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Wahl in Osteuropa - Die Ignoranz der Neulinge

Die niedrige Wahlbeteiligung in Osteuropa ist erschreckend. Trifft diese Passivität der Bürger auf geschickte Populisten, sind die jungen Demokratien in Gefahr

Autoreninfo

Tomas Sacher ist ein tschechischer Journalist. Er leitete das Wirtschaftsressort des Magazins „Respekt“ und moderiert Debatten zur Politik und Wirtschaft. Er lebt in Berlin und Prag

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Der slowakische EU-Kommissar Maros Sefcovic schien glücklich. „Fertig! Nun genießen wir endlich die Ruhe, nach den Wochen des Wahlkampfes“, schrieb er direkt aus einem Wahllokal auf Twitter, inklusive eines „Selfies“ mit seiner lachenden Familie. Herr Sefcovic kann sich nun wirklich ausruhen, seine Partei gewann die Abstimmung und er darf in seiner Rolle als EU-Kommissar weitermachen. Und die Slowaken? Sie werden sich wahrscheinlich nicht dafür interessieren, dass jemand namens Sefcovic überhaupt existiert.

Die größte slowakische Tageszeitung titelte kurz und bündig: „Wir haben nicht gewählt“. Die dreizehnprozentige Wahlbeteiligung markiert einen Negativerfolg. Solch ein geringes Interesse hat Europa noch nie gesehen, seit das EU-Parlament in seiner heutigen Form tagt. Die Wahlbeteiligung von 63 Prozent im Jahr 1979 ist 2014 auf 43 Prozent gesunken. In den meisten Ländern war die Beteiligung ähnlich hoch wie bei nationalen Volksabstimmungen.

Nicht so im ehemals kommunististischen Osten, dessen Staaten dem Bund vor gerade einmal zehn Jahren beigetreten sind. Das Interesse für die EU scheint weg und man muss sich die Frage nach den Folgen stellen. Warum zum Beispiel sollen sich die westlichen Länder überhaupt weiter um die Nichtinteressierten kümmern?

Zum Beispiel die Slowakei


Die Slowakei kann eigentlich als unproblematisches Land betrachtet werden - ein Land mit geringen Schulden. Ein Land, welches der Eurozone vor drei Jahren beigetreten ist, das ausländische Investoren wie VW anlockt und dessen Bevölkerung in Umfragen mehr Optimismus als Skepsis gegenüber der EU zeigt. Keine eindeutig antieuropäische oder extremistische Partei spielt eine größere Rolle, auch in der aktuellen Abstimmung nicht. Trotzdem, die beiden ehemaligen Staaten der Tschechoslowakei erreichten bei den jüngsten EU-Wahlen eine Beteiligung von unter 20 Prozent (in Tschechien waren es 18).

Die Botschaft der Unwissenheit aus dem europäischen „Osten“ geht sogar noch weiter. Nur 22 Prozent der Polen beteiligten sich an der Abstimmung, obwohl sich das Land unter der Leitung von rhetorischen Stars wie Donald Tusk oder Radoslaw Sikorski als neue proeuropäische Kraft zu zeigen versucht. Man kann jetzt sagen, dass sei alles nur eine Illusion gewesen. Doch das scheint lediglich ein Wunsch der intellektuellen Elite in dem Vierzig-Millionen-Land zu sein.

Russische Bedrohung


Ein bisschen mehr als 30 Prozent haben neben Malta nur die Bulgaren hingekriegt. Das Virus von Müdigkeit und Stillstand ergreift auch den nördlichen Teil des ehemaligen Ostblocks. Lettland erreichte vor fünf Jahren, nach dem Beginn der Wirtschaftskrise, eine Wahlbeteiligung von 54 Prozent, jetzt fiel sie auf 30. Estland hat von damals 36 Prozent ein Drittel verloren.

Die Ergebnisse sind mit Blick auf Russland doppelt überraschend, das doch den „Schutz“ russischer Minderheiten im Ausland angekündigt hat. Wie selbst die lokalen Medien oft erinnern, wären die baltischen Staaten nach der Ukraine die nächsten in der Reihe. Etwa Litauen, mit seiner großen russischen Minderheit: Hier stieg die Wahlbeteiligung von 20 Prozent im Jahr 2009 auf 45 Prozent.

Die Gründe für die katastrophale Disziplin der osteuropäischen Wähler sind vielfältig. Soziologen und Politologen erinnern immer noch an die Belastung von vierzig Jahren Kommunismus, als die Abstimmungen nur ein Theater für allmächtige Politiker waren. Die demokratische Tradition in Osteuropa leidet noch immer unter diesem Mistrauen. Im Falle der Entsendung von Politikern in ein internationales Parlament wirkt eine Wahl zudem entfernt und kompliziert.

Aus der Zeit des braven Soldaten Schwejk sind Tschechen und Slowaken gewöhnt, über die Meister im Ausland zu scherzen. Eine logische Erwägung wäre es, dass der ehemalige tschechische Präsident Vaclav Klaus, einer der lautesten antieuropäischen Populisten, es geschafft hat, die EU als einen Feind darzustellen. Aber eine solche Rhetorik funktioniert eigentlich schon seit vielen Jahren nicht mehr. Klaus' ehemalige Partei ODS hat mit dem Slogan „Wir möchten keinen Euro“ auf das Wahlergebnis von 2009 unglaubliche 85 Prozent der Stimmen verloren.

Pro-Europäer mobilisieren ihre Wähler nicht


Das Ergebnis zeigt aber auch, dass proeuropäische Parteien es einfach nicht geschafft haben zu mobilisieren. Neben Erklärungen wie der „Passivität" oder einer „schwachen Kampagne" ist unter den Wählern eine echte Verwirrung, wofür die Wahl überhaupt steht, offensichtlich.

Laut Focus-Agentur glauben 48 Prozent der Tschechen, die Abstimmung hätte keinen Effekt auf ihr Leben. Ein gleich hoher Anteil nimmt an, ihr Leben würde ohne die EU genau gleich aussehen. Bei der Wahl „hat das Gefühl gewonnen, dass alles egal ist,“ kommentiert eine der größten Tageszeitungen Tschechiens, Hospodářské noviny.

In Tschechien sehen wir, dass die Unfähigkeit, die Wähler zu mobilisieren, mehrere Gründe hat. Die Tschechen sind diese Kampagnen satt. Seit 2002 hat das Land keine Regierung erlebt, der es gelang, eine ganze Wahlperiode zu überstehen. In den letzten zwölf Jahren gab es acht Ministerpräsidenten, der letzte stolperte über eine Geliebte, die den Geheimdienst auf seine Ex-Frau ansetzte. Die heutige Regierung ist abhängig von den Launen des Milliardärs und Finanzministers Andrej Babis, der mit dem Slogan „Wir sind nicht wie die Politiker. Wir arbeiten“, beinahe die letzte Wahl gewonnen hätte.

Was bedeutet es eigentlich für Tschechen, Polen oder Ungarn, „hart“ zu arbeiten? Mehr Macht für das Land zu gewinnen und die Europäische Kommision zu bekämpfen, wie Viktor Orban in Ungarn? Höhere Agrarsubventionen für die riesigen polnischen und tschechischen Farmen zu gewinnen? Oder geht es den Politikern auch um die Rettung des europäischen Finanzsystems?

Die Osteuropäer sind sich darüber wahrscheinlich selbst nicht im Klaren. Eine Studie der tschechischen Agentur Median sagt, dass fast achtzig Prozent der Tschechen und Slowaken die Transparenz in der EU und im Europäischen Parlament mit „schlecht” oder „ganz schlecht” bewerten. Nur jeder dritte Tscheche ist in der Lage, zumindest einen tschechischen Europaabgeordneten zu nennen. In den anderen Ländern sieht es nur leicht besser aus oder die Frage wird lieber überhaupt nicht gestellt.

Populistische Gefahr

 

Gleichzeitig sagt aber die Meinungsforschungsagentur Focus, dass mehr als die Hälfte der Bevölkerung die Arbeit der Delegierten kritisch sieht. Aus welchem Grund? Einfach so. Eine mögliche Erklärung ist, dass fast keine europäischen Abgeordneten in den tschechischen, ungarischen oder slowakischen Medien präsent sind. Fast keine kommerziellen Medienanstalten aus Osteuropa haben einen Korrespondenten in Brüsssel, nur die nationalen Nachrichtenagenturen und die öffentlichen Radio- und Fernsehsender sind dort präsent.

Die Schlussfolgerung der New York Times ist sowohl für den östlichen Teil der EU als auch für den Rest gültig: „Politik in Europa ist weiterhin sehr lokal. Das macht es schwer, kontinentale Trends zu identifizieren, obwohl Brüsseler Politiker immer wieder an ihre Wähler appellieren, mehr als Europäer zu denken und ihren Horizont über die Landesgrenzen hinaus zu erweitern.”

Aus wirtschaftlicher Sicht schließt sich die Lücke zwischen den alten Mitgliedstaaten und Mitteleuropa langsam. Allein in den letzten zehn Jahren haben sich die Unterschiede um ein Drittel vermindert. Die Billionen aus den Strukturfonds haben deutlich geholfen. Wie lange werden aber Länder wie Deutschland oder Schweden bereit sein, für den europäischen Haushalt zu zahlen, wenn es niemand anerkennt?

Reisefreiheit, Redefreiheit, besserer Lebensstandard – diese Errungenschaften anzusprechen, bringt in Osteuropa nichts. „Es ist ein Luxus der freien Welt, Wahlen langweilig zu finden! Lebt man in Frieden, bedeutet das nichts. Ihn zu bekommen, zählt“ kommentierte der ehemalige russische Schachweltmeister und Putin-Kritiker Garri Kasparow die Ergebnisse, die am gleichen Tag wie die Präsidentenwahl in der Ukraine bekannt gegeben wurde.

Das einzige, was die osteuropäische Wahlbeteiligung entschuldbar macht, ist, dass die populistischen und anti-europäischen Parteien vom Desinteresse genauso wie die demokratischen getroffen wurden. In mehreren Ländern sogar noch stärker: Die östlichen Populisten sind außer in Ungarn ganz marginalisiert.

Das kann sich aber schnell ändern. Denn dass die beiden Krankheiten, die Passivität und der Populismus, sich treffen, ist gar nicht so schwer vorstellbar. Und die EU-Feinde wie Vaclav Klaus stehen bereit, die semi-demokratischen nationalen Systeme, die die Länder dank der gemeinsamen EU-Regeln überwunden haben, wieder aufzubauen. Moskau, der Gegenpol zu Brüssel, ist bereit, dabei zu helfen.

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