wächst in Hamburg mit Kunst auf, verschlingt Bücher, schreibt Gedichte, geht in Museen. Als 15‑Jährige beginnt sie, Postkarten mit Ölgemälden alter Meister aufzubewahren. Die riesige Sammlung besitzt sie noch heute. „Ich wollte immer Künstlerin werden. Es gab keinen anderen Beruf, der überhaupt in meinem Sinn war“, sagt die aparte 71‑Jährige. Für ihre Eltern ist die Kunsthochschule am Hamburger Lerchenfeld „ein Sündenbabel“ und das dort begonnene Studium ein Zeitvertreib, „mit dem kein Geld zu verdienen ist“. Sie bricht ab, wechselt zur Politikwissenschaft, weil ihr damaliger Freund das Fach studiert. Als sie später heiratet, startet sie einen erneuten Versuch an einer privaten Kunsthochschule. Sie kommt dann aber zu der schmerzlichen Erkenntnis, dass „ich doch gar nicht so genial bin, mich malerisch ausdrücken zu können“, gesteht Ingvild Goetz. Die schlanke, sportlich-elegant gekleidete Wahl-Münchenerin hat so gar nichts von der in Kunstzirkeln üblichen Eitelkeit und Wichtigtuerei. Sie redet schnörkellos, mit erfrischender Direktheit, wird aber einsilbiger, wenn sie von sich selbst erzählt.
Beispielsweise, dass ihr Leben in bitterer Armut begann. Nach Kriegsende flieht sie mit ihren Eltern und ihrem Bruder aus Westpreußen. Sie werden irgendwo auf einem Hinterhof in Hamburg zwangseinquartiert. In der Schule hänseln sie Mitschüler wegen ihres polnischen Akzents. „Ich war schon immer etwas anders, hatte andere Interessen“, sagt Ingvild Goetz. Später zieht sie nachts heimlich durch Jazzlokale, trägt Stiefel und karierte kurze Hosen, riskiert unter übelsten Beschimpfungen von Leuten auf der Straße ein Spießrutenlaufen. Irgendwann habe sie nur noch weggewollt aus dem „grauen toten Hamburg“. Es treibt sie ins hippige München, wo das Leben tobt, gegen alles Mögliche demonstriert wird – und sie mittendrin: „Ich bin ein Kind dieser Generation.“
Ingvild Goetz startet ihre Kunstkarriere mit der Gründung eines Verlags für grafische Editionen in Konstanz; 1972 eröffnet sie eine Galerie in Zürich und schockiert mit politischen Happenings die konservativen Eidgenossen. Die Arbeitsgenehmigung wird ihr entzogen. Sie führt ihre Galerie bis 1984 in München weiter, mischt die konservative Kunstszene mit ihrer leidenschaftlichen Kompromisslosigkeit auf. Heute besitzt sie die größte private Sammlung zeitgenössischer Kunst in Deutschland und ihr eigenes Ausstellungshaus: ein puristischer Glas- und Holzkubus, 1993 von den Schweizer Architekten Herzog & de Meuron erbaut.
Besucher werden in dem Kunstod hinter mannshohen Mauern von einer einzigartigen Präsenzbibliothek empfangen. Beidseitig eines raumlangen Holztischs reihen sich in schlicht weißen Regalen etwa 2500 Bücher ausschließlich der eigenen gesammelten Künstler, von der Arte Povera über die Young British Artists bis zur heutigen Videokunst: fantastische Monografien von Araki, Fischli/Weiss, Eggleston, Nan Goldin, Jenny Holzer oder Andrea Zittel. Mehr als die Hälfte der Künstler sind Frauen. Als Pionierin mit dem richtigen Riecher für Außenseiter, die die soziale Realität infrage stellen oder Tabus brechen, hat Ingvild Goetz einige der Künstler bereits in den frühen sechziger Jahren in New Yorker Ateliers entdeckt. Was sie kauft, hat meist mit ihr zu tun. In der zwei Häuser weiter ausgelagerten, sogenannten elektisch zusammengestellten Bibliothek finden sich mehr als 2000 Titel von Künstlern und über Künstler, Kataloge, Lexika. Eine Schatzkammer der Kunstgeschichte, jederzeit offen für Studenten und Kuratoren.
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Selbst das nahe gelegene Privathaus der ehemaligen Galeristin ist ein Hort großer und kleiner, immer wieder von ihr neu kuratierter Kunst an den Wänden, auf dem Boden, dem übersichtlichen Schreibtisch im Büro. Davor dunkle Holzregale, in denen sich in wahlloser Ordnung Literatur unterschiedlichster Autoren aneinanderreiht: die Traum-Novelle „Belle de Jour“ von Joseph Kessel, Arthur Goldens „Geisha“, „Naokos Lächeln“ von Haruki Murakami, John Updikes „Terrorist“ sowie Romane indischer Schriftsteller. Lektüre, die ihr von Freunden empfohlen wurde oder auf die sie durch Zeitungskritiken gestoßen ist. Lesestoff für zwischendurch, für die Lücke, die ihr neben der zeitintensiven Beschäftigung mit Kunst und Literatur sowie den vielen Reisen bleibt.
Oft jedoch sind ihr Gegenwartsbücher „zu schnell“. Dann greift Ingvild Goetz zu Klassikern wie Fontanes „Effi Briest“, „wegen der Langatmigkeit und der reichen Sprache“, versinkt in Faulkners dichte, detaillierte Abhandlung von Leben und Tod in „Licht im August“. Regelmäßige Bettlektüre ist Soetsu Yanagis „Die Schönheit der einfachen Dinge“, Pflichtbuch in einer Zeit, in der Werke eher nach ihrem Stil und den Namen bewertet werden, „Künstler sehr viel Nabelschau betreiben“. Auch das Lesen von Lafcadio Hearns akribischer und feinsinniger Beschreibung eines japanischen Gartens findet die bekennende Buddhistin „befriedigend und versöhnend“. Durch Meditieren versucht sie, die rasende Zeit, an der sie berufsbedingt so nah dran ist, immer mal wieder auszubremsen. Auch dadurch, dass sie regelmäßig in ihr Domizil auf den Balearen „ausbüchst, nur in die Natur guckt oder in der Erde buddelt. Dann ist die Kunst in ganz weiter Ferne.“
Die Ferne, das Entdecken der Welt ist ihr zweites zentrales Lebensthema. Davon zeugt eine umfangreiche Sammlung von Reisebüchern, die in einem Seitengang ihrer Wohnung untergebracht ist. Sie liest sich wie das Länderalphabet eines Atlas: Alaska, China, Kambodscha, Panama. Manche Bände sind mehr als 60 Jahre alt, etwa „Wilde und Paradiesvögel“ von Sten Bergman. „Ich hebe sie alle auf, für meine Kinder später“, sagt die weltreisende Mutter zweier erwachsener Töchter. Zum Entsetzen ihrer Eltern tourte Ingvild Goetz bereits als 17-Jährige heimlich mit einer Freundin „wagemutig und ziemlich naiv“ durch Länder der Dritten Welt, beispielsweise durch das von Bergman beschriebene Papua-Neuguinea.
Gedankenverloren blättert sie in „Island of Bali“ von Miguel Covarrubias, eine etwas zerfledderte Ausgabe von 1953. Und erzählt, eine Geschichte in dem Buch über einen Stamm habe ihr und ihrem Mann Stephan, mit dem sie seit Jahren zusammen reist, ein unglaubliches Erlebnis auf der Insel beschert. Sie entdeckten auf einem abgelegenen riesigen Hochplateau, das selbst Einheimische offenbar nicht kannten, etwa 40 Lingams, steinerne Symbole der Hindu-Gottheit Shiva, zum Teil drei Meter hoch. Einige kleinere Exemplare zieren heute das oberste Bücherregal in ihrem Büro.
Warum das Sammeln von Kunst, das Reisen? Beides sei Horizonterweiterung, beides mache toleranter für das Fremde. „Ich habe gelernt, Menschen so anzunehmen, wie sie sind, auch das, was sie tun“, sagt Ingvild Goetz. Es gibt so viele Facetten, wie ein Mensch funktioniert und warum er so funktioniert. Gerade Künstlerpersönlichkeiten zu verstehen und so akzeptieren zu können, sei ganz wichtig für sie. „Bevor ich werte, urteile, etwas ablehne, schaue ich es mir erst einmal aus verschiedenen Perspektiven an. Selbst wenn ich zu einem negativen Ergebnis komme, kann ich es begründen.“ Und sie hat gelernt loszulassen, auch wenn Sammeln nach Freud’schen Kategorien „stets Ausdruck eines triebhaften Wiederholungszwangs“ sei. Ingvild Goetz erwirbt Kunst nicht um jeden Preis, findet es jedoch schön, sagen zu können, das ist meins. Das habe durchaus etwas Zwanghaftes. Sie sieht es jedoch gelassen und hat größtes Verständnis dafür, „dass wir alle irgendwo unseren Spleen haben“.
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